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auch Akademiker, Schriftsteller und Journalisten.
     August Weber wurde am 4. Februar 1871 in Oldenburg geboren. Er überlebte nicht nur die Weimarer Republik, sondern auch das Dritte Reich. Seine Vorfahren waren freie Bauern und Handwerker. Und diese Herkunft bestimmte sein Selbstbewußtsein und seine Ablehnung militaristischer und nationalistischer Tendenzen. Er erzählte oft von Besuchen bei seiner Großmutter, die nach dem Tod ihres Mannes einen Bauernhof bewirtschaftete. Der volkstümliche Großherzog ritt manchmal am Hof vorbei und die Großmutter lud ihn zu einem Glas Milch ein.
     Mein Vater absolvierte ein juristisches Studium in Berlin, Marburg und Jena, vermied schlagende Verbindungen und lehnte es ab, nach seinem Militärdienst (Hindenburg war sein Regimentskommandeur) Reserveoffizier zu werden. Bei der Dresdner Bank erlernte er das Bankfach, leitete dann eine Bank in der sächsischen Lausitz und wurde 1907 als liberaler Abgeordneter für Löbau in Sachsen in den Reichstag gewählt, wo er als Autor der Börsengesetznovelle und als Hauptreferent für die damalige Reichsfinanzreform in Erscheinung trat.
In der selben Wahl kam auch Gustav Stresemann als Nationalliberaler zum ersten Mal in den Reichstag. Sie kannten sich gut.
August Weber zog 1913 als Bankdirektor nach Berlin. Dort heiratete er nur zwei Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Jan Webber
Ein Bild von Liebermann und Familiengeschichte

1927, im Alter von 80 Jahren, malte Max Liebermann ein Porträt meines Vaters, August Weber. Ich war damals zehn Jahre alt und habe es gut in Erinnerung. Es hing in den folgenden Jahren in meines Vaters Arbeitszimmer auf der Domäne Löpten südlich von Königs-Wusterhausen, wo wir bis 1933 lebten.
     Das Porträt wurde in sechs Sitzungen in Liebermanns Atelier fertiggestellt. Mein Vater erzählte manchmal von seinen Gesprächen mit dem Künstler. So sprach er ihm gegenüber die Meinung aus, daß das Porträt des deutschen Reichskanzlers, Fürst von Bülow, nicht geglückt wäre. Worauf Liebermann erwiderte: »Ich konnte den Mann nicht leiden.«
     Mein Vater bekleidete damals führende Stellungen im Bankwesen und in der Industrie wie auch im politischen Leben der Weimarer Republik. Er sollte drei mal Reichswirtschaftsminister werden, was er aber aus finanziellen Gründen ablehnte. Zu seinem breiten Freundeskreis gehörten

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meine Mutter, eine geborene Meyer-Cohn. Mein Urgroßvater Meyer-Cohn war in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus einfachen Verhältnissen in Posen nach Berlin gekommen und hatte hier mit Unterstützung märkischer Adliger eine Privatbank gegründet. Unter seinen Klienten befand sich auch die Kaiserin Friedrich. Er erwarb den bei Bankiers, Fabrikanten und Kaufleuten sehr begehrten Titel eines »Geheimen Kommerzienrats« und hinterließ ein beträchtliches Vermögen. Seine zwei Söhne Heinrich und Alexander übernahmen die Leitung der Bank aus Pflichtgefühl, obwohl sie beide wenig Geschmack am Bankfach hatten, und führten sie bis zu ihrem Tod 1905 bzw. 1904.
     Mein Großvater Heinrich hatte Jura studiert und trug den Titel »Justizrat«, obwohl er nie einen juristischen Beruf ausübte. Er unterstützte jüdische Organisationen, ohne sich für den Zionismus von Herzl zu begeistern, spielte gut Schach und interessierte sich für mathematische Probleme. Sein Bruder Alexander hatte Germanistik studiert und besaß die wohl größte Manuskriptensammlung in privater Hand in Deutschland. Sie wurde nach seinem Tod in Berlin versteigert. Alexander war Mitbegründer des Volkskundemuseums, als Mitglied eines Komitees unter dem Vorsitz von Virchow, und einer seiner größten Gönner.
     Der Sitz der Meyer-Cohnschen Bank befand sich viele Jahre Unter den Linden 11,
wo auch meine Großeltern wohnten. Die Bank wurde 1906 von der Diskonto-Gesellschaft erworben, die später in die Deutsche Bank eingegliedert wurde.
     Meine Mutter, 1887 geboren, gehörte zu den ersten an deutschen Universitäten zugelassenen weiblichen Studenten. Sie studierte Geschichte in Berlin und Heidelberg, wo sie ihren Doktor machte. Ihr Professor war Hermann Oncken, später in München, zuletzt in Berlin als Nachfolger Friedrich Meineckes Professor der neueren Geschichte. Er war mit einer Schwester meines Vaters verheiratet. Oncken wurde von den Nationalsozialisten 1936 wegen »knochenerweichender Objektivität« in den Ruhestand befördert.
     Die Heirat meines Vaters mit einer Frau aus jüdischer Familie war zur damaligen Zeit etwas Ungewöhnliches. Sie stieß auch auf Widerstand seitens meiner sonst recht aufgeklärten Großmutter mütterlicherseits, einer vielsprachigen jüdischen Holländerin, die sich zur Elite der jüdischen Berliner Gesellschaft zählte. Sie empfand meinen Vater als zu kleinbürgerlich und lehnte ihn wohl auch aus konfessionellen Gründen zunächst ab, obwohl sie keineswegs religiös war. Dagegen bestand wohl kein Verdacht, daß mein Vater es auf das Meyer-Cohnsche Vermögen abgesehen hatte. Er hatte bereits ein bedeutendes Einkommen und war finanziell unabhängig. Die Ehe meiner Eltern war eine überaus glückliche, die über 40 Jahre
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So sah Max Liebermann
August Weber

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bis zum Tod meines Vaters dauerte.
     Bald nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde mein Vater ehrenamtlich in der Kriegswirtschaft tätig, teils bei der Rohstoffbeschaffung der Textilindustrie, teils bei der Reorganisation und Aufsicht über die Fleischversorgung der preußischen und sächsischen Heere. Man bot ihm den Titel eines Geheimen Oberregierungsrates an, den er aber ablehnte. Ich fragte ihn nach dem Grund. »Du weißt«, sagte er, »daß ich nichts von Titeln halte und daß mir mein selbstverdientes Doktorat genügt. Außerdem habe ich gelegentlich öffentliche Reden zu halten, besonders beim Wahlkampf. Da hat man mit Zwischenrufen zu rechnen, z. B. >du lügst, du Schwein, du Geheimer Regierungsrat<.
So etwas ist für politische Gegner ein gefundenes Fressen.«
     Ich wurde 1917 in der Berliner Sigismundstraße 10 geboren. Die Straße gibt es noch; das Haus ist nicht mehr da. Von dort zogen meine Eltern nach Kriegsende in eine Wohnung im dritten Stock der Königin-Augusta- Straße 44, später Tirpitzufer, jetzt Reichpietschufer. Meine Schwestern und ich wurden zunächst im Kinderwagen in den Tiergarten gefahren, dann mußten wir dort Spaziergänge machen und schlittschuhlaufen. Manchmal wurden wir in den Zoo geführt, oft besuchten wir unsere Großmutter in der Matthäikirchstraße. Bei Wertheim in der Leipziger Straße wurden wir eingekleidet. Was mich damals unter anderem
beeindruckte, waren die Polizisten auf Podien an Straßenkreuzungen, die dort den Verkehr regelten. Zur Weihnachtszeit waren sie stets von einem Wald von Flaschen umgeben, Geschenken der Autofahrer.
     Uns gegenüber wohnte Herr von Kardorff, der Vizepräsident des Reichstags, der es ablehnte, mit unserer Köchin den Aufzug zu benutzen. Das ärgerte meinen Vater. Als Banklehrling hatte er einmal beobachtet, wie sein Chef ein Mädchen auf der Straße grüßte, indem er seinen Hut zog. Auf meines Vaters Frage, wer das denn sei, erwiderte er, das wäre sein Hausmädchen. Das hat meinen Vater, wie er sagte, sehr beeindruckt, und er hat seine Angestellten lebenslang rücksichtsvoll und mit menschlichem Verständnis behandelt.
     1920 pachtete mein Vater die Domäne Löpten bei Groß Köris, südlich von Berlin. Wir sollten auf dem Land aufwachsen, aber wahrscheinlich reizte ihn auch die Landwirtschaft. Gleichzeitig erwarb er die angrenzende Ziegelei. Das Gutshaus war 1907 neben einem bescheidenem Haus als Jagdschloß für den Kaiser erbaut worden, der es aber nur einmal besucht haben soll. Von den Dorfbewohnern als Schloß bezeichnet, war es nichts anderes als ein geräumiges Haus mit etwa 16 Zimmern auf drei Etagen. Dazu gehörte ein kleines Dorf mit einem Gasthaus, einem bescheidenen Laden und einer einklassigen Dorfschule, bewohnt von Arbeiterfamilien, für die das Gut und
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August Weber (stehend), Minister Peter Reinhold und Reichstagspräsident Paul Löbe (rechts) 1932 im Reichstag


die Ziegelei fast die einzigen Erwerbsmöglichkeiten boten. Gut und Dorf befanden sich in einem völlig verwahrlosten Zustand. Die Arbeiterwohnungen waren mittelalterlich: Lehmboden, ohne Ofen, von Toiletten ganz zu schweigen. Mein Vater ließ sie umbauen und kaufte ein Stück Wald, wo er mit Hilfe einer Siedlungsgesellschaft 16 moderne Arbeiterhäuser bauen ließ. Daran erinnert noch heute ein Weberweg. Mein Vater konnte die Regierung bewegen, eine Abzweigung von der Hauptstraße nach Löpten zu bauen, und er veranlaßte die Anlage elektrischer Leitungen. Das Gut kam nach und nach in die Höhe, aber es hat sich nie ren-

tiert wegen des sandigen Bodens der Mark Brandenburg, der die Landwirtschaft nicht begünstigt. Zuschüsse aus eigener Tasche waren notwendig.
     Gesellschaftlichen Verkehr mit Nachbarn hatten wir wenig. Vom preußischen Adel aus der Umgebung sahen wir nichts, abgesehen von dem Oberförster in Hammer, der den recht passenden Namen von Staubesand trug und manchmal zu Gesellschaften eingeladen wurde. Regelmäßig hatten wir Besuch von Verwandten und Freunden aus Berlin. Ein häufiger Gast war der unverheiratete August Müller, einer der ersten sozialdemokratischen Staatssekretäre, den mein Vater
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im Wirtschaftsministerium kennengelernt hatte.
     Nach Kriegsende beteiligte sich mein Vater an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei, aber er kandidierte nicht wieder für den Reichstag, da er geschäftlich zu sehr in Anspruch genommen war. Weiterhin im Wirtschaftsministerium tätig, nahm er öfter an Sitzungen der Nationalversammlung in Weimar teil. Dazu kamen viele neue geschäftliche Aufgaben: Er übernahm die Leitung des Reichsverbandes der deutschen Juteindustrie, wurde in den Vorstand der Berliner Handelskammer gewählt. Schon vorher war er Mitglied des Aufsichtsrats der Commerzbank, später Stellvertretender Vorsitzender. Eine aktive Rolle spielte er auch im Vorstand des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, wo er Robert Bosch und dem Leiter von Zeiss-Jena, Fischer, nahestand. Im Gegensatz zu den Vertretern der Schwerindustrie, deren Einstellung er als asozial tadelte.
     Das Anwachsen der Nationalsozialistischen Partei erfüllte ihn mit Besorgnis und bewog ihn, sich wieder aktiv politisch zu betätigen. Er kandidierte in der Reichstagswahl von 1928, wurde aber erst 1930 wiedergewählt, als die Demokratische in die Staatspartei überging. Er versuchte schon seit 1927 einen Zusammenschluß mit der Deutschen Volkspartei zu erreichen, aber nach dem Tod Stresemanns 1929 verliefen die Verhandlungen im Sande. Als Fraktionsvorsitzender
der Staatspartei griff mein Vater die Nationalsozialisten im Reichstag und in öffentlichen Reden an. In einer Reichstagsrede im Februar 1932, die großes Aufsehen erregte, klagte er sie an, auf dem Weg des politischen Mordes vorgegangen zu sein. In einer zweiten Rede zwei Wochen später begründete er seine Anklage mit Zitaten aus den nationalsozialistischen Sturmliedern und aus Reden und Schriften führender Parteimitglieder. Außerdem hatte er öfter persönliche Auseinandersetzungen in Reichstagssitzungen mit führenden Nazis wie Goebbels, Frick und Gregor Strasser. Das wurde ihm nicht vergessen.
     Bald nach Hitlers Machtübernahme wurde mein Vater auf Veranlassung des Statthalters und Gauleiters von Sachsen, Mutschmann, in Berlin verhaftet und ins Gefängnis in Zittau gebracht. Eine Schlagzeile in der »Nachtausgabe«, die ich in die Hände bekam, verkündete: »Unterschlagung von 5 Millionen Mark. August Weber verhaftet«. Das war reine Erfindung. Nach langen Verhandlungen wurde die Sache fallengelassen. Trotzdem blieb mein Vater noch eine Weile in »Schutzhaft«, eine viel angewandte Erfindung der Nazis. Auf Anordnung der Partei und der Gestapo wurde er von den meisten Aufsichtsräten, in denen er einen Sitz hatte, abgewählt. Ebenso mußte er die Leitung des Juteverbandes aufgeben, wie auch die Mitgliedschaft in anderen industriellen Verbänden. Ebenso die Domäne Löpten. Allerdings
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   107   Geschichte und Geschichten Weber und Liebermann  Vorige SeiteNächste Seite
war er in der Lage, bis 1938 als Wirtschaftsprüfer seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
     Was geschah nun mit dem Liebermann-Bild? Ich glaube, es war nach Vaters Freilassung von der ersten Internierung, als meine Eltern sich überlegten, wie man das Bild in Sicherheit bringen könnte. Das geschah dann auch mit Hilfe von Grete Ring, einer Jugendfreundin meiner Mutter, Nichte von Liebermann, Kunsthistorikerin und Mitinhaberin der Berliner Kunsthändlerfirma Paul Cassirer. Die Firma eröffnete zu dieser Zeit eine Zweigniederlassung in Amsterdam. Das Porträt wurde wohl dorthin gebracht, als meine Eltern von Löpten nach Berlin zogen, wo sie eine Wohnung in der Mommsenstraße in Charlottenburg mieteten. Das Porträt wurde dann zur Verwahrung dem Rijksmuseum übergeben. Wie sich später herausstellte, war seine Sicherheit dadurch absolut nicht garantiert.
     Mein Vater wurde weiterhin von den Nationalsozialisten verfolgt und in den folgenden Jahren noch sechsmal verhaftet und eingesperrt. Er machte die Bekanntschaft von Gefängnissen am Alexanderplatz, in Charlottenburg, im Prinz Albrecht Palais und in Alt Moabit, wo er unter anderen dem Kommunistenführer Thälmann begegnete, der weder lesen noch schreiben durfte, meistens in Einzelhaft blieb und später im KZ Buchenwald ermordet wurde. Mein Vater berichtete, daß man oft stundenlang von der Gestapo verhört wurde, kein Essen
bekam, nicht aufstehen durfte. Nach dem Verhör wurde einem ein oft gefälschtes Protokoll der Aussagen zur Unterzeichnung vorgelegt. Mein Vater bestand trotz Drohungen darauf, daß falsche Wiedergaben der Aussage richtiggestellt wurden.
     Zwischen diesen Verhaftungen wurde er von Gerichtsbehörden in Berlin immer wieder in Finanz- und Börsenfragen zugezogen, manchmal sogar von Staatsanwälten und Beamten, die ihn vernommen hatten. Obwohl er überwacht und seine Telefongespräche lange Zeit abgehört wurden, kam er öfter mit Parteifreunden und Kollegen vergangener Zeit zusammen. Bei einem dieser Treffen in unserer Charlottenburger Wohnung war ich zugegen. Unter den Gästen befanden sich Theodor Heuss, Wilhelm Külz (ehemaliger Reichsminister und Oberbürgermeister von Dresden), Hermann Luppe (ehemaliger Oberbürgermeister von Nürnberg), Hermann Höpker Ashoff (preußischer Finanzminister – später Bundesverfassungsgerichtspräsident)
und der schon erwähnte August Müller. Als hilflose Zuschauer besprachen sie die Entwicklungen im Dritten Reich und in der Außenpolitik.
     Im Oktober 1938 zum letzten Mal verhaftet und in das Gefängnis am Alexanderplatz eingeliefert, wurde mein Vater von Himmler persönlich vorgeladen, der seine Reichstagsreden von 1932 als eine freche Gemeinheit bezeichnete und wiederholt betonte, daß er ihn in seiner Gewalt hätte. Er drohte ihm
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mit dem KZ Oranienburg und stellte ihm die »Liquidation« in Aussicht, eine elegante Umschreibung der Ermordung. Himmler wollte ihn zu einer belastenden Aussage über Mutschmann zwingen, der meinen Vater 1933 verhaften ließ, um ihn aus nicht bekannten Gründen zu Fall zu bringen.
Mein Vater lehnte das ab, wurde aber trotzdem nach einigen Wochen und weiteren Verhören durch die Gestapo entlassen. Zur selben Zeit wurde ein Berufsverbot über ihn verhängt, was ihm unmöglich machte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nachdem er die Ausreise meiner Mutter durchgesetzt hatte, gelang es ihm im Februar 1939, nach London zu entkommen. Mit 27 Mark in der Tasche und unter Zurücklassung seiner Wohnungseinrichtung, einer umfangreichen Bibliothek und diverser Kunstobjekte.
     In England betätigte er sich publizistisch, was natürlich bei den deutschen Behörden bekannt wurde. Es führte dazu, daß er im März 1941 mit seiner ganzen Familie ausgebürgert wurde. Nach Kriegsende nahm er den Kontakt mit Verwandten und Freunden in Deutschland wieder auf, nahm an der Gründung der FDP teil und hielt sich in den Sommermonaten meistens in der Bundesrepublik auf, wo er unter anderen seinen Freund Theodor Heuss mehrmals traf. Heuss besuchte nach dem Krieg London zweimal. Das erste Mal übernachtete er in der bescheidenen Wohnung meiner Eltern auf einer Luftmatratze. Sein zweiter Besuch
als Bundespräsident führte ihn als Gast der Königin in den Buckingham Palace, wo er wohl etwas bequemer untergebracht war.
     Er berichtete später in seiner humorvollen Art, daß auf seiner Ausfahrt mit der Königin 95 Prozent des Beifalls der Königin galt, und die restlichen fünf Prozent den Pferden.
     Nach Kriegsende bemühte sich mein Vater, sein Porträt von Liebermann ausfindig zu machen. Man teilte ihm aus Holland mit, daß das Bild nicht zu finden sei. Nach dieser Auskunft wurde es 1942 von der deutschen Dienststelle Dr. Mühlmann in Den Haag übernommen und nach Kriegsende als deutsches Eigentum beschlagnahmt. Vielleicht wäre es dann verauktioniert worden.
     Mein Vater starb im November 1957, und es schien unwahrscheinlich, daß das Bild jemals wieder zum Vorschein kommen würde. Aber das hat sich jetzt tatsächlich ereignet, nachdem die Identität des Porträtierten festgestellt werden konnte. Es war bis vor kurzem im Van Gogh Museum und wurde von dort ins Mesdag Museum in Den Haag gebracht, wo es sich jetzt befindet. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß das 70 Jahre alte Gemälde 150 Jahre nach Liebermanns Geburt und 40 Jahre nach dem Tod meines Vaters wieder auftaucht. Meine Schwestern und ich hoffen, daß es in absehbarer Zeit wieder in den Besitz unserer Familie zurückkehren wird.

Jan Webber, der seinen Namen durch ein zweites b anglisiert hat, lebt in London.

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