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stellen, andererseits sollten vor allem Arbeiter
und Bauern an die Kunst herangeführt und selbst
künstlerisch aktiv werden. Das blieb nicht
konfliktlos, führte zu Zuspitzungen zwischen »Wahrheit
und Auftrag«. Selbst der Begriff Bitterfelder Weg
verschwand mit dem VIII. Parteitag der SED (fälschlich auf 1972 datiert). Die Autoren konstatieren ein Scheitern des Bitterfelder Wegs in dem Sinne seines ursprünglichen kulturpolitischen
Konzepts, »da er Literatur und Kunst letztlich allein
auf parteipolitische Aspekte reduzierte, nicht
erfüllbare Aufgaben stellte und die Fähigkeiten und
Möglichkeiten der arbeitenden Menschen,
kulturschöpferisch tätig zu werden, überschätzte«. (S. 23)
Andererseits: »Viele die den Bitterfelder Weg
gingen, empfanden und empfinden ihn trotz
ideologischer Vorgaben nicht als Irrweg.« (S. 23)
Die Autoren belegen dies auch mit einer 1992 von der Heidelberger »Aktion für mehr Demokratie« initiierten sogenannten Dritten Bitterfelder Konferenz, die über die Rolle der Kunst im vereinigten Deutschland debattierte. Auf ihr setzten sich die Teilnehmer (u. a. Erich Loest, Werner Heiduczek, Friedrich Schorlemmer) auch kritisch mit dem Bitterfelder Weg auseinander. Während Loest in ihm einen »Feldweg, Holzweg, Irrweg« sah, trat Paul Werner dafür ein, ihn »nicht pauschal zu verurteilen«, da er »für eine ganze Reihe von Leuten hier in diesem Lande eine Möglichkeit war, ihr Leben zu bereichern, vor allem sich aktiv künstlerisch zu betätigen«. Friedrich Schorlemmer meinte, daß er »das Elitäre der Kunst dadurch überwinden (wollte), daß der Arbeiter selbst zum Künstler werden sollte. Dies wurde von oben verordnet, entsprang nicht aus den Lebensprozessen selbst, mußte scheitern« (Zitate nach S. 24/26). In Wartenberg jedoch wurde der Bitterfelder Weg Ende der 50er Jahre »mit Enthusiasmus beschritten«, bis er 1965 »versandete«. (S. 26) Das zweite Kapitel zeichnet das kurze Leben der Wartenberger Laienspielgruppe nach. Sie entstand, | |||||||
Thomas Friedrich/ Monika Hansch/ Angelika Reichmuth
Wartenberg im Rampenlicht. Bitterfelder Wege übers Land. Materialien einer Ausstellung Verein »Biographische Forschungen und Sozialgeschichte e. V.« in Zusammenarbeit mit dem Heimatmuseum Berlin- Hohenschönhausen (Hrsg.) Berlin 1997 Die Vorgeschichte von Ausstellungen (und ihren
Katalogen) nimmt manchmal eigenartige Wege. In diesem Fall, so im Vorwort Bärbel Ruben, begann
sie damit, daß das Probentagebuch der Laienspielgruppe LPG »1. Mai« Berlin- Wartenberg 1985
dem Museum für Deutsche Geschichte übergeben
werden sollte. Dem Museum schien aber das Material für »Forschung und Darstellung wenig geeignet«, so daß es über Umwege schließlich in das
jetzige Heimatmuseum Hohenschönhausen gelangte. (S.
9) Liesel Jacoby die Leiterin der Gruppe und Armin Stolper der Profi aus dem Maxim Gorki Theater gehören zu den immer wieder
genannten Bezugspersonen.
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Ronald Paris,
Heimkehr vom Feld, 1960 | |||||||
Jahren Proben wurde Sakowskis Schwank »Weiberzwist und Liebeslist« aufgeführt, die Gruppe erhielt den Titel »Bauerntheater«. Ihr nächstes Stück, »Das Geständnis«, eine von Armin Stolper für die Bühne bearbeitete Erzählung von Galina Nikolajewa, wird gemeinsam mit Darstellern des Arbeitertheaters vom VEB Sternradio insgesamt 30mal aufgeführt, auch zu den Berliner Festtagen 1963. Die Gruppe wurde dafür mit dem Staatspreis Erster Klasse für künstlerisches Volksschaffen geehrt. Das war Höhepunkt und Ende des Bauerntheaters: Das Vermögen und die Kraft, so die Autoren, die selbstgesetzten Maßstäbe zu halten oder gar zu übertreffen, führen zu einem Scheideweg, selbst der Versuch, ein kleines Theaterstück zu inszenieren, scheiterte.
Ein vierter Abschnitt »Kunst im Treibhaus die LPG Wartenberg und die Bildende Kunst« stellt zwei Maler in den Mittelpunkt: Horst Zickelbein und Ronald Paris. Sie hatten in einem »Praktikum« in Wartenberg Landschaft, Arbeit und Menschen skizziert, auf Grundlage ihrer Studien fertigten sie in ihren Ateliers Bilder, die sie in der LPG in einer Ausstellung 1960 zeigten. Die Ausstellung stieß | |||||||
den Intentionen des Bitterfelder Wegs folgend, auf Initiative von Liesel Jacoby, die »Neuberin von Wartenberg«. Das erste selbstverfaßte und mit Hilfe von Berufskünstlern im Oktober 1960 aufgeführte Theaterstück »Chronik von Wartenberg« blieb allerdings dem Agit-Prop- Stil der 20er Jahre behaftet. Es sollte die Gründung der LPG legitimieren, griff dazu auf tatsächliche historische Ereignisse in Wartenberg zurück. Im dritten Abschnitt zeigen die Autoren die Geschichte des einzigen Berliner Bauerntheaters, des »Wartenberger Bauerntheaters«, das aus dem Laientheater hervorging. Fünf Jahre arbeiteten Laienspieler und Berufskünstler des Maxim Gorki Theaters, darunter die Regisseure und Dramaturgen Horst Schönemann, Christoph Schroth und Armin Stolper, zusammen. Die Autoren konstatieren: »Die Unterstützung der Arbeiter- und Bauerntheater durch Regisseure und Schauspieler gehörte in jener Zeit für viele professionelle Bühnenensemble zum Alltag. Und nicht nur die Laien profitierten davon. So mancher Berufskünstler stellte auch für sich einen Nutzen fest.« (S. 47) Zweimal wöchentlich trafen sich Laienspieler und Künstler, nach anderthalb | |||||||
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auf Ablehnung, den Künstlern wurde
Verzerrung der Wirklichkeit und Orientierung an falschen
Vorbildern vorgeworfen. Auch ein Triptychon
»Dorffestspiele in Wartenberg« (1961 von Paris) fand unter der Überschrift »Erkennt Ihr euch
wieder?« negative Resonanz. Das Resümee: Die Künstler kamen mit großen Erwartungen zu den Genossenschaftsbauern nach Wartenberg, um »etwas
gebeutelt und desillusioniert« zurückzukehren. (S. 10)
Insgesamt belegt der Katalog überzeugend zwei Dinge: Zum einen, wie auf spezifische Weise das lokale geschichtliche Erbe erschlossen werden kann. Zum zweiten, wie »unten« (in diesem Fall in Wartenberg) größere kulturhistorische Prozesse und Ereignisse reflektiert und aufgenommen wurden. Herbert Mayer | auslesen läßt. Auch alle anderen Illustrationen,
darunter bisher kaum bekannte oder
unveröffentlichte fotografische Dokumente, technische
Zeichnungen und Pläne, ergänzen den Text ausgezeichnet.
Die ebenso sachkundigen wie ambitionierten Autoren führen uns im Ergebnis ihrer aufwendigen Recherche durch alte unterirdische Befestigungen, Wasserspeicher, Filtergewölbe, lassen in Brauereikeller blicken, zeichnen den aufhaltsamen Weg zur Berliner Kanalisation nach, würdigen die bereits 1865 in Betrieb genommene Rohrpost und widmen sich ausführlich dem U-Bahn- Netz, dessen erste Bauphase 1896 begann. Nach weiteren Stationen der Reise durch den Untergrund einschließlich Führerbunker, Spionagetunnel und Zehlendorfer Bankräubertunnel bietet sich der Ausblick auf den milliardenteuren Tiergartentunnel. Bis zum Jahr 2002 soll er fertiggestellt sein, trotz des verzögernden Wassereinbruchs in diesem Sommer. Zu diesem Projekt lassen die Autoren deutliche Distanz erkennen, sie vergleichen es gar mit Albert Speers Planungen für die Nazi- Hauptstadt Germania. »Mit Bonner Rückendeckung hat sich in Berlin eine Verkehrspolitik durchgesetzt, die zwar im Untergrund völlig neue Dimensionen eröffnet, aber im Verhältnis zur Gesamtentwicklung der Stadt von vielen als unverhältnismäßig oder gar >absurd< empfunden wird« (S. 188), heißt es unter Verweis beispielsweise auf die ansonsten doch recht meinungsunterschiedlichen Blätter »Frankfurter Rundschau«, »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und Tageszeitung. Durchaus begründet ist die Befürchtung, daß bei den immensen Aufwendungen für den Parlaments- und Regierungsuntergrund der notwendige Ausbau des »übrigen« öffentlichen Verkehrsnetzes auf der Strecke bleiben wird. Tröstlich immerhin: »Nach dem Fall der Mauer ist der unterirdische Teil schneller wieder zusammengewachsen als der oberirdische.« (S. 17) Sämtliche U-Bahn- Verbindungen sind wieder hergestellt (im Gegensatz zu den oberirdischen S-Bahn-An- | ||||||
Dietmar und Ingmar Arnold
Dunkle Welten. Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin Mit Farbfotografien von Frieder Salm
Dieses Buch über das unterirdische Berlin konnte erst nach dem Fall der Mauer konzipiert und fertiggestellt werden. Für viele der exzellenten Farbfotos, drucktechnisch ebenso wiedergegeben, gab es erst in den 90er Jahren eine Chance. Niemand hätte zu DDR-Zeiten die Erlaubnis erhalten, beispielsweise die Verbindungstreppe zwischen U-Bahn und Tiefbunkeranlage Alexanderplatz abzulichten. Diese Illustration (S. 105) vermittelt beispielhaft jene Atmosphäre des Untergrunds, die sich aus den sachlichen Schilderungen nur mit Phantasie her- | |||||||
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schlüssen in der Stadt sowie ins Umland), die Telekommunikation zwischen den ehemaligen Stadthälften funktioniert längst reibungslos,
und wer weiß, so mutmaßte Otto Schmelzer in
einer ausführlich zitierten Schrift von 1896 über den
Berliner Untergrund, »ob nicht eine Zeit kommen
wird, in der unter der Erde und in der Luft der
stärkere Verkehr herrscht«. (S. 10)
Dieses großformatige Buch von 220 Seiten bereichert die Berlin- Literatur ungemein. Zwar überschneidet es sich thematisch etwas mit dem ebenfalls reich illustrierten Band über Geisterbahnhöfe, Westlinien unter Ost-Berlin, von Heinz Knobloch, Michael Richter, Thomas Wenzel (derselbe Verlag). Aber das publizistische Herangehen ist völlig anders. Und vor allem: Die Ausflüge in die dunklen Welten von Berlin haben die größere historische Dimension sie umfassen zwei Jahrhunderte und bieten eine Fülle stadtgeschichtlicher, sozialer, politischer und nicht zuletzt verkehrstechnischer Details. Sie ohne erkennbare Fehler bewältigt zu haben, ist allein schon eine höchst anerkennenswerte Leistung. Die Autoren waren auf Genauigkeit bedacht, Vollständigkeit sollte und konnte nicht angestrebt werden. Noch harren in der Berliner Unterwelt manch weiße Flecken der Erkundung. Wohl mit Rücksicht auf die politisch herrschende Meinung wurde eine durchaus interessante Fundstelle nicht behandelt: der unterirdische Weg zum Palast der Republik und die verzweigten »Eingeweide« des Bauwerks. Alles in allem aber wurde hier ein Buch vorgelegt, dessen Standard so leicht nicht überboten werden kann. Zweifellos ein Sachbuch. Ebenso zweifellos ein Lese- und Schauvergnügen. Jutta Arnold |
Michael Brenner/ Stefi Jersch-Wenzel/ Michael A. Meyer
Deutsch- Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 17801871 Verlag C. H. Beck, München 1996 Zwei der drei Autoren wurden in Berlin geboren, und keine andere Stadt wird in diesem Buch so häufig genannt wie Berlin. Und tatsächlich steht Berlin zwischen 1780 und 1871 im (geographischen) Brennpunkt deutsch- jüdischer Geschichte. War es doch Berlin, von wo aus Christian Wilhelm Dohm 1781 seine auf politische Emanzipation zielenden Überlegungen »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« publizierte und Moses Mendelssohn, der zu der bereits zwei Jahre später fällig gewordenen Zweitauflage dieser Schrift (Bd. 2, S. 7277) »Anmerkungen« beigesteuert hatte, seinerseits und noch vor Immanuel Kant die Aufklärungsdiskussion auf den Punkt brachte. Übrigens in der »Berlinischen Monatsschrift« von damals.1) In Berlin war es dann, wo sich 1819 der »Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums« und 1845 die »Genossenschaft für Reform im Judentum« bildete. Nirgendwo anders in deutschen Landen entfaltete sich die Wirtschaftskraft der Juden so nachhaltig wie in Berlin. Berlins jüdische Bevölkerung wuchs im 19. Jahrhundert von ca. 3 000 auf 40 000. Und wenn es so etwas wie einen Berlinischen Volkscharakter gibt, so sind seine positiven Züge eine Melange aus (dank der Hugenotten) französischer Geistesart, aus Schusterjungenwitz und -frechheit sowie eben aus jüdischer Intelligenz. | ||||||
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Der vorliegende Band, mit 46 Abbildungen und drei Karten ausgestattet, mit weitläufigen und gegliederten Literaturhinweisen, einer (etwas knapp geratenen) Zeittafel und einem
Personen-, Orts- und Sachregister versehen, ist von nun an
das Standardwerk seines Themas. Ergebnis von
Gelehrtenfleiß, ist es doch lesbar, teilweise sogar
spannend geschrieben, also nicht von Wissenschaftlern
nur für Wissenschaftler. Die in nachgewiesener
Ausnutzung der Quellen gefällten Urteile sind
ausgewogen. Sie sind auch für diejenigen nachvollziehbar,
also zumindest erwägenswert, die zu diesem oder jenem Teilproblem eine andere Meinung haben. Vorurteile werden nach keiner Seite bedient.
Zu den großen Vorzügen des Buches gehört, daß die deutsch- jüdischen Beziehungen nicht auf Geistesgeschichtliches reduziert, sondern in die Gesellschaftsgeschichte eingebettet worden sind. Es finden sich also Ausführungen zur Rechtslage der Juden (S. 15 ff.); zu deren Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur (S. 57 ff., 302 ff.); zu den Organisationsformen der jüdischen Gemeinden (S. 96 ff.); zum jüdischen Selbstverständnis und zur jüdischen Identität (S. 135 ff., 326 ff.); zum Wechselverhältnis zwischen Judentum und Christentum (S. 177 ff.); zur wirtschaftlichen Tätigkeit von Juden (S. 84 ff., 309 ff.) und zu ihnen als Konsumenten und Produzenten deutscher Kultur (S. 208 ff.); zum Weg der Juden vom Untertanen zum Bürger. (S. 260 ff.) All diese Prozesse sind in ihrer jeweiligen Widersprüchlichkeit, in dem Auf und Ab von Fortschritten und Rückschlägen dargestellt. Daß es die große Revolution der Franzosen war, die 1790/91 die erste vollständige Emanzipation der Juden in einem Lande Europas herbeiführte, wird ebensowenig verschwiegen wie die Einsicht, daß das Ausbleiben einer Revolution in Deutschland das Ausbleiben einer revolutionären Judenemanzipation diesseits des Rheins zur Folge hatte, eben jenen qualvollen Verbürgerlichungsprozeß der Gesellschaft, in dessen Verlauf die Akkulturation der Juden zu einer Bedin- | gung ihrer Emanzipation wurde. (S. 10 f.)
Preußens Allgemeines Landrecht von 1794 verbot immer noch die Ehe zwischen Juden und Christen (Teil II, Titel 1, Paragraph 36 und 939) und verpflichtete
den von der Gutsherrschaft zu ernennenden
Dorfschulzen, »unvergeleitete Juden« ebenso wie Zigeuner
als Landstreicher »in Verhaft zu nehmen« (Teil II, Titel 7, Paragraph 61). Als das
Emanzipations- Edikt von 1812 den in Preußen wohnenden Juden
endlich die Stellung von Staatsbürgern einräumte
(Paragraph 1), wurde ihnen gleichzeitig (Paragraph 9)
die Zulassung zu öffentlichen Ämtern
verweigert.2) Die durch Paragraph 8 des gleichen Edikts
zugebilligte Berechtigung der Juden, akademische Ämter,
»zu denen sie sich geschickt gemacht haben«, zu
verwalten, wurde nach zehn Jahren durch eine
spezielle Kabinettsordre des Königs wieder
zurückgenommen, dann nämlich, als der mit summa cum
laude promovierte Eduard Gans eine akademische
Laufbahn an Berlins Juristenfakultät beginnen
wollte.3) Ausführlich wird über den
»christlich- teutschen« Antisemitismus und die vom Judenhaß
getragenen »Hep, Hep«- Ausschreitungen von 1819 berichtet (S. 38, 43, 281); auch Bismarcks dementsprechende Junker- Äußerungen (S. 56, 310) werden nicht
unterschlagen. Bis zum Ersten Weltkrieg galt die
von Preußens König selbst ausgegebene Devise, daß jüdische Vorgesetzte nicht christlichen Soldaten Befehle erteilen können. (S. 268 f.)
Besonders beeindruckend ist der intellektuelle Reichtum, den Deutschland Künstlern und Wissenschaftlern jüdischer Herkunft verdankt. An vielen Universitäten überschritt der prozentuale Anteil jüdischer Studenten den jüdischen Bevölkerungsteil ganz erheblich. Die akademische Karriere aber blieb Juden, sofern sie sich weigerten zu konvertieren, verwehrt: Als erster Jude wurde der Mathematiker M. A. Stern Ordinarius an einer deutschen Universität; das war 1859, und da war er, ein Schüler von Gauß, bereits 30 Jahre promoviert. (S. 279) Insgesamt aber war der Preis, den die deutsche | ||||||
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Judenheit für ihre Integration zu zahlen hatte,
die (nominelle) Konversion. Ein Schandmal der
Gesellschaft, was sonst?
Gewiß gelang den deutschen Juden in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg. Die konjunkturelle Entwicklung und eine liberale Wirtschaftspolitik begünstigten die spezifische Situation der Juden, die traditionell im Geld- und Warenhandel überrepräsentiert waren, unter anderem deswegen, weil man sie aus Landwirtschaft und Handwerk ausgeschlossen hatte. (S. 309) Deutsche jüdischer Herkunft begannen als Liberale (Lasker, Bamberger), als Konservative (Stahl) oder als Sozialisten (Marx, Lassalle) »Karriere« zu machen. Zum Zeitpunkt der Reichsgründung war die deutsche Judenheit nahezu vollständig verbürgerlicht. Sie war im preußisch- deutschen Obrigkeitsstaat »angekommen«. Mehrheitlich waren die Juden bestrebt, ihre Loyalität zu demonstrieren. Sie waren Patrioten geworden. Die Jüdische Gemeinde war nicht mehr die organisatorische Einheit, die sie ehedem gewesen war; ihre juristischen Funktionen hatte sie an den Staat abgegeben; als religiöse und caritative Einheit blieb sie erhalten. Von der großen Mehrheit der deutschen Juden wurde das jüdische Ritualgesetz nicht mehr in seiner Gänze beachtet. Übrig blieb ein auf den hebräischen Propheten basierender Monotheismus mit seiner moralischen Forderung, daß man den Nächsten lieben solle wie sich selbst (Leviticus 19, 18). Am Ausgang des 19. Jahrhunderts war das Deutschsein ebenso wesentlich für die Identität nahezu aller Juden im deutschsprachigen Europa wie ihr Judesein. (S. 359) Das sollte sich in unserem Jahrhundert als schöner Schein erweisen. Das Erwachen war brutal wie noch nie zuvor in der Geschichte ... Einige Ergänzungsbemerkungen kritischer Art sollen nicht zurückgehalten werden. Sie schmälern nicht die Gesamtwürdigung des Buches. Kants Verhältnis zu Mendelssohn im allgemeinen bedarf | einer das Religionsproblem überschreitenden Betrachtung. Seinen kategorischen Imperativ kann man durchaus als säkularisierte Lesart der im vorigen Abschnitt zitierten Leviticus- Passage betrachten, und sein Verhältnis zu Mendelssohn gestaltete er ungeachtet grundlegender philosophischer Meinungsverschiedenheiten als ein solches zwischen Gleichberechtigten.4) Wilhelm von Humboldts Engagement wird zwar mehrfach erwähnt, aber nicht eindeutig genug gewürdigt. Schließlich war er es, der sich für preußisch- deutsche Verhältnisse mit seiner These zur Judenemanzipation weit hervor wagte, »daß nur eine plötzliche Gleichstellung aller Rechte gerecht, politisch und konsequent ist«.5) Da die durch nichts zu rechtfertigende oder auch nur zu beschönigende Antisemitenpassage beim frühen Fichte wiedergegeben wird (S. 29), hätte man wohl auch erwähnen müssen, daß der späte Fichte von seinem Berliner Rektorat zurücktrat, da er sich mit seinem Eintreten für einen durch einen Adligen gedemütigten jüdischen Studenten nicht durchsetzen konnte.6) Wohl ist unter den jüdischen Konvertiten in Deutschland Friedrich Julius Stahl (sogar mit Abbildung) erwähnt, aber sein Zusammenspiel mit Krone, Großgrundbesitzern und christlicher Amtskirche ist nur ungenügend ausgeleuchtet.7) Schade, daß der bedeutende, nicht konvertierte und daher keiner Professur teilhaftig gewordene Rechtsphilosoph und spätere Politiker Heinrich Bernhard Oppenheim keine Erwähnung gefunden hat, obschon sein als Reichstagsabgeordneter der Liberalen endender Lebensweg eines Linkshegelianers, Sozialisten, Antikommunisten und (vorübergehenden) Revolutionärs prototypisch ist.8) Und schließlich verdient es der als Kleinkind getaufte, aus mütterlicherwie väterlicherseits Rabbinergeschlechtern entstammende Marx, doch mehr nach inhaltlichen Übereinstimmungen seiner Auffassungen mit jüdischer Gerechtigkeitskonzeption hinterfragt zu werden,9) als es hier mit der allzu verkürzten Bemerkung geschah, daß er zwar der bedeutendste | ||||||
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Denker jüdischen Ursprungs sei, aber auch der
von jedem positiven Verhältnis zum Judentum am weitesten entfernte. (S. 249)
Um mich zu wiederholen: Es handelt sich um ein Standardwerk allererster Güte. Hermann Klenner Quellen und Anmerkungen:
| Brief an die Redaktion
Sehr geehrter Herr Mende, zum Beitrag »Die Heilandsweide« im
April-Heft, Seite 65 ist eine Korrektur nötig: Nicht der
Große Kurfürst ließ den Königsgraben bauen, sondern König Friedrich II, in den Jahren 1771 bis 1775. Daher auch der Name. Den Königsgraben gibt es noch immer, wenn auch nicht überall sichtbar.
Im Zuge der Bebauung an der Grenze zu Lankwitz, Friedrichsrodaer
Belßstraße/ Falkenhausenweg wurde der bis dahin offen verlaufende Graben mit Platten abgedeckt. Wegen der Kinder und der Ratten ...
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