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Karl Lärmer
Johann Georg Sieburg

Ein Wegbereiter der maschinellen Produktion in Berlin und Preußen

Zwölf Jahre nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) setzte in der Berliner Textilbranche eine neue Aufschwungphase ein. Die textile Produktion wurde stärker denn je zum führenden Wirtschaftssektor der Stadt. Wichtig für diese Entwicklung war, daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Dominanz der Wolle durch die der Baumwolle ersetzt werden konnte. 1761 wurden in der Stadt auf 3 082 Webstühlen Baumwollgarne verarbeitet. Bis 1806 sank die Zahl der Webstühle, auf denen Wolle verwebt wurde, auf 1 327, während sich die Zahl der Webstühle, auf denen Baumwollgewebe produziert wurden, auf 4 219 erhöhte.1)
     Die tiefere Bedeutung dieses Wandels bestand darin, daß die Baumwollfaser für die maschinelle Verarbeitung wesentlich geeigneter war als Wolle oder gar Flachs. Dies erklärt, warum die ersten Maschinenspinnereien in der Regel Baumwollspinnereien waren. In dem Maße, in dem die Zahl der in einer Spinnerei eingesetzten Maschinen

wuchs, veränderte sich der Antriebsenergiebedarf quantitativ und qualitativ. Muskelkraft, Luftströmung und Wasserkraft traten, wenn auch in einem Jahrzehnte währenden Prozeß, zunächst neben und schließlich hinter die Dampfkraft zurück.
     Zu den Persönlichkeiten, die den Prozeß der Ersetzung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit einleiteten und damit jene technische und sozial-ökonomische Umwälzung beförderten, die unter den Begriffen »Industrielle Revolution« bzw. »Frühindustrialisierung« in die Geschichtsschreibung einging, gehörte der Berliner Johann Georg Sieburg (7. September 1732 bis 11. April 1801).

Sieburgs Weg zum Fabrikanten

Nach seiner kaufmännischen Ausbildung erwarb Sieburg 1753 die Reislandsche Manufakturwarenhandlung auf dem Berliner Mühlendamm, der er eine kleine Baumwollmanufaktur zur Produktion feiner Gespinnste angliederte. Damit vollzog er den Schritt zum Manufakturisten. Als er 1756 versuchte, neben seiner Spinnerei eine Kattundruckerei einzurichten und so eine zweite Fertigungsstufe der Baumwollverarbeitung unter seine Regie zu bekommen, scheiterte er zunächst, denn seit 1754 war der Betrieb von Kattundruckereien konzessionspflichtig. Sieburg wurde die Konzession verweigert. Er erreichte sein Ziel dennoch, indem er zeitweilig mit einem zugelassenen Kattun-

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drucker kooperierte und schließlich 1759, wiederum ohne behördliche Genehmigung, die Druckerei übernahm. 1763 gelang es ihm durch Bestechung eines Staatsbeamten, die Kattundruckerei zu legalisieren.
     1765 erwarb Sieburg ein Haus und das dazugehörige Grundstück am Quarre 6, dem späteren Pariser Platz, und begann dort seine Spinnerei auszubauen und schließlich eine »Englische Baumwollenspinn-Maschinen-Anstalt« einzurichten.
     1777 dehnte Sieburg sein Wirkungsfeld in die Provinz aus. Er kaufte in Kloster Zinna eine Baumwoll- und Leinenmanufaktur. Die damit verbundene Verpflichtung, mindestens 30 Webstühle zu betreiben, bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Schon 1782 ließ er an 70 Webstühlen arbeiten.2) Damit hatte er drei Fertigungsstufen für Baumwollgewebe in seiner Hand vereinigt, die Spinnerei, die Weberei und den Kattundruck. Die positive Entwicklung der Baumwollweberei lenkte die Aufmerksamkeit der klügsten Köpfe Preußens auf die maschinelle Garnproduktion. Friedrich II. begann sich spätestens 1782 für Spinnmaschinen zu interessieren. Da ihm die negativen sozialen Wirkungen der Maschinenspinnerei auf die Handspinnerei geläufig waren, hielt er den Gebrauch von Spinnmaschinen u. a. nur dann für zulässig, wenn dadurch eine Reduzierung der englischen Konkurrenz auf dem preußischen Markt erreicht werden konnte.3) 1786 sprach sich Friedrich II. dage-
gen für die uneingeschränkte Nutzung von Spinnmaschinen aus und erklärte darüber hinaus seine Bereitschaft, die Mechanisierung der Spinnerei finanziell zu unterstützen.4) Noch im gleichen Jahr nahm der preußische Gesandte in Kopenhagen mit Charles Axel Nordberg Kontakt auf. Sein Ziel war, Nordberg als Berater für die Entwicklung des preußischen Textilmaschinenbaus zu gewinnen. Nordberg hatte im Auftrag seiner Regierung mehrere Jahre in der englischen Textilindustrie gearbeitet und nach seiner Rückkehr in Kopenhagen eine große Textilfabrik nach englischem Vorbild aufgebaut. Der Tod Friedrichs II. verhinderte die Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages mit Nordberg.5) Erst im Oktober 1790 kam auf der Regierungsebene das Problem der Maschinenarbeit erneut ins Gespräch. Handelsminister Carl Gustav von Struensee berichtete dem König, daß in der Garnproduktion Engpässe bestünden, und er schlug vor, die Maschinenspinnerei dann einzuführen, wenn »die richtige und ordentliche Handspinnerei für den Fabriken-Bedarf ... nicht ausreichen wollte«.6) Fünf Jahre später ließ von Struensee diese Einschränkung fallen, da er in der Maschinenspinnerei das Mittel sah, um Preußen von Garnimporten aus Großbritannien zu befreien. Gleichzeitig befürwortete er finanzielle staatliche Unterstützungen beim Kauf bzw. beim Bau von Spinnmaschinen.7)
     Der Verzicht Friedrich Wilhelms II.
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auf die Dienste Nordbergs bot Sieburg die Chance, sich der Kenntnisse dieses Mannes zu bedienen. Im Januar 1792 stellten Sieburg und Nordberg, der zu diesem Zeitpunkt schon Werkmeister und Teilhaber Sieburgs war, beim General-Fabriken-Departement einen Kreditantrag. Die 100 000 bis 200 000 Taler sollten für den Bau von Spinnmaschinen, zur Einrichtung einer Kupferdruckerei, Modernisierung der Weberei und Färberei sowie zum Kauf einer Dampfmaschine dienen. Der Antrag wurde mit dem Hinweis, es handele sich um eine private Angelegenheit, abgewiesen.8) Sieburg hielt dennoch an seinem Vorhaben, eine moderne Textilfabrik zu schaffen, fest. Als ihm 1795 schließlich doch ein staatlicher Kredit in Höhe von 100 000 Talern eingeräumt wurde, konnte er schon auf beachtliche Erfolge verweisen.9)
     Sieburg hatte zu Beginn der 80er Jahre seinen Sohn mit dem Auftrag nach England geschickt, Informationen über die mechanische Spinnerei einzuholen. Obwohl Großbritannien seinen gewaltigen technischen Vorsprung gegenüber dem europäischen Festland u. a. durch Maschinenausfuhrverbote, durch Auswanderungsverbote für bestimmte Berufsgruppen, zu denen auch Maschinenspinner zählten, zu zementieren suchte, gelang es dem jungen Sieburg, sowohl eine Spinnmaschine als auch eine Fachkraft auszuschleusen und nach Berlin zu bringen.10) Es kann nicht exakt belegt werden, wann, mit welchen und mit wie
vielen Maschinen Sieburg die Maschinenspinnerei aufnahm, belegt ist aber, daß er 1784 einen Teil seiner Maschinen mit Hilfe menschlicher Muskelkraft, einen anderen Teil über ein Roßwerk mit Bewegungsenergie versorgen ließ.11) Bei den mit menschlicher Muskelkraft betriebenen Maschinen dürfte es sich um sogenannte »Spinning-Jennys« gehandelt haben,12) bei den mit dem Roßwerk in Bewegung gesetzten um einen Spinnmaschinentyp, den R. Arkwright unter der Bezeichnung »Water-Frame« bzw. »Spinning-Trostle« 1769 in England zum Patent angemeldet hatte. Diese Spinnmaschine war von vornherein für einen Zentralantrieb konstruiert worden.13) Durch die Nutzung der letztgenannten Spinnmaschinen nahm die Sieburgsche Spinnerei spätestens 1784 den Charakter einer Fabrik an, denn der entscheidende Prozeß der Garnproduktion war nun mechanisiert, der Antrieb der Maschinen erfolgte über einen Zentralantrieb. In den Folgejahren wurde der Maschinenpark stetig erweitert und qualitativ verbessert. Als Sieburg 1801 starb, beschäftigte die Fabrik 178 Arbeitskräfte, davon 27 Haspler außer Haus. In der Fabrik arbeiteten in der Garnproduktion 123 Arbeitskräfte, davon 83 Frauen und Kinder, in der Streichengarnmacherei elf Personen, davon zehn Frauen und Kinder. Außerdem verfügte die Fabrik, wie alle frühen Maschinenspinnereien, über eine eigene
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Maschinenbauabteilung mit 17 Beschäftigten, die unter Leitung eines Engländers Maschinen bauten und warteten.
     Sieburgs Bemühen nach hochwertigen Produkten und nach der Vereinigung möglichst vieler Fertigungsstufen in seiner Hand äußerten sich zusätzlich nicht nur darin, daß er die Rohbaumwolle, im Tausch gegen textile Fertigwaren, direkt aus den Baumwollanbauländern der Levante bezog, sondern daß er mit Erfolg bemüht war, über einen sachgerechten Anbau von Krappgewächsen auch die Ausgangsstoffe für die Farbenherstellung zu kontrollieren. 1781 warb er einen elsässischen Krappbauern an, der auf dem Vorwerk Wilmersdorf, es war Sieburg zu diesem Zweck vom König überlassen worden, den Krappenbau so etablierte, daß seine Rotgarnfärberei das »Lob aller Kenner« erhielt.14) Zum anderen gelang es ihm mit Hilfe zweier Engländer, in seiner Fabrik »den damals noch ganz unbekannten Kupferdruck« einzuführen.15)

Der Griff nach der Dampfkraft

Maschinenarbeit setzt Energiequellen und Energieumwandlungssysteme voraus, die in der Lage sind, Antriebsenergie möglichst kontinuierlich abzugeben. Sieburg suchte diesem Erfordernis zunächst mit Hilfe eines Wasserrades nachzukommen. Da in Berlin die Möglichkeiten der Wasserkraftnutzung begrenzt waren, wurden mehrere

Anträge Sieburgs, ihm eine Wassermühle zur Nutzung zu überlassen, von der zuständigen Behörde abschlägig beschieden.16) Deshalb mußte er, wie es in den Akten heißt, »zu Feuermaschinen und Pferden Zuflucht nehmen ...«.17) Zwar bot Wasserkraft wesentlich bessere Voraussetzungen zur Herstellung einer gleichmäßigen Drehbewegung als Pferde, die nicht jenen gleichmäßigen Zug hatten, der bei Spinnmaschinen erforderlich war, um das Abreißen der Fäden zu vermeiden. Diese Situation veranlaßte Sieburg spätestens zu Beginn der 90er Jahre, an den Kauf einer Dampfmaschine zu denken.
     Sieburg konnte sich das offenbar leisten, denn die Garnpreise waren zwischen 1791 und 1794 um zehn Prozent gestiegen, und Sieburg erzielte 1795 aus seiner Maschinenspinnerei »einen sehr bedeutenden Gewinn gegen die Englischen Preiße«.18) Auch war er der Überzeugung, daß seine Gewinne durch die Dampfkraftnutzung »ungleich höher werden würden«. Diese Erwartungen sollten sich, als der Dampfbetrieb im Oktober 1797 aufgenommen wurde, nicht erfüllen. Jetzt zeigte sich, daß das Leistungsvermögen der Dampfmaschine deutlich über dem Bedarf lag. Obwohl Sieburg bis 1798 die Zahl seiner Spinnmaschinen auf 18 erhöhte, bestand, wie es in einem Bericht an Minister von Struensee heißt, ein »Ueberfluß der bewegenden Kraft ... ein grosser Teil der Dämpfe (verfliegt) vergeblich in die Luft«.19) Angesichts der in dieser Zeit stark steigen-
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   23   Probleme/Projekte/Prozesse Wegbereiter der Industrialisierung  Vorige SeiteNächste Seite
den Holzpreise – die Dampfmaschine wurde mit Holz und Torf beheizt – standen die Brennstoffkosten von täglich fünf Talern in keinem auf die Dauer verträglichen Verhältnis zum Nutzen. Schon im Januar 1798 sah Sieburg das »größte Uebel« seiner Dampfmaschine darin, daß sie nicht »von neuester Erfindung«, sondern von solcher Konstruktion war, das »selbige wohl bei einer Stein Kohlen Mine, nicht aber hier in Berlin, wo Feuerung so äußerst kostbar ist, mit Nutzen gebraucht werden kann«.20) Offensichtlich war Nordberg beim Kauf der Dampfmaschine übervorteilt worden. Ihm war wohl eine Spielart der Newcomenschen Dampfmaschine verkauft worden, keine moderne, doppelwirkende Dampfmaschine mit Drehbewegung von James Watt, die 1784 zum Patent angemeldet worden war. Sieburg erwog deshalb den Kauf einer Dampfmaschine, die sich vor allem durch einen niedrigen Brennstoffbedarf auszeichnen sollte. Am 23. Januar 1798 bat er den König – vergeblich –, ihn bis zur Inbetriebnahme der neuen Dampfmaschine mit verbilligten Holzlieferungen aus den Staatsforsten zu bedenken.21) Nach der Ablehnung dachte er ernsthaft an die Aufgabe seiner Fabrik, denn noch im gleichen Jahr versuchte er – wiederum vergeblich –, seine Maschinenspinnerei für 100 000 Taler, also den Kreditbetrag, an den Staat zu verkaufen. Da auch sein im April 1799 gestellter Antrag, ihm die Werderschen Mühlen in Erbpacht zu über- lassen, scheiterte, unternahm er im März des Jahres 1800 einen letzten Versuch zur Erhaltung der Dampfkraft in seiner Spinnerei, indem er erneut – und wieder vergeblich – den König um verbilligte Holzlieferungen bat. Als Sieburg im Frühjahr 1801 starb, hatte er alle Vorbereitungen getroffen, um den Dampfbetrieb aufzugeben und erneut einen Pferdegöpel einzusetzen. Aus einer Aufstellung der Betriebsausgaben für das zweite Halbjahr 1801 ist ersichtlich, daß das »Roßwerk zum gangbaren Stand fertig gemacht worden war«.22)

Risiko ohne Lohn

Die Erben Sieburgs fanden nicht nur eine Schuldenlast von mehr als 70 000 Talern vor,23) sondern auch eine Maschinenspinnerei, eine Kattundruckerei und eine Weberei, die nach preußischen Maßstäben als modern gelten konnten. Allerdings stand den Spinnmaschinen in Gestalt eines Pferdegöpels nun wieder eine mittelalterliche Antriebstechnik gegenüber. Dies wurde besonders fühlbar, als die Witwe Sieburgs, sie leitete mit Unterstützung eines Disponenten die Fabrik, den Maschinenpark der Spinnerei von einem englischen Maschinenbauer umrüsten ließ. Im Januar 1803 verfügte die Spinnerei über fünf Vorspinnmaschinen mit durchschnittlich 80 Spindeln und 33 sogenannten »Mules« mit durchschnittlich rund 142 Spindeln. Bei den »Mules« handelte es sich um

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   24   Probleme/Projekte/Prozesse Wegbereiter der Industrialisierung  Vorige SeiteNächste Seite
eine von dem Briten Samuel Crompton 1779 entwickelte Universalspinnmaschine.24)
     Die volle Nutzung der Vorzüge der Mule-Spinnmaschinen war natürlich durch den rückständigen Antriebsmechanismus gehemmt. Deshalb suchten die Sieburgs im Januar 1804 wiederum um die Verpachtung einer Wassermühle nach. Da ihr Antrag abgelehnt wurde, ließen sie 1805 einen neuen Pferdegöpel bauen. Der Untergang des Unternehmens war jedoch vorprogrammiert. Die am 21. November 1806 von Napoleon verhängte Kontinentalsperre zielte darauf ab, u. a. jeden Wirtschaftsverkehr mit England zu unterbinden.
     Als nach der Aufhebung der Kontinentalsperre englische Baumwollgarne wieder auf den Markt kamen, gehörte die Sieburgsche Fabrik zu den Berliner Spinnereien, die dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen waren. Nicht zuletzt deshalb, weil Sieburg bei der Gewährung des Kredits im Jahre 1795 Produktions- und Absatzbeschränkungen auferlegt wurden. So war er u. a. verpflichtet, nur bestimmte Garnsorten herzustellen, seine Garne nicht selbst zu verwenden, seine Garne nur an Berliner Interessenten zu verkaufen und nur eine solche Garnmenge zu produzieren, die den Handspinnern keine Erwerbsmittel entzog. So gesehen ist es geradezu erstaunlich, daß die Sieburgsche Maschinenspinnerei erst 1815 aus dem Berliner Wirtschaftsleben verschwand.
Dennoch gehörte Sieburg zu den Unternehmergestalten, die die preußische Wirtschaft in eine neue Ära führten und dem Land auf legalen und illegalen Wegen eine neue Produktionstechnik zugänglich machten. Dieser Schritt in das Maschinenzeitalter vollzog sich in einer noch stark von merkantilistischen Grundsätzen geprägten Wirtschaftspolitik, in einer Gesellschaft, in der u. a. die Gewerbefreiheit fehlte und die Zünfte noch über einen beachtlichen Einfluß verfügten. Preußen war nicht nur schlechthin ein Agrarland, sondern eine Handarbeitsgesellschaft. Die Risikobereitschaft und die Klugheit Sieburgs, die sich u. a. darin äußerte, daß er sich auf die Kenntnisse ausländischer Fachkräfte stützte, führten dazu, daß 1784 in Berlin – trotz widriger Rahmenbedingungen – die erste Maschinenspinnerei Preußens entstand. Im gleichen Jahr nahm in Ratingen bei Düsseldorf eine von dem Elberfelder Kaufmann J. G. Brüggelmann gegründete Maschinenspinnerei die Produktion auf.25) Diese Fabrikgründungen waren um so bedeutender, weil sie nur 13 Jahre nach Gründung der ersten Maschinenspinnerei durch Arkwright im britischen Cromford erfolgten. Sie waren die ersten ihrer Art auf dem europäischen Festland. Die Bedeutung der Maschinenspinnerei bestand darin, daß sie ganze Kettenreaktionen von technischen Neuentwicklungen in der Textilbranche auslöste und von dort die Entwicklung des Maschi-
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   25   Probleme/Projekte/Prozesse Wegbereiter der Industrialisierung  Vorige SeiteNächste Seite
nenbaus, der Metallverarbeitung, des Kohlebergbaus etc. stimulierte.
     Hatte Sieburg durch die Gründung der ersten Maschinenspinnerei in Preußen ein Zeichen für die beginnende Industrialisierung des Landes gesetzt, so fügte er dem ein zweites durch die Ausstattung seiner Fabrik mit einer Dampfmaschine hinzu. Seine Fabrik kann deshalb in den ausgehenden 90er Jahren des 18. Jahrhunderts als der produktionstechnisch modernste Betrieb der verarbeitenden Industrie Deutschlands gelten, denn die Ratinger Spinnerei arbeitete auf Wasserkraftbasis. Objektiv war er der erste deutsche Privatunternehmer, der mit Hilfe der Dampfkraft die relativ starren Grenzen der Energiegewinnung aus Muskel- und Wasserkraft zu durchbrechen suchte. Und das in einer Zeit, da sich der Staat in dieser Frage zurückhielt. Dies hatte seine Ursache wohl auch darin, daß eine breite Öffentlichkeit von den Gefahren nicht unbeeindruckt blieb, die von der Nutzung der Dampfkraft ausgingen. Dafür drei Beispiele: Mitte der 80er Jahre war erwogen worden, die Tappertsche Spinnerei mit einer Dampfmaschine auszustatten. Über die Ursachen des Scheiterns dieses Vorhabens heißt es in einem Bericht an den König u. a.: »Das schickliche Unterkommen der Anstalt hat seine Schwierigkeiten ... Die Hauswirte scheuten die Dampfkunst ... als einer in Berlin noch ganz unbekannten Verrichtung ...«26) Doch auch der König lehnte die Aufstellung
einer Dampfmaschine in seinem Marstallgebäude ab.27) Ähnliche Schwierigkeiten zeigten sich beim Übergang zur Dampfkraftnutzung in der Königlichen Porzellanmanufaktur. Obwohl der Einsatz einer in Gleiwitz gebauten Dampfmaschine schon 1793 technisch möglich gewesen wäre, verhinderten Bürgerproteste unter Führung des Freiherrn von der Reck bis zum Jahre 1800 ihre Inbetriebnahme.28) Um so verdienstvoller war es, daß Sieburg lediglich zwölf Jahre, nachdem der britische Unternehmer Robison in Papplewick seine Maschinenspinnerei mit einer Dampfmaschine ausgerüstet hatte, in Berlin diesen grundsätzlichen Wandel einleitete.
     Im Nachruf auf J. G. Sieburg hieß es u. a.: »Die Verehrung seiner Mitbürger und das ehrenvollste Andenken werden nie unter uns ersterben, und im künftigen Jahrhundert wird man noch den Namen Sieburg, als den Namen eines vorzüglichen Verehrers der vaterländischen Industrie, mit Ehrfurcht und Dankgefühl nennen.«29)
     Tatsächlich hat Berlin die Leistung Sieburgs vergessen. Betrachtet man die Denkmale und die Gedenktafeln zwischen Schloßbrücke und der Siegessäule, so erscheint Berlin als Stadt der Politik, der Militärs und – mit unverkennbarem Abstand – der Wissenschaft. Dagegen erinnert nichts daran, daß sich an der Nordseite des Brandenburger Tores die Keimzelle der Industriemetropole Berlin befand.
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Quellen:
1     W. Rachel/P. Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, 2. Bd.: Die Zeit des Merkantilismus (1648–1806), Berlin 1938, S. 276
2     W. Rachel: Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, Berlinische Bücher, 3., Berlin 1938, S. 138
3     H. Krüger: Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Schriftenreihe des Instituts für allgemeine Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, 3., Berlin 1958, S. 46
4     Ebenda, S. 47
5     G. Wittling: Der Technologietransfer während des Anlaufs der Industriellen Revolution in Preußen, wirtschaftswissenschaftliche Diss., Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1992, S. 59 f.
6     H. Krüger, a. a. O., S. 46
7     K. H. Kaufhold: Das Gewerbe in Preußen, Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Göttingen 1978, S. 100 f.
8     Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, (künftig: GStAPK), Bestand: General-Directorium: Fabriken-Departement, (künftig: Best.: Gen.-Dir.: Fabr.-Dep.) Titel: CCCVIII, No. 205, Vol. 1, Bl. 19 und Bl. 179
9     Ebenda, Bl. 88 und Bl. 179
10     Ebenda, No. 118
11     Ebenda, Bl. 63
12     A. Bohnsack: Spinnen und Weben. Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 23
13     Ebenda
14     J. W. A. Kosmann (Hrsg.): Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Preußischen Staaten, 1. Band, Berlin 1801, S. 573
15     Ebenda
16     GStAPK, Best.: Gen.-Dir.: Fabr.-Dep., Titel: CCLVIII, Nr. 188 a, Bl. 2
17     Ebenda, Vol. 3, Bl. 52
18     Ebenda, Bl. 64
19     Ebenda, Vol. 2, Bl. 29
20     Ebenda, Bl. 33
21     GStAPK, Best.: Gen.-Dir.: Fabr.-Dep., Titel: CCCVIII, No. 205, Vol. 2, Bl. 33
22     Ebenda, Bl. 186
23     Ebenda, Best.: Pr.Br., Rep. 2 A, Nor. 440 (Commissions Akten)
24     A. Bohnsack, a. a. O., S. 24
25     K. Borchardt: Die Industrielle Revolution in Deutschland 1750–1914, in »Europäische Wirtschaftsgeschichte. The Fontana Economic History of Europe« in 4 Bänden, hrsg. von Carlo Cipolla, Deutsche Ausgabe, hrsg. von K. Borchardt, Bd. 4: Die Entwicklung der Industriellen Gesellschaften, Stuttgart/New York 1977, S. 135
26     GStAPK, Best.: Gen.-Dir.: Fabr.-Dep., Titel: CCLVIII, No. 152, Vol. 2, Bl. 151
27     Ebenda, Bl. 159
28     C. Matschoss: Die Entwicklung der Dampfmaschine. Eine Geschichte der ortsfesten Dampfmaschinen und Lokomobile, der Schiffsmaschine und Lokomotive, Bd. 1, Leipzig 1908, S. 163
29     J. W. A. Kosmann, a. a. O., S. 573
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