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Kurt Wernicke
»Barackia«

Obdachlosigkeit in Berlin

Schon vor seiner Mutation zur Kaiser- und Reichshauptstadt hatte Berlin als eine von vier deutschen Vorreiterregionen der Industriellen Revolution ein rasantes Bevölkerungswachstum erlebt: Innerhalb gleicher Stadtgrenzen war seine Bevölkerung von 1861 bis 1870 von 613 000 auf 824 000 angestiegen. Diese Einwohnerexplosion führte für viele Berliner zu teilweise unerträglichen Wohnverhältnissen. Als nun gar durch den Krieg 1870/71 für fast ein Jahr der Wohnungsbau praktisch auf Null sank, die Zuwanderung aber noch zunahm, wurde die Wohnungslage geradezu katastrophal. Im Sommer 1871 wurden die behördlichen Holzplätze für wohnungslose Familien zur provisorischen Bleibe freigegeben! Um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, drängten sich die Wohnungsuchenden in schon bewohnten Wohnungen noch weiter zusammen, so daß manchmal einzelne Stuben von drei Familien belegt waren. Erstmals lernte Berlin das Verwandeln eines Küchenraums zur »Wohnküche« kennen. Auch ein anderes seither Berlintypisches Spezifikum nahm jetzt seinen Anfang: die Wohnlaube! Den ein halbes Jahrhundert

später in Berlin zehntausendfach geübten Ausweg, bei Unvermögen zur Bezahlung einer Mietwohnung das Dach über dem Kopf durch Aufbau und Bezug einer Laube zu finden, lernte die Stadt an ersten Beispielen im Sommer 1871 kennen. Die Volkszählung am Jahresende nannte über 400 Menschen, die in den »Baracken« auf dem Tempelhofer Feld lebten – ursprünglich Holzhäuser für kranke französische Kriegsgefangene. Im Frühjahr und Sommer 1872 entstanden ganze Siedlungen dieser Art, am sichtbarsten vor dem Stralauer Tor in Form eines kieloben aufgelandeten Lastkahns, den sich etliche Familien als Unterkunft teilten. Flächendeckender war die Situation vor dem einstigen Kottbuser Tor auf der Schlächterwiese und vor dem ehemaligen Landsberger Tor hinter dem Friedrichshain. In diesen Siedlungen herrschte eine gewisse selbstverwaltende Ordnung, sie wurden von der gutbürgerlichen Presse sogar mit einem Hauch von exotischer Gemütlichkeit vermarktet. »Die Leute (so zitiert das Magistrats-Jahrbuch »Berlin und seine Entwicklung« in seinem Jahrgang 1872 auf Seite 249 eine Berliner journalistische Quelle) sind zufrieden, erfreuen sich ihrer selbsterbauten Heimat, haben sie vielfach mit Gärtchen geschmückt, Flaggen mit den Reichsfarben und dem Reichsadler wehen lustig auf einigen Hütten...« Aber die ungeschminkten Gründe für solcherart Exotik wurden den bildungsbürgerlichen Lesern nur selten
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frank und frei mitgeteilt – so z. B., wenn ein Tuchmacher befragt wurde, der vorher in der Adalbertstraße gewohnt hatte und nun ohne Umschweife erklärte, daß er für das bisher bewohnte Kellerloch mit einer kleinen Küche künftig 90 Taler Jahresmiete zahlen solle, was er einfach nicht könne – »... und drunter gibt es nichts«, zitiert ihn »Die Gartenlaube« (Jg. 1872, S. 460).
     So frei, wie es die idyllisierende Presse darstellte, war man in den Barackensiedlungen – von den allzeit spottsüchtigen Berlinern »Barackia« benannt – allerdings keineswegs: Man unterlag auch hier der preußischen Bürokratie. Das preußische Baurecht verlangte grundsätzlich vor der Anlage eines Bauwerks, selbst eines bloßen Pavillons, einen Bauantrag mit beigefügter Zeichnung – erst wenn die amtliche Zustimmung zum Antrag vorlag, war Baubeginn möglich – zumindest in der Theorie. Bauakten geben auch heute noch penibel darüber Auskunft, daß es betuchten Bauherren schon hin und wieder einmal gelang, den Baubehörden auch im Nachhinein die Baugenehmigung für ein bereits ausgeführtes Gebäude abzuluchsen (der hundert Jahre später erfundene Begriff »Schwarzbau« war damals allerdings noch nicht bekannt). Wer aber weniger oder garnicht betucht war – wer also durch seine bauliche Ansiedlung der betreffenden Gemeinde keinen beachtlichen Zuwachs an Kommunalsteuern einbrachte – bekam es mit Gewißheit mit preu-
ßischer Beamten-Genauigkeit zu tun. Die schliff sich allerdings im natürlichen Prozeß der täglichen Routine über die Jahrzehnte auch ab. Nur – die Obdachlosensiedlungen vom Sommer 1872 hatten das Pech, daß sie auf eine ausgesprochen brandneue Bauordnung trafen: Erst am 26. Januar 1872 war die neue Baupolizeiordnung für die Städte des Regierungsbezirkes Potsdam (zu dem Berlin gehörte) erlassen worden; sie ersetzte die vom Juli 1868, die durch die im Deutschen Reich 1871 erfolgte Umstellung auf das metrische System untauglich geworden war, da sie mit preußischen Zoll und Berliner Fuß gerechnet hatte. Da neue Besen schon immer gut kehrten, waren die Augen der Baupolizei wenige Monate nach Erlaß der neuen Vorschriften natürlich hellwach, und sie bemerkten schon bei oberflächlichem Hinsehen, daß für keine der Notbehausungen je ein Bauantrag gestellt worden war. Das fand seinen Grund offensichtlich darin, daß die Erbauer in ihren Wohnbuden nur zeitlich begrenzte Zwischenlösungen gesehen hatten. Mit dem üblichen Quartalswechsel zur Winterwohnung Anfang Oktober glaubten die »Barackia«-Bewohner ohne Zweifel an eine Besserung der Wohnungslage, weil Saisonarbeitskräfte, wie etwa die im Sommer in Berlin beschäftigten Bauhandwerker, traditionell für den Winter Berlin wieder verließen. Der vor allen Augen offenliegende Verstoß gegen das Baurecht mobilisierte also sehr schnell die Sensibilität der Baupolizei –
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die sich so verhielt, wie es Obrigkeiten immanent zu sein scheint: Alle neu auftauchenden Phänomene werden der Einfachheit halber erst einmal kriminalisiert ...
     Frei war man in »Barackia« allerdings von dem gefürchteten Wohnungsfeudalismus – der Willkür der Vermieter gegenüber den um ihre Wohngelegenheit zitternden Mietern – und das zählte nicht wenig. Die Presse war voll von Beispielen, wie Hauswirte, den steilen Höhenflug der Mieten im Auge, alle möglichen Vorwände suchten, um bestehende Mietverträge aufzukündigen. Die dreitägigen flächendeckenden Krawalle um den Strausberger Platz herum, die Ende Juli 1872 Aufsehen erregten (der sogenannte Blumenstraßen-Krawall), waren entstanden bei gewalttätigen Protesten gegen ein besonders krasses Beispiel von Vermieterwillkür. Sie brachten es immerhin mit sich, daß am 8. August die Stadtverordneten die Wohnungsnot auf der Tagesordnung hatten. Oberbürgermeister Hobrecht mußte jedoch eine Bankrotterklärung abgeben im Hinblick auf amtliche städtische Möglichkeiten, aktiv zur Behebung der Wohnungsnot beizutragen. Die Kommunalbehörden könnten bestenfalls den Investoren Hindernisse aus dem Weg räumen, die sie u. U. vom Bau von Wohnhäusern abschrecken würden, z. B. durch Erschließung besserer Wege oder Begradigung von Straßenzügen. Zweieinhalb Wochen nach dieser Stadtverordnetensitzung wurde der Oberbürgermeister
dann auch nachhaltig belehrt, wer in der Kaiserstadt Berlin das Sagen habe: Noch am 31. Juli hatte er eine Delegation von Barackenbewohnern unter Leitung des Klempners Schulze empfangen, die wegen ihrer drohenden Vertreibung bei ihm vorgesprochen hatte. Er sagte ihnen zu, daß der Magistrat das weitere Wohnen in den Baracken gestatten werde. Wenigstens so lange, bis die Stadt Berlin Holzhäuser errichtet habe als Unterkunft bis zu jenem Zeitpunkt, da die vielen neugegründeten Baugesellschaften der Wohnungsnot ein Ende gesetzt haben werden. Als aber am 12. August mit der Ernennung von Guido von Madai zum Polizeipräsidenten das seit Anfang Juli herrschende Interim an der Spitze des Berliner Polizeipräsidiums sein Ende gefunden hatte, drohte der baldige Abriß der entgegen dem Baurecht errichteten Bretterbuden. Mit einer Petition versuchten die Barackenbewohner am Friedrichshain, den Befehl zum Verlassen ihrer Behausungen bis zum 26. August noch einmal unwirksam zu machen. Der Schuhmachermeister Albert Haack aus der Baracke »2. Reihe, 1. Bude« richtete sein Ersuchen an den Kaiser persönlich und bat im Namen von 42 »ehrlichen strebsamen Männern und Frauen und 59 Kindern«, die am 26. August ihre Domizile aufgeben sollten, ohne angemessene neue gefunden zu haben, daß er doch telegraphisch anweisen möge, die zwangsweise Räumung der Baracken wenigstens bis Okto-
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   104   Geschichte und Geschichten »Barackia«  Vorige SeiteNächste Seite
ber zu verschieben. Wenn die Bitte je vor die kaiserlichen Augen kam, so blieb sie doch ungehört. Eine Delegation weiblicher Barackenbewohner, die am 22. August bei Hobrecht vorsprach, erhielt ebenso eine abschlägige Antwort wie eine männliche Delegation bei dem Allgewaltigen des Polizeipräsidiums. Ein polizeilicher Rückblick auf das Jahr 1872 konstatierte nüchtern, daß man sich Mühe gegeben habe, die Ansiedlungen zu beseitigen. »Als ihre Insassen nicht gutwillig gingen, wurde mit Zerstörung gedroht und diese auch ausgeführt. Am 27. August wurden 21 Baracken vor dem Landsberger Tor, in Friedrichshain gelegen, durch die Feuerwehr abgebrochen. Die Möbel der Barackenbewohner, wie die Bestandteile der Baracken selbst, wurden nach dem Friedrich-Wilhelms-Hospital für erwerbsunfähige Arme in der Großen Frankfurter Str. 17 geschafft und den Insassen das Arbeitshaus als vorläufiges Obdach angewiesen, so groß auch der Widerwille gegen dasselbe bei Einzelnen war.« (Berliner Städtisches Jahrbuch, Jg. 1874, S. 231) Seelenloser konnte sich die Arroganz der Macht kaum

Der Feuerwehr wurde die Vertreibung der Obdachlosen aus »Barackia« überlassen.

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zeigen: Es wurde nicht einmal eine Erklärung für nötig gehalten, warum eigentlich die Baracken zu verschwinden hätten. Schamhaft verschwieg diese polizeiliche Passage, daß man – wie zeitgenössische Printmedien berichten – die Vertreibung der Feuerwehr überlassen hatte, aber zu deren Absicherung bei der Durchführung des traurigen Werkes 200 Polizisten aufmarschieren ließ. Ebenso setzte sich die polizeiliche Siegesmeldung arrogant über den Horror der Obdachlosen vor der Nachbarschaft mit Vagabunden und Asozialen im Arbeitshaus am Alexanderplatz (dem »Ochsenkopf«) hinweg, die allgemein als Synonym für den Tiefpunkt sozialen Abstiegs galten. Obdachlos gewordene Barackenbewohner kampierten demonstrativ auf dem Alexanderplatz, eine Vorsprache beim Minister des Innern wurde ihnen verweigert. Schließlich fand sich der Fabrikant Paul Köppen bereit, den vor dem Arbeitshaus zurückschaudernden 19 Familien eine Scheune auf dem Grundstück Landsberger Chaussee 1–2 zu öffnen; dort hatten sie zwar ein Dach über dem Kopf, mußten aber auf dünnen Strohschütten kampieren, da die Ordnungsmacht ihnen ihre im Zuge des Abrisses amtlich in das Friedrich-Wilhelms-Hospital eingelieferten Habseligkeiten – darunter ihre Betten! – nicht herausgab. Begründung: Sie erfüllten mit dem Unterschlupf in der Scheune nicht den Tatbestand eines wirklichen Obdachs! Man wollte die obdachlos Gemachten also auf alle Fälle in das Arbeitshaus zwingen. Dazu war der Polizeibehörde nicht einmal die Verweigerung der Herausgabe des »sichergestellten« Handwerkszeugs der Männer zu schade. Dieser Umstand machte sie praktisch ein weiteres Mal arbeitslos, denn zu jener Zeit war es durchgängig üblich, daß Handwerker ihre eigenen Arbeitsinstrumente zum Arbeitsplatz mitzubringen hatten. Alles in allem: ein schönes Beispiel machtpolitischer Arroganz gegenüber ungeliebten Zuständen, an denen man selbst keineswegs ohne Schuld war!

Weitere Quellen:
–     »Nationalzeitung« und »Spenersche Zeitung«, Juli/August 1872
–     Häuserkämpfe 1872, 1920, 1945, 1982, Berlin 1982
–     Der Wortlaut der Petition des Schuhmachermeisters Albert Haack ist publiziert bei: J. F. Geist/ K. Kürvers, Das Berliner Mietshaus, Teil 2, (1862–1945), München 1984, S. 119

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