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geistigen Lebens bedeutsame Zeichen setzte und enorme Wirkungen bis in unsere Zeit erzielte. Sigmund Freud (1856–1939) entwickelte die Psychoanalyse, Alfred Adler (1870–1937), einer seiner Schüler, formte daraus seine Individualpsychologie, Ludwig Boltzmann (1844–1906), Ernst Mach (1838–1916) und andere Philosophen begründeten ihre Theorien, Schriftsteller und Dichter wie Karl Kraus (1874–1936), Stefan Zweig (1881–1942) oder Georg Trakl (1887–1914) meldeten sich zu Wort, in der Arbeiterbewegung formierten sich austromarxistische Positionen, wie sie von Max Adler (1873–1937) und Otto Bauer (1882–1938) vorgetragen wurden. Und diese Reihe könnte man beliebig fortsetzen.
     In diesem Klima wuchs der am 10. August 1877 in Wien geborene Rudolf Hilferding auf. Er studierte an der Wiener Universität Medizin, promovierte 1901 und praktizierte einige Jahre als Kinderarzt. Schon früh interessierte er sich für das sozialistische Ideengut. Zu seinen Lehrern gehörte Carl Grünberg (1861–1940), der seit 1899 als a. o. Professor für politische Ökonomie an der Universität Wien lehrte und der zur Gründergeneration der »Frankfurter Schule« zählt. Der sozialtheoretisch interessierte junge Mediziner Hilferding war mit dem Führer der österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler (1852–1918) wie auch mit Otto Bauer bekannt. Seit 1902 schrieb er für die theoretische Zeitschrift der deut-
Eberhard Fromm
Vom Kinderarzt zum Reichsfinanzminister

Rudolf Hilferding

Als Theoretiker geachtet, als Parteiführer umstritten, als Reichsminister erfolglos – so könnte man das Fazit eines Lebens ziehen, das bunt und widersprüchlich, kämpferisch und tragisch verlief und in dem sich überdeutlich die wechselvolle deutsche Geschichte der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts widerspiegelt. Ein Österreicher, der wegen seiner Überzeugungen nach Deutschland kam, hier eine politische Karriere machte und dann wegen seiner Überzeugungen und seiner jüdischen Herkunft – von einem anderen Österreicher – in den Tod getrieben wurde: Das ist der Lebensweg des marxistischen Theoretikers und sozialistischen Politikers Rudolf Hilferding.

Ein Leben zwischen den Fronten

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts formierte sich in der k. u .k. Monarchie Österreich- Ungarn eine intellektuelle Garde, die auf den verschiedensten Gebieten des

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schen Sozialdemokratie »Neue Zeit« und wirkte von 1904 an als Mitherausgeber der in Wien erscheinenden »Marx-Studien«.
     1906 entschloß er sich, nach Berlin überzusiedeln, wo er anfänglich als Lehrer für Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Parteischule der SPD lehrte, bevor er Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung »Vorwärts« wurde. In diesen Jahren entstand im Ergebnis seiner Studien eine Arbeit, die ihn weithin bekannt werden ließ: »Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus«. Das Buch erschien 1910, war aber nach Aussagen des Autors bereits vier Jahre früher im wesentlichen fertig.
     Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges stand Hilferding auf der Seite jener Sozialdemokraten, die sich gegen die Bewilligung der Kriegskredite aussprachen. 1915 wurde er als Feldarzt der österreich- ungarischen Armee einberufen und leitete bis Kriegsende ein Seuchenlazarett an der italienischen Front. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem Kurs der sozialdemokratischen Spitze führte ihn in die Reihen der USPD, wo er neben Hugo Haase (1863–1919), Arthur Crispien (1875–1946) und Georg Ledebour (1850–1947) tätig wurde. Wesentlichen Einfluß gewann er sowohl durch seine Funktion als Chefredakteur der Zeitung der USPD »Die Freiheit« – vom November 1918 bis zum März 1922 – als auch durch sein Auftreten auf den verschiedenen
Beratungen der USPD. Aktiv beteiligte er sich an den beiden Berliner Reichskonferenzen der USPD vom September 1919 bzw. 1920 wie auch an den Parteitagen in Leipzig und Halle von 1919, 1920 und 1922.
     Charakteristisch für Hilferding war in dieser Zeit sein Bemühen, die sozialistischen Ziele nicht durch Parteihader verkommen zu lassen. In den Auseinandersetzungen um eine neue Internationale der revolutionären Arbeiterbewegung, für die sich die USPD auf Beratungen in Genf und Luzern eingesetzt hatte, stellte die Gründung der Kommunistischen III. Internationale in Moskau eine komplizierte Herausforderung dar. Hilferdings Position war eindeutig. Er wandte sich gegen jede Verurteilung der russischen Bolschewiki, betrachtete die russische Revolution als ein großes historisches Ereignis und stellte auf dem Leipziger Parteitag der USPD 1919 fest: »Gegenüber dem kapitalistischen Europa hat das russische Proletariat unsere vollste Sympathie und unsere vollste Solidarität.« Zugleich wandte er sich gegen den in Moskau proklamierten Terrorismus als für ihn unannehmbar, hatte er sich doch bereits in einer der ersten Nummern der »Freiheit« unmißverständlich für eine unumkehrbare Verankerung der Demokratie ausgesprochen. »Die Stellung der Bolschewiki ist tatsächlich nicht geleitet von internationalen Gesichtspunkten«, erklärte er in Leipzig im Streit um eine neue Internationale, »sondern von
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ihren eigenen Bedürfnissen und von den Notwendigkeiten ihres eigenen Kampfes ohne Rücksicht auf die Internationale.« (Vgl. die Protokolle der Parteitage der USPD, Bd. 2 1919–1920, Glashütten 1976, S. 312, 321)
     Es war nicht verwunderlich, daß Hilferding von allen Seiten attackiert wurde. Schon frühzeitig kamen kritische Angriffe von Eduard Bernstein (1850–1932), aber auch von Rosa Luxemburg (1871–1919). Nun denunzierten ihn die Kommunisten als Verräter und nutzten den Begriff der »Hilferdinge« zur Charakteristik aller Gegner der III. Internationale. Auf dem Parteitag in Halle 1920 kam es um diese Fragen zu einem großen Rededuell zwischen dem russischen Vertreter der III. Internationale G. J. Sinowjew (1883–1936) und Rudolf Hilferding. Hilferding forderte erneut in einer neuen Internationale eine kameradschaftliche, vertrauensvolle Zusammenfassung aller Kräfte der Arbeiterklasse in allen Ländern und keine Unterordnung unter die Interessen eines Landes oder einer Partei. Zugleich warnte er vor einer Abspaltung von der westeuropäischen Arbeiterbewegung.
     Nach der Spaltung der USPD schloß sich Hilferding 1922 erneut der SPD an. 1924 erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit. Im gleichen Jahr wurde er zum Mitglied des Deutschen Reichstages gewählt, ein Mandat, das er bis 1933 innehatte. 1924 zog er auch in den Parteivorstand der SPD ein. Er gab die Zeitschrift »Die Gesellschaft« heraus und
engagierte sich in gesellschaftstheoretischen Fragen. Durch seine Mitgliedschaft in der Sozialisierungskommission, die nach der Novemberrevolution 1918 ihre Arbeit aufgenommen hatte, war er auf Probleme einer Wirtschaftsdemokratie gestoßen. In zwei Regierungen der Weimarer Republik wirkte er als Reichsfinanzminister. Im Kabinett von Gustav Stresemann (1878–1929) wurde unter seiner Regie die Einführung der Rentenmark beschlossen. In der kurzen Amtszeit zwischen August und Oktober 1923 konnte jedoch deren praktische Durchsetzung nicht verwirklicht werden. Im Kabinett von Hermann Müller (1876–1931) war er vom Juni 1928 bis zum Dezember 1929 tätig, bevor er aus Protest gegen die Einmischung des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht (1877–1970) in seine Befugnisse zurücktrat. Für einen theoretisch so versierten Mann wie Hilferding mußte seine Ministertätigkeit als wesentlich erfolglos erscheinen, wurden unter seiner Leitung doch keine der vielen anstehenden komplizierten Finanzprobleme gelöst.
     1933 emigrierte Hilferding zuerst nach Zürich, wo er – zumeist unter dem Pseudonym Richard Kern – für den »Neuen Vorwärts« an die 300 Artikel verfaßte. Auch gab er die »Zeitschrift für Sozialismus« heraus. 1934 war er entscheidend an der Erarbeitung des Prager Manifests des Auslandsvorstands der SPD beteiligt. Unter dem Titel »Kampf und Ziel des revolutionären Sozialis-
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mus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« wurden die Taktik des antifaschistischen Kampfes und die politischen wie sozialen Maßnahmen für die Zeit nach der Zerschlagung der Hitler-Diktatur bestimmt.
     Seit 1938 lebte Hilferding in Arles in Frankreich, wo er an einem Manuskript zum Thema »Das historische Problem« arbeitete. Am 11. Februar 1941 wurde er gemeinsam mit Rudolf Breitscheid (1874–1944) von der französischen Polizei an die deutschen Behörden übergeben. Im Pariser Gefängnis Santé kam er im Februar 1941 unter ungeklärten Umständen – man spricht von Freitod oder der Ermordung durch die Gestapo – ums Leben.

Zwischen Imperialismusanalyse und »organisiertem Kapitalismus«

Karl Kautsky (1854–1938), der führende theoretische Kopf der deutschen Sozialdemokratie nach dem Tode von Friedrich Engels (1820–1895), nannte Hilferdings bedeutendste theoretische Arbeit »Das Finanzkapital« eine Erweiterung des zweiten und dritten Bandes des »Kapital« von Karl Marx (1818–1883). Damit würdigte er die Bedeutung dieser Untersuchung für die Theorie und Praxis der sozialdemokratischen Bewegung. Tatsächlich analysierte Hilferding neue Erscheinungen und Prozesse der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie

am Ausgang des 19. Jahrhunderts sichtbar geworden waren. Er untersuchte Geld und Kredit unter den neuen Bedingungen, das Wesen der Aktiengesellschaften, die Beziehungen von Bank- und Industriekapital, die Rolle der Börse sowie die sich abzeichnenden Krisen. Für ihn bestand das Wesentliche des modernen Kapitalismus in den Konzentrations- Vorgängen, wie sie durch die Bildung von Trusts und Kartellen sowie durch immer engere Beziehungen von Bank- und industriellem Kapital deutlich wurden. Er wandte sich der Unterscheidung von Zirkulationskredit und Kapitalkredit zu, stieß auf die ökonomische Kategorie des Gründergewinns, verfolgte die weitgehende Einschränkung der freien Konkurrenz und das Anwachsen der Monopole und zog Schlußfolgerungen über die Wirtschaftspolitik des Finanzkapitals. Aus den Untersuchungen zum Kapitalexport und seiner wachsenden Bedeutung gegenüber dem Warenexport schloß er auf künftige Konflikte zwischen den verschiedenen Staaten und warnte lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einer Situation, »die den Gegensatz zwischen Deutschland und England mit ihren Trabanten außerordentlich verschärfen muß, einer Situation, die zu einer gewaltsamen Lösung hindrängt«. (Das Finanzkapital, Berlin 1947, S. 498)
     Was die letzte Konsequenz der imperialistischen Entwicklung sei, formulierte Hilferding in den Schlußsätzen seiner Analyse in
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klassischer marxistischer Denkweise: »Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machtvollkommenheit in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten. Zugleich macht es die Diktatur der nationalen Kapitalbeherrscher des einen Landes immer unverträglicher mit den kapitalistischen Interessen des anderen Landes und die Herrschaft des Kapitals innerhalb des Landes immer unvereinbarer mit den Interessen der durch das Finanzkapital ausgebeuteten, aber auch zum Kampf aufgerufenen Volksmassen. In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.« (ebenda, S. 561/562)
     Unter dem Eindruck der Entwicklung in Westeuropa und den USA nach dem Ersten Weltkrieg, aber auch angesichts eines »Sozialismus der Despotie« in der Sowjetunion, erklärte Hilferding Mitte der zwanziger Jahre, daß man von der alten Anschauung des Staatssozialismus abrücken müsse. Zugleich hielt er einen Übergang zu einem »organisierten Kapitalismus« für möglich. Bereits 1915 hatte er das Problem angesprochen, als er in dem Artikel »Arbeitsgemeinschaft der Klassen?« schrieb: »An Stelle des Sieges des Sozialismus erscheint eine Gesellschaft zwar organisierter, aber herrschaftlich, nicht demokratisch organisierter Wirtschaft möglich, an deren Spit-
ze die vereinigten Mächte der kapitalistischen Monopole und des Staates stünden, unter denen die arbeitenden Massen in hierarchischer Gliederung als Beamte der Produktion tätig wären. An Stelle der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch den Sozialismus träte die den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Massen besser als bisher angepaßte Gesellschaft eines organisierten Kapitalismus.« 1927 auf dem Kieler Parteitag der SPD wurde dann aus dieser theoretisch überlegten Möglichkeit die Feststellung, daß ein organisierter Kapitalismus der Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip einer planmäßigen Produktion darstelle. So führt ihn letztlich seine Imperialismusanalyse nicht zu einer Konzeption vom Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft, sondern zur Ansicht von ihrem möglichen Wandel, die es zu nutzen gelte.
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Denkanstöße:

Das Kapital wird zum Eroberer der Welt, und mit jedem neuen Lande erobert es die neue Grenze, die es zu überschreiten gilt. Dieses Streben wird zur ökonomischen Notwendigkeit, da jedes Zurückbleiben den Profit des Finanzkapitals senkt, seine Konkurrenzfähigkeit verringert und schließlich das kleinere Wirtschaftsgebiet zum Tributpflichtigen des größeren machen kann. Ökonomisch begründet, wird es ideologisch gerechtfertigt durch jene merkwürdige Umbiegung des nationalen Gedankens, der nicht mehr das Recht jeder Nation auf politische Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anerkennt und der nicht mehr Ausdruck ist des demokratischen Glaubenssatzes von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, auf nationalem Maßstab. Vielmehr spiegelt sich die ökonomische Bevorzugung des Monopols wider in der bevorzugten Stellung, die der eigenen Nation zukommen muß. Diese erscheint auserwählt vor allen anderen. Da die Unterwerfung fremder Nationen mit Gewalt, also auf sehr natürlichem Wege vor sich geht, scheint die herrschende Nation diese Herrschaft ihren besonderen natürlichen Eigenschaften zu verdanken, also ihren Rasseneigenschaften. In der Rassenideologie ersteht so eine naturwissenschaftlich verkleidete Begründung des Machtstrebens des Finanzkapitals, das so die naturwissen-

schaftliche Bedingtheit und Notwendigkeit seiner Handlungen nachweist. An Stelle des demokratischen Gleichheitsideals ist ein oligarchisches Herrschaftsideal getreten.
     (Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, 1910, Ausgabe 1947, S. 504)

Die tiefste Fähigkeit Haases war die Gabe der Selbstentäußerung. Die Charakteranlage, die den Menschen zum wahrhaft guten Handeln befähigt, nennt Schopenhauer die Agapé, das Mitleid. Es ist jene Gabe, die den Menschen fremdes Leid als eigenes empfinden läßt, die bewirkt, daß die Kluft zwischen dem Ich und Du überbrückt wird.
     Die Agapé war der Grundcharakter Haases. Für ihn gab es daher nicht die Schranke des Engpersönlichen, egoistischen Wirkens. Dieser Mann konnte nur Befriedigung finden in dem Schaffen für die Allgemeinheit, in der sozialen Arbeit, in der Hilfe für alle Leidenden ...
     Und als der Krieg kam, als die Kultur zusammenstürzte, die Humanität ein Fremdwort wurde, da erhob sich Haase zur Größe des Sprechers der beleidigten, erniedrigten Menschheit, zur historischen Größe. Der Kampf gegen den Krieg, das Morden, die Lüge, war ihm nicht nur Sache des Verstandes, es war ihm Sache des Herzens. Litt er doch alle Leiden als eigene, und nie war seine Leidenschaft größer, nie seine Anklage

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heißer, nie die Verteidigung der Menschheit glühender ...
     In den schwierigen Zeiten hat dann Haase ... die Partei zusammengehalten, vom Abgrund des Putschismus wie vom Graben des Opportunismus zurückgehalten, sicher geleitet von der marxistischen Einsicht in die historisch- ökonomische Bedingheit aller und gerade der revolutionären Politik.
     (Zum Tode von Hugo Haase am 6. November 1919. In: Die Freiheit, November 1919)

Wir haben heute alle das Gefühl, daß auch der Privatbetrieb, die Wirtschaftsführung des einzelnen Unternehmers, aufgehört hat, Privatsache dieses Unternehmers zu sein. Die Gesellschaft hat verstanden, daß es ihr Interesse ist, wenn die Produktivität in jedem einzelnen Betriebe gesteigert wird, wenn also der betreffende Wirtschaftsführer auch wirklich seine technische und organisatorische, produktionssteigernde Pflicht als Unternehmer erfüllt ...
     Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. Diese planmäßige, mit Bewußtsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nichts anderes als der Einwirkung durch die einzige bewußte und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation

der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat.
     Wenn das so ist, dann treten sich klar gegenüber auf der einen Seite die kapitalistische Organisation der Wirtschaft, auf der anderen Seite die Staatsorganisation, und das Problem ist, wie wir ihre gegenseitige Durchdringung gestalten wollen. Das heißt nichts anderes, als daß unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates ... diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln.
     (Rede auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927. In: Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel, Berlin 1927, S. 168/169)
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