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Bernhard Meyer
Hoffnung der Diabetiker, Opfer der Tuberkulose

Der Arzt Paul Langerhans (1847–1888)

Fünf Tage vor seinem 41. Geburtstag starb er. Aus seiner Familie gingen namhafte Ärzte und Kommunalpolitiker in Berlin hervor. Sein Leben war mit unterschiedlichen Inseln verknüpft. Die letzten 15 Jahre verbrachte er aus gesundheitlichen Gründen auf einer Insel im Atlantischen Ozean. Er entdeckte »Inseln« in der Bauchspeicheldrüse und ging damit in die Medizingeschichte ein. Grund genug, um an Paul Langerhans jun. anläßlich seines 150. Geburtstages am 27. Juli 1997 zu erinnern. Die große Entdeckung seines Lebens gelang ihm bereits als Medizinstudent in seiner Dissertation von 1869. Der 22jährige angehende Arzt war Doktorand bei Rudolf Virchow (1821–1902), der ihm das Thema »Beiträge zur mikroskopischen Anatomie der Bauchspeicheldrüse« (Pankreas) überließ. So untersuchte Langerhans die Drüse, beschrieb in einer 32seitigen Schrift neun unterschiedliche Zellgruppen, von denen zwei bis dahin unbekannt waren. Diese nur 100 bis 200 Mi-


Paul Langerhans in Funchal, 1878
kromillimeter großen inselartigen Gebilde erwiesen sich als lebenswichtige Hormonproduzenten des Menschen. Das allerdings wurde erst später aufgeklärt, denn die Untersuchung der Funktion gehörte nicht zum Thema des Doktoranden. Es vergingen noch 24 Jahre, bis 1893 der Franzose Gustave- Edouard Laguesse (1816–1927) Theorien über die von ihm vermutete Sekretion der Zellgruppen veröffentlichte. Laguesse gab
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1893 (fünf Jahre nach dem Tod von Langerhans) den Zellgruppen den heute in der medizinischen Welt noch gebräuchlichen Namen – »Ilots de Langerhans« (Langerhanssche Inseln). 1900 erkannte L. W. Sobolew (1876–1919) die »Inseln« als Produktionsstätten blutzuckersenkender Substanzen. Noch weitere zwei Jahrzehnte sollte es dauern, bis 1921 die Isolierung des Insulins durch den kanadischen Biochemiker Frederick Grant Banting (1891–1941, Nobelpreis 1923) und seinen Schüler Charles Herbert Best (1899–1978) gelang, während die Reindarstellung 1926 durch den US-Amerikaner John Jacob Abel (1857–1938) erfolgte. Schließlich die Synthese des Insulins 1963. Die Industrieproduktion von Insulin für Diabetiker begann 1923.
     Am Anfang dieses fast ein Jahrhundert währenden Prozesses zur Aufklärung der Funktion des Insulins stand also Paul Langerhans. Heute gehört es zum Allgemeinwissen, daß das Inselhormon entscheidenden Einfluß auf den regulären Stoffwechsel, auf das Absinken oder Steigen des Blutzuckerspiegels ausübt. Da es als einziges Hormon des Menschen die Speicherung von Zucker im Organismus bewirkt, führt sein Mangel zum Diabetes mellitus. Virchow war von der Arbeit seines Doktoranden beeindruckt, kam aber seltsamerweise niemals in seinem Schrifttum oder auch auf Tagungen auf die Bauchspeicheldrüse und in diesem Zusammenhang auf Langerhans zu sprechen. Auch
anläßlich des Todes von Langerhans verfaßte Virchow entgegen sonstigen Gepflogenheiten keinen Nachruf. Das verwundert, denn er stand im engem politischen und menschlichen Kontakt zu dessen Vater, dem Arzt und Stadtverordneten von Berlin, Paul Langerhans sen. (1820–1909). Beide gehörten 1861 zu den Gründungsvätern der Liberalen Deutschen Fortschrittspartei, für die sie als Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung, im Preußischen Landtag und im Reichstag gemeinsam die politische Klinge der Alt-48er fochten. Außerdem war Virchow immerhin der Nenn-Onkel von Paul jun., der aus der Inselferne familiär gefärbte Briefe an Virchow und dessen Frau Rose schrieb, die für ihn immer Tante Röschen war. Tatsache bleibt, daß Langerhans mit seiner Entdeckung die moderne Diabetesforschung einleitete.
     Paul Wilhelm Heinrich Langerhans wurde am 27. Juli 1847 in der Köpenicker Straße 111 geboren. Ab 1858 besuchte er das Gymnasium »Zum Grauen Kloster«, das seinerzeit unter dem Direktorat von Dr. Johann Friedrich Bellermann (1795–1874) stand. Es drängte ihn entsprechend familiärer Tradition zur Medizin, und so begann er 1865 in Jena das Studium just in dem Augenblick, als Ernst Haeckel (1834–1919) dort das Ordinariat für Zoologie übernahm. Nach vier Semestern wechselte Langerhans 1867 nach Berlin und geriet in den Bann solcher Ordinarien wie Emil du Bois-Reymond
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(1818–1896), Rudolf Virchow, Ludwig Traube (1818–1876), Bernhard von Langenbeck (1810–1887) und Karl von Bardeleben (1849–1918). Als stud. med. verfaßte er 1868 im Pathologischen Institut unter dem Titel »Über die Nerven der menschlichen Haut« seine erste wissenschaftliche Arbeit, in der er bisher unbekannte Zellen in der Haut beschrieb. Sie erhielten den Namen »Langerhans- Zellen« (LZ) und gaben der Dermatologie wegen der ungeklärten Bedeutung und Funktion über ein Jahrhundert Rätsel auf. Erst 1973 wurden sie als »wichtigster Außenposten« des menschlichen Immunsystems erkannt, was nicht zuletzt seinen Niederschlag in einer wahren Flut wissenschaftlicher Untersuchungen und Publikationen fand.
     Das Studium schloß Langerhans 1869 mit »cum laude« ab, wobei Virchow ihm für Pathologie nur ein »rite« zubilligte. Auf einer Orientreise erreichte ihn die Nachricht vom Ausbruch des Deutsch- Französischen Krieges, in dem er sich als Militärarzt zur Verfügung stellte. Danach war er für wenige Monate in Leipzig als pathologischer Assistent und anschließend in Freiburg als Prosektor tätig, wo er sich 1871 mit einer Arbeit zur Anatomie der Ganglienzellen habilitierte. In die Freude des 27jährigen talentierten Forschers über die außerordentliche Professur in Freiburg 1874 platzte am 11. September eine jähe Hiobsbotschaft: die besorgniserregende Diagnose »Tuberkulose«.
Er war betrübt, denn auch seine Mutter Anna (1824–1853), Tochter des Stadtverordneten und Stadtältesten Wilhelm Keibel (1792–1860), war 29jährig an dieser heimtückischen Krankheit gestorben, deren bakterielle Ursache man noch nicht kannte und die somit therapeutisch kaum erfolgreich behandelt werden konnte. Die bei ihm deutlich zutage tretenden Symptome der Tuberkulose führten zur Zäsur seines Lebens – Aufgabe der Karriere als Universitätslehrer und Forscher, Trennung von der Familie und Umsiedlung in die Fremde mit dem Ziel, das Leben zu retten. Er suchte Linderung und Heilung durch einen Klimawechsel, er siedelte sich fortan im abgelegenen Funchal auf Madeira (Portugal) an.
     Die unerbittliche Tuberkulose hielt Paul Langerhans zwangsweise von Deutschland fern. Auf Madeira war er vom aktuellen Forschungsgeschehen und dem Leben in Berlin total abgeschnitten. Mehr als ein Jahrhundert war die Familie Langerhans (siehe BM 6/94, S. 28 ff.) für das Gemeinwesen Berlins öffentlich präsent. Begonnen hatte es mit seinem Großvater Friedrich Wilhelm Langerhans (1780–1851), der als Stadtbaurat durch die Sanierung Berliner Kirchen, die Anlage von Friedhöfen, des Volksparks Friedrichshain und vieles mehr Einfluß auf das Bild der Stadt nahm. Sein Vater, Paul Langerhans sen., seit 1875 über 33 Jahre Stadtverordneter von Berlin, gehörte u. a. dem Heimstätten- Kuratorium des Magistrats
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für Tuberkulöse an. Als praktizierender Arzt und aus der eigenen Familie heraus wußte er um die verheerende Tuberkulose als Volkskrankheit. Paul Langerhans sen. wurde anläßlich seines 80. Geburtstages am 25. Mai 1900 zum 45. Ehrenbürger von Berlin ernannt. Seine Söhne Richard (1857–1947) und Ernst Robert (1859–1904), Halbbrüder von Paul jun., studierten ebenfalls Medizin und fanden in Virchow ihren herausragenden Lehrer. Richard ließ sich als praktischer Arzt nieder, während Ernst Robert ab 1894 als professoraler Prosektor am Städtischen Krankenhaus Moabit tätig war. Die Langerhansstraße in Köpenick jedoch wurde nach dem dortigen Bürgermeister, Dr. Georg Langerhans (1870–1918), einem Neffen seines Vaters, benannt, in dessen Amtszeit (1904 bis 1918) im Jahre 1906 die Geschichte vom Hauptmann von Köpenick fiel.
     Psychisch angeschlagen und körperlich gezeichnet, konnte Langerhans in Funchal zunächst nicht einmal ärztlich arbeiten – seine Großmutter Auguste Keibel (1798–1877), die Frau des Stadtverordneten, kam für seinen Unterhalt auf. Zeiten vorübergehender Besserung lösten sich mit Abschnitten ab, in denen sich sein Zustand verschlechterte. Trotzdem entschloß er sich 1879, eine ärztliche Praxis in Funchal zu eröffnen, gedacht für die einheimische Bevölkerung, aber mehr noch für ebenfalls am Ort ansässige ausländische Leidensgenossen.
     Als Junggeselle blieb er einsam unter Fremden. Im Oktober 1879 übernahm er die medizinische Betreuung von Alfred Ebart (1848–1883), der, mit seiner Familie aus Berlin kommend, auf der Insel Heilung von der Tuberkulose erhoffte. Ebart stammte aus wohlhabenden Verhältnissen, gehörte seinem Vater doch u. a. die Papierfabrik in Spechthausen bei Eberswalde. Langerhans hielt engen familiären Kontakt zu den Ebarts, konnte den Tod des Familienvaters 1883 jedoch nicht verhindern. Nach der üblichen zweijährigen Trauerfrist heiratete er die 34jährige Witwe Margarethe Ebart (1852–1933) am 13. Juni 1885 in der Berliner Neuen Kirche in der Lindenstraße (heute Jerusalem- und Neue Kirche). Für Langerhans brach die glücklichste Zeit seines Lebens an. Wohnsitz der neuen Familie wurde (oder blieb) Funchal.
     Auf Madeira erreichte ihn die Nachricht von der Aufspürung des Erregers seiner Krankheit durch Robert Koch im Jahre 1882, ohne daß ihm unmittelbar geholfen werden konnte. Gegenüber Robert Koch und der von ihm maßgeblich begründeten wissenschaftlichen Bakteriologie blieb er wissenschaftlich reserviert, geradeso wie sein berühmter Lehrer Virchow. Langerhans schickte Koch nach Berlin sein tuberkulöses Sputum, das dieser untersuchen ließ, ohne darin Tuberkelbazillen zu finden. Dieses Ergebnis bestärkte Langerhans in seiner schon lange vertretenen Auffassung, bei ihm handele es
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sich um eine erbliche (hereditäre) Tuberkulose, die – wie er generell meinte – nicht bakteriell begründet wäre. Dieser Auffassung hing er bis zu seinem Lebensende an.
     Für den von der wissenschaftlichen Welt isolierten Langerhans rückten die Natur der Insel und die Lebensweise ihrer Bewohner verstärkt in den Blickpunkt. Ein Ergebnis dessen, beachtet und von seinen Zeitgenossen gelesen, war das von ihm 1885 verfaßte »Handbuch für Madeira«. Aber auch wenn er sich ab 1878 mit der Zoologie befaßte und dabei eine Reihe von bisher nicht bekannten Meerestieren der »Wurmfauna von Madeira« entdecken und beschreiben konnte, deren Kennzeichnung ebenfalls mit seinem Namen verbunden wurde und hohe wissenschaftliche Anerkennung unter Zoologen fand – all das vermochte keinesfalls, ihn über den Verlust seines Lebensentwurfs hinweg zu trösten. Umsorgt von seiner Frau, die aus der ersten Ehe eine Tochter mitgebracht hatte, der er ein liebevoller Stiefvater wurde, lief seine Lebensuhr schnell ab, denn die Tuberkulose konnte nicht eingedämmt, nicht aufgehalten werden. Im Mai 1887 reiste er nach Deutschland, und allen seinen Freunden und Verwandten schien, als ob es ein letztes Zusammentreffen mit ihm gewesen wäre. Der unerträgliche Husten, andauernde Kopfschmerzen und das Atmen unter Schmerzen waren für ihn nur noch unter Einwirkung von Morphium ertragbar. Paul Langerhans starb am 20. Juli 1888
in Funchal. Er ahnte seinen Tod lange voraus, suchte sich beizeiten eine Grabstelle auf dem Englischen Friedhof in Funchal, den er »weltverloren und still« als geeignet empfand. Seine Frau Margarethe blieb noch ein Jahr auf Madeira, ehe sie mit ihrer Tochter 1889 nach Berlin zurückging.
     Paul Langerhans sen. mußte nach dem frühzeitigen Tuberkulosetod seiner Frau Anna nun seinen talentierten Sohn Paul betrauern, dem 1904 noch der Sohn Ernst Robert (geb. 1859) mit gleicher Diagnose folgte. Seit Anfang der 70er Jahre wird das Grab in Funchal durch die Deutsche Dermatologische Gesellschaft gepflegt, die anläßlich seines 100. Todestages 1988 eine Gedenkplatte stiftete. Sie verweist auf den Entdecker der Langerhans- Zelle, die heute »im Mittelpunkt der internationalen dermatologisch- immunologischen Forschung steht«. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft vergibt seit 1978 alljährlich die Langerhans- Plakette für herausragende Leistungen zur Bekämpfung der Zuckerkrankheit – verdiente Ehrung für einen Pionier der medizinischen Forschung.
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© Edition Luisenstadt, 1997
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