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gründeter Ruf führte ihn noch 1899 auf
den Greifswalder und 1903 auf den Bonner Lehrstuhl für Chirurgie. 1905 heiratete der
44jährige Bier Anna Esau, mit der er viele
Jahrzehnte Eheglück genoß.
Bier stand in dem Ruf, ein origineller Denker und Praktiker zu sein, dessen Ansichten ebenso begeisterte Anhänger wie Kritiker fanden. Als an der Charité 1907 der berühmte Bergmann- Lehrstuhl frei wurde, stand Bier jedoch lediglich an dritter Stelle der Berufungsliste er wurde in Berlin offen angefeindet. Seine Vaterschaft der Lumbalanästhesie erfuhr in Wort und Schrift nicht gerade zimperliche Attacken. Seine dennoch erfolgte Berufung muß deshalb als außergewöhnlich angesehen werden; sie erfolgte faktisch gegen den Willen der Fakultät durch die ministerielle Order von Friedrich Althoff (18391908). Selbst in dieser für ihn komplizierten Situation blieb Bier sich treu: In seiner Amtsantrittsrede an der Charité setzte er der herrschenden Auffassung von der Entzündung bewußt entgegen: »Die Entzündung ist eine nützliche Reaktion der Körpers, die zu unterstützen, aber nicht zu bekämpfen ist.«2) Anwendung von Wärme statt von Kälte war daher sein Credo bei Entzündungen. Aufgetretene entzündliche Reaktionen seien zu unterstützen, weil sich so der Körper der Krankheit entledigt und seine natürliche Bestimmung wiederherstellt. Hier findet sich ein treffendes Beispiel für die von Bier gehandhabte Umsetzung der | |||
Bernhard Meyer
Der letzte Große aus der Ziegelstraße August Bier war innerhalb der Chirurgengilde eine Ausnahme. Ohne jeden Zweifel
wird er den namhaften Chirurgen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zugerechnet. Aber er huldigte auch der Philosophie
und entwickelte daraus ein von ihm verwirklichtes forstwissenschaftliches
Konzept.1)
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philosophischen Ansichten Heraklits.
Er übertrug die heraklitische Lehre von den Gegensätzen, den Disharmonien, auf
die Medizin und sah darin den Grundsatz zur Erhaltung und Wiederherstellung
des Gleichgewichts, der Harmonie, die jegliches Leben benötigt. Eine Bestätigung
erblickte Bier auch bei dem von ihm gleichfalls
verehrten Hippokrates und dessen Lehre von der richtigen »Durchmischung«, deren
Störung Kranksein bedeutete.
Biers Denkweise rief natürlich Widerspruch hervor und dies nicht nur unter Chirurgen. Immerhin handelte es sich nicht um die Altersgedanken eines der Senilität anheim gefallenen Emeritierten. Der dies verkündete, besetzte den ersten Lehrstuhl seines Fachgebiets im Deutschen Reich. Zum Verständnis seiner Auffassungen war philosophisches Denken gefragt. Welcher Arzt interessierte sich jedoch dafür? Biers Harmoniebestreben lief im Grunde der unaufhaltsamen Spezialisierung der Medizin (die er als Ergebnis des naturwissenschaftlichen Fortschritts erkannte und bis zu einem gewissen Grade auch akzeptierte) entgegen. Soviel gehörte jedenfalls seinerzeit zum Allgemeinwissen der Ärzte: Die hippokratische Wurzel der Medizin, die auf die Naturphilosophie hinauslief, hatte kein Geringerer als Rudolf Virchow (18211902) zugunsten der modernen experimentellen Medizin gekappt, schon 1877. Nun erschien ein Namhafter mit der Absicht, | Hippokratisches zeitgemäß anzupassen.
Dennoch sollte sich das so besetzte Ordinariat nicht zum Schaden der Charité und der Chirurgie erweisen, wie nur einige seiner stichwortartig zusammengefaßten Leistungen beweisen: das chirurgische Standardwerk »Chirurgische Operationslehre« (gemeinsam mit Heinrich Braun und Hermann Kümmell) 1912; Entwicklung tragfähiger Unterschenkel- Amputationsstümpfe; Ausarbeitung der Lehre vom Reiz; neue Methoden zur Bekämpfung des Gasbrandes; Nutzung der Blutstauung (Hyperämie) als Therapeutikum; Aufbau der Heilstätte Hohenlychen zur Behandlung von Knochen- und Gelenktuberkulose (1914); Aufwertung der Homöopathie ... Letzteres wiederum zog Anfang der 20er Jahre die ganze Aufmerksamkeit der Medizin auf sich: Der berühmte Operateur August Bier, der die große Tradition in der Ziegelstraße als »Mekka der Chirurgie« mit Erfolg fortsetzte, ein anerkannter Schulmediziner, äußert sich wohlwollend und aus innerer Überzeugung über die Homöopathie. Ein Skandal! Unumwunden plädierte er für die Naturheilkunde, die einen Platz in der medizinischen Wissenschaft finden sollte. Den Stammvater der Homöopathie Samuel Hahnemann (17551843) »als berechtigt anerkennen«, so verlangte es Bier. Mit der Offenbarung seiner homöopathischen Sympathien hatte er lange gezögert; schon in den Greifswalder Jahren erregte die außerhalb | |||
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der Schulmedizin stehende
Homöopathie seine Aufmerksamkeit. Verwundern
kann seine Hinwendung allerdings kaum, denn das von Hahnemann verfochtene
»Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden« (»Similia similibus curantur«
Ähnlichkeitsregel) lag durchaus in seinem
teleologischen Denkspektrum. Und so erstrebte Bier für
die Ärzteschaft (neben der
homöopathischen Empfehlung von Schwefel gegen
Furunkulose und Äther gegen Bronchitis)
wenigstens ein Minimum homöopathischer Zuwendung: Wenn von den Ärzten nur die
Ähnlichkeitsregel angenommen werden würde
»als außerordentlich wichtige und fördernde Betrachtungsweise, so wäre das schon sehr
viel«.3)
Mit diesen Ansichten brachte Bier namhafte Ordinarien der verschiedensten Fachgebiete gegen sich auf manche behandelten ihn wie einen Abtrünnigen. Er sollte sich verteidigen, wurde im Juni 1925 vor ein medizinisches »Konzil der Rechtgläubigen« (wie Bier es nannte) geladen und sah sich einer geschlossen ablehnenden Teilnehmerschaft gegenüber, deren Emotionen hochkochten. Tendenzen einseitiger Betrachtungsweise versuchte Bier ein toleranteres und breitgefächerteres Spektrum entgegenzusetzen: Medizin sei mehr als eine Naturwissenschaft, sie erfordere auch Kunst und Technik, charakterliche Anlagen und gediegene Ausbildung der Ärzte einschließlich philosophischer Grundlagen. Vergeblich er | fand kaum Widerhall. Die
Angelegenheit verlief sich. Dennoch geschahen
Zeichen und Wunder, denn 1928 richtete die eher konservative Charité eine
homöopathische Poliklinik ein und erteilte einen
Lehrauftrag an Ernst Bastanier.
Auch sein Therapiekonzept für die Heilstätte in Hohenlychen wurde unterschiedlich aufgenommen. Seit 1918 wandte er in der sogenannten chirurgischen Tuberkulose zur Behandlung der Knochen- und Gelenktuberkulose bei Kindern natürliche Heilmittel wie Reizstrom, Höhensonne und natürliche Sonne, Licht und frische Luft sowie eben die von ihm entwickelte künstliche Stauung von Blut an. Diese kombinierte Therapieform muß allerdings für einen an operative Eingriffe gewöhnten Chirurgen mehr als wunderlich erscheinen. Biers Behandlungsmethoden drängten den chirurgischen Eingriff in den Hintergrund - und dagegen erhob sich neben Zustimmung gleichzeitig noch mehr Polemik. Er stützte sich auf seine These von der Benutzung eines körpereigenen Vorgangs zu Heilzwecken. Wie so oft traf er auf Unverständnis in einem medizinischen Umfeld, das fast Jahr für Jahr von neuen sensationellen Forschungsergebnissen erfuhr, mit denen erfolgreich vielen Krankheiten zu Leibe gerückt werden konnte. Treffend für seine Stimmungslage dann die von Bitterkeit und Gereiztheit zeugende Anmerkung: »Man hat mir übelgenommen, daß ich mich auch mit | |||
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anderem als der Chirurgie beschäftige.
Man glaubt anscheinend, daß der Mensch durch die Beschäftigung mit der Chirurgie so
verdummt, daß er zu nichts anderem mehr zu gebrauchen
ist.«4)
Ein Abtrünniger aber war er in keiner Hinsicht: »August Biers Gesinnung war aristokratisch, war national- konservativ. Der Staatsform der Demokratie brachte er nur wenig Verständnis entgegen. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hat ihn schwer getroffen.«5) Der Krieg, der ihn als Obergeneralarzt der Marine teilweise an der Westfront sah, ließ ihn anschaulich die Folgen der Granatsplitter bei Kopfverletzungen der Soldaten erleben. Er schuf daraufhin zusammen mit Diplomingenieur Friedrich Schwerdt (Technische Hochschule Berlin) nach antiken Vorbildern den Stahlhelm, der im April 1916 im deutschen Heer eingeführt wurde. Das war zweifellos eine technische und medizinische, aber auch eine patriotische Tat. Als eine ebensolche wurde 1920 seine Mitwirkung an der Gründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen angesehen, der er als Rektor mehrere Jahre aus innerer Überzeugung vorstand. Die Bildungseinrichtung diente keinesfalls allein der Förderung des Breitensports, sondern war vielmehr als Ersatz für Körperertüchtigung infolge der liquidierten Wehrpflicht gedacht. Überhaupt hatten es die 20er Jahre für Bier in sich. Seine chirurgischen Leistungen an der Charité waren anerkannt, die Präsi- | dentschaft der Gesellschaft für
Chirurgie wiederum verlängert (1920) und
zahlreiche Ehrenmitgliedschaften überall - und
doch braute sich neben der Homöopathie
weiterer Ärger zusammen. Der erste entstand
um prominente Privatpatienten den Reichspräsidenten Friedrich Ebert (18711925)
und den Industriellen Fritz Stinnes (18701924). Beide operierte er auf seiner
Privatstation im Westsanatorium (Joachimsthaler Straße 20/21, Bezirk Charlottenburg), beide
verstarben im Gefolge des Eingriffs. Die
Öffentlichkeit konnte nicht verstehen, warum Ebert die Operation am perforierten
Blinddarm (mit anschließender
Bauchfellentzündung) nicht überstand. Tatsachen
belegen eindeutig, daß Ebert seit mehreren
Wochen aufgetretene Leibschmerzen als ihm schon bekannte und bisher immer bewältigte
Gallensteinkoliken bagatellisierte. Zu dieser Verdrängung der Schmerzen kam es, weil er sich auf einen der zahlreichen
Verleumdungsprozesse vorbereitete, der in Magdeburg anstand. Als schließlich Bier
gerufen werden mußte, war es schon zu spät.
Medizinische Kenner der näheren Umstände dieser Operation haben den zu Unrecht ins Zwielicht geratenen Operateur
rehabilitiert und dennoch blieb ein Makel.
Ende der 20er Jahre zogen sich drohende Gewitterwolken über den Fortbestand der Chirurgie in der Ziegelstraße zusammen. Nach fast einem halben Jahrhundert war der Bau nicht mehr zeitgemäß und für eine mo- | |||
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derne Chirurgie fragwürdig geworden.
Bier konnte trotz erheblicher Bemühungen wegen fehlender finanzieller Mittel keine Modernisierung erreichen. Zum anderen saß ihm seit 1927 ein starker Konkurrent
im Nacken: Ferdinand Sauerbruch (18751951). Dieser war gerade von München auf
den Lehrstuhl der Chirurgie des
Charité- Krankenhauses in der Schumannstraße
berufen. Ihm gelang es, die ministeriellen Finanzverwalter zu überzeugen, daß die
Charité künftig nur noch eine statt wie bisher
zwei chirurgische Kliniken brauche. Dies bedeutete den Ausbau der von ihm geleiteten Chirurgie zu einer Musterklinik auf Kosten der Ziegelstraße.
Bier selbst wurde in die Verhandlungen nicht einbezogen und erfuhr von dem Ende seiner Traditionsklinik erst am 10. Oktober 1931. Zu diesem Zeitpunkt stand er kurz vor seinem 70. Geburtstag am 24. November und sah in wenigen Monaten seinem silbernen Charitéjubiläum als Ordinarius entgegen, an dem er ausscheiden wollte. Der aus München gerufene neue Berliner Chirurgenstern Sauerbruch erwartete seinerseits eine gebührende Reverenz, bei der die Biersche Klinik auf der Strecke bleiben mußte und tatsächlich am 31. März 1932 geschlossen wurde. Bewegend war die August Bier von Studenten und Mitarbeitern der Klinik bereitete Verabschiedung. Eigentlich wollte Bier schon früher in den Ruhestand wechseln, um sich ganz seinen | forstwissenschaftlichen und
philosophischen Ambitionen hinzugeben. Dies
geschah nun auf seinem 1912 erworbenen Landgut in Sauen (Landkreis Beeskow). Getreu
seiner heraklitischen Überzeugung von harmonischer Durchmischung gestaltete er seit
1913 auf kärglichem märkischen Sandboden
einen von Forstleuten und Botanikern studierten und von Laien bewunderten
Mischwald mit vielfältiger Flora und Fauna. Bier
nannte es sein großes
heraklitisch- hippokratisches Experiment.
In Sauen also, in gehöriger Distanz zu Berlin und der Charité sowie von den politischen Veränderungen weitgehend unberührt, vertiefte sich Bier weiter in die Philosophie. Auf drei Bücher konzipierte er sein philosophisches Alterswerk, zwei konnte er jedoch nur fertigstellen: »Die Seele« (1939) und »Das Leben« (erst 1951 auf der Grundlage seiner hinterlassenen Manuskripte veröffentlicht). Seine idealtypische Vorstellung vom Arzt, namentlich vom Chirurgen, bestand darin, daß dieser nicht nur schulmäßig exakte Diagnostik und Therapie betreiben könne, was allein schon aller Ehre wert wäre, sondern diese auf Zusammenhänge, die das Leben und die Welt bewegen, befragen muß. Hier spiegelt sich in Bier etwas von fachlich übergreifender Souveränität eines Arztes wider, der die Medizin, im Gegensatz zur Mehrheit seiner Fachkollegen, weder zum Nabel der Wissenschaften erhob noch sie in zahllose | |||
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Einzeldisziplinen zersplittert sehen wollte.
Unterbrochen wurde seine Abgeschiedenheit nur durch zwei Auszeichnungen des Dritten Reiches: Zum 75. Geburtstag (1936) erhielt er das »Adlerschild des Reiches«, die höchste Auszeichnung im faschistischen Deutschland, und im folgenden Jahr den erstmals vergebenen Nationalpreis (gemeinsam mit Ferdinand Sauerbruch). Warum gerade der zurückgezogen lebende, die Öffentlichkeit scheuende Geheimrat Bier, der sich von den neuen Verhältnissen fernhielt? Seine Biographen umgehen Hintergründe, und Bier selbst hat sich nicht geäußert. So bleibt spekulative Vermutung: Die braunen Machthaber wollten sich zunächst für die Aufpolierung ihres Image des Namens Bier bedienen. Aber es gibt in seinen medizinischen Auffassungen mannigfaltige Anknüpfungspunkte für die von den Nazis propagierte Neue Deutsche Heilkunde (NDH), wenn nur an die Naturhaftigkeit der Heilung und die Homöopathie gedacht wird. Biers Werk ließ sich für die Medizin des Faschismus ohne sein Zutun nutzen. Im Alter von 88 Jahren verstarb er am 12. März 1949 in Sauen. Wunschgemäß wurde die Grabstätte inmitten seines Mischwaldes angelegt. In seiner Zeit beeinflußte er die Chirurgie nachhaltig und überblickte die Medizin wie kaum ein anderer. Für die Charité bleibt er der letzte Große aus der Ziegelstraße ... | Quellen:
1 Vgl. Bernhard Meyer: Der berühmte Chirurg August Bier als Philosoph, In: »Berlinische Monatsschrift«, Jg. 3 (1994), H. 11, S. 56 ff. 2 August Bier: Die Entzündung, In: Archiv für klinische Chirurgie, Jg. 1933, Bd. 176, H. 3 3 August Bier: Wie sollen wir uns zu der Homöopathie stellen? München 1926, S. 3 und S. 36 4 Karl Vogeler: August Bier. Leben und Werk, München/Berlin 1941, S. 74/75 5 Karl Vogeler: Die Chirurgie unter August Bier 19071932, In: Das Universitätsklinikum in Berlin, seine Leistungen und seine Ärzte 18101933, hrsg. von P. Diepgen und P. Rostock, Leipzig 1939, S. 125 | |||
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© Edition Luisenstadt, 1997
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