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Hinterhäusern wohnen, in deren
Wohnungen kaum ein Sonnenstrahl fiel. Zur gleichen Zeit betrug die Behausungsziffer 77 (d. h. 77 Menschen pro Haus). In London lag sie damals etwa bei acht.1) 600 000
Groß-Berliner lebten zu fünft oder mehr in
einem Raum. 2) Berlin war die am dichtesten
besiedelte Stadt der Welt, in der z. T. völlig
unzumutbare hygienische Bedingungen herrschten.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß sich in Teilen des Bürgertums Unbehagen einstellte. Die Suche sowohl nach alternativen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen als auch nach alternativen individuellen Lebensweisemodellen wurde so kennzeichnend für viele Angehörige des vom immer mehr umsichgreifenden Proletarisierungsprozeß bedrohten handwerklichen und kleingewerblichen Mittelstandes. Dabei gab es schon damals die Vorstellung eines sogenannten »dritten Weges« zwischen dem zu dieser Zeit noch überwiegend marxistisch geprägten Gesellschaftskonzept der Arbeiterbewegung und dem herrschenden kapitalistischen System. Entsprechend der sozialen Stellung dieser Gesellschaftsschicht wurde bei den meisten Befürwortern die Ausbeutung des Menschen auf das sogenannte »arbeitslose Einkommen«, auf Kapitalzins und Grundrente, reduziert. Die Bodenproblematik mußte schon allein deshalb zum zentralen Ansatz für eine gesellschaftliche Alternative | ||||||
Christian Böttger
Alternatives Leben vor den Toren Berlins Die Obstbausiedlung Eden Mit der rasch voranschreitenden Industrialisierung und dem damit verbundenen stärkeren Hervortreten der Großstadt als Siedlungsform setzte besonders nach der Herstellung der ökonomischen und politischen Einheit Deutschlands im Jahre 1871 ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß ein, der nicht nur den Gegensatz von Stadt und Land deutlicher hervortreten ließ, sondern auch die Widersprüche in der Großstadt selbst zunehmend verschärfte. Eine gigantische Binnenwanderung hatte Tausende Arbeitsuchende aus der Provinz in die wachsenden Handels- und Industriemetropolen geführt. Zwischen 1871 und 1919 wuchs die Bevölkerung auf dem Territorium des späteren Groß-Berlin von etwa 900 000 auf 3,7 Millionen. Wohnungszählungen von 1900 und 1905 hatten die katastrophalen Wohnverhältnisse in der Stadt enthüllt. Zwei Drittel aller Volksschulkinder schliefen zu zweit, zu dritt oder zu viert in einem Bett. Um 1900 gab es in Berlin 30 000 Kellerwohnungen, die von 120 000 Menschen bewohnt wurden. 47 Prozent der Berliner mußten in | ||||||
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werden, weil der Zusammenhang von
Bodenspekulation und sozialer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten innerhalb
der Großstadt in dieser Zeit immer
deutlicher zutage trat.
Die meisten Anhänger eines »dritten Weges« knüpften an die Ideen des amerikanischen Volkswirtschaftlers Henry George (18391897) an, der im privaten Bodeneigentum eine Hauptursache für die sozialen Probleme sah. Sein Hauptwerk »Progress and Poverty« wurde bereits 1880, ein Jahr nach dem Erscheinen, ins Deutsche übersetzt. Inspiriert von diesen sich auf das naturrechtliche Denken der Aufklärung gründenden Reformvorstellungen, war auch in Deutschland noch vor der Jahrhundertwende eine beachtliche Bodenreformbewegung entstanden, deren Gesellschaftskonzept von den meisten Gesellschaftsreformern geteilt wurde. Der »Bund Deutscher Bodenreformer« er wurde 1898 von Adolf Damaschke (18651935) gegründet zählte 1906 bereits 200 000 körperschaftlich angeschlossene und Einzelmitglieder. Er trat für eine »gerechtere Art der Besteuerung« ein, um einen Teil des unverdienten Bodenwertzuwachses abzuschöpfen und für die gesamte Gesellschaft nutzbar zu machen. Städte und Gemeinden sollten möglichst viel Grundbesitz erhalten bzw. erwerben und nur in Erbpacht oder Erbbaurecht vergeben. Außerdem wurde von diesem Bund die Verstaatlichung der Wasserkräfte und Bodenschätze angestrebt. | Im Zusammenhang mit der gegen Ende
des 19. Jahrhunderts sich herausbildenden sozialen Reformbewegung auf
bodenreformerischer Grundlage darf der Ungar
Theodor Hertzka (18451924) nicht unerwähnt
bleiben. Das von ihm 1890 in Romanform veröffentlichte Buch »Freiland, ein soziales Zukunftsbild« gab den Anstoß dazu, daß sich auf der Grundlage der dort entwickelten Gesellschaftsutopie vielerorts
Gruppen zusammenschlossen, die sich allmählich zu einer bedrohlichen Konkurrenz für Damaschkes »Bund Deutscher Bodenreformer« entwickelten.
Als ein sehr aktives Mitglied der in Berlin ansässigen Freilandgruppe trat der Arzt und Sozialreformer Franz Oppenheimer (18641943) hervor. Im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern der Freiland- Bewegung, die ihre Pläne in Afrika zu verwirklichen suchten, war Oppenheimer von Anfang an daran interessiert, »Freiland in Deutschland« so der Titel einer kleinen, 1894 von ihm herausgegebenen Schrift zu realisieren. Oppenheimers Ausgangspunkt war die ländliche Siedlung, die er sich in Form einer Produktivgenossenschaft organisiert dachte. Mit der Verwandlung von einigen 100 Großgütern in ländliche Produktivgenossenschaften sollte lawinenartig ein gesellschaftlicher Umwandlungsprozeß eingeleitet werden, an dessen Ende ganz ohne blutige Revolution, ohne Umwälzung der Staatsform und ohne Änderung | |||
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auch nur eines einzigen Gesetzes eine
nahezu ausbeutungsfreie Gesellschaft stehen würde.
Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich eine zweite geistige Strömung heraus die Lebensreformbewegung, deren Kern und ideologischer Motor der Vegetarismus war. Mit der sogenannten »Selbstreform« sollte eine Neugestaltung der individuellen Lebensweise im Einklang mit den Naturgesetzen erreicht werden. Unter dem Leitspruch: »Selbst muß der Freie sich schaffen!« 3) erstrebten die Selbstreformer vor allem eine Kleidungsreform, Ernährungsreform, einschließlich Antialkoholismus und Vegetarismus, Wohnungsreform, engagierten sich für die Naturheilkunde sowie für eine Erziehungsreform. Daß sich unter den zunehmend industriell geprägten großstädtischen Lebensbedingungen eine naturgmäße Lebensweise nur schwer realisieren ließ, mußten die meisten Lebensreformer schon recht bald erkennen. Sie entdeckten ebenso wie die Anhänger der Genossenschaftsbewegung und der Bodenreform in der ländlichen Siedlung eine realistische Möglichkeit, ihre Ziele zu verwirklichen. So ist es nicht erstaunlich, daß sich auch in Berlin Vertreter dieser verschiedenen Reformrichtungen zusammenfanden, um gemeinsam ein solches Siedlungsprojekt in Angriff zu nehmen. Es waren Vegetarier, jener besonders asketisch und ethisch orientierte Kern unter den | Lebensreformern, von denen die Initiative dazu ausging. Der Lebensreformer und Vegetarier Bruno Wilhelmi (18651909), er gehörte zum Kreis um Moritz von Egidy (18471898) und stand politisch Friedrich Naumanns »Nationalsozialem Verein« nahe, veröffentlichte zu diesem Zwecke bereits im September 1892 in der »Vegetarischen Rundschau« einen entsprechenden Aufruf.4) Schon im Mai 1893 legte er in der gleichen Zeitschrift einen detaillierten Plan zur Begründung einer vegetarischen Obstbausiedlung bei Oranienburg vor und am Pfingstsonntag, dem 28. Mai 1893, gelang es ihm, 36 Gesinnungsfreunde aus dem Lager der Vegetarier, Bodenreformer und Genossenschafter um sich zu scharen, um die Satzungen und Pläne zur Gründung der vegetarischen Obstbausiedlung zu beraten. Die Zusammenkunft fand im vegetarischen Speisehaus »Ceres« in der Paulstraße 1 in Berlin- Moabit statt. Der von Wilhelmi unterbreitete Satzungsentwurf, an dessen Ausarbeitung auch Franz Oppenheimer (18641943) einen wesentlichen Anteil hatte5), und der sich ansonsten an die Satzung der kurze Zeit zuvor gegründeten Obstbausiedlung »Heimgarten« bei Bülach (Kanton Zürich) anlehnte, wurde von der Gründungsversammlung diskutiert und in überarbeiteter Form angenommen. Von den Anwesenden erklärten 18 Versammlungsteilnehmer ihren Beitritt zu der dort gegründeten »Vegetarischen Obstbau- Kolonie Eden (e.G.m.b.H.)« . | |||||
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Ein für das Siedlungsvorhaben geeignet erscheinendes Terrain von 160 Morgen war auch schon gefunden und zuvor unter
Führung Wilhelmis besichtigt worden. Bei der Wahl des Standortes etwa drei
Kilometer westlich von Oranienburg dominierten rein finanzielle Überlegungen. Der niedrige Kaufpreis von nur 225 Mark für den Morgen
ließ alle Bedenken in den Hintergrund treten, zumal selbst dafür die erforderliche Kaufsumme noch gar nicht vorhanden war.
Das Gelände etwa eine 3/4 Stunde Fußmarsch vom Bahnhof Oranienburg und eine Stunde Eisenbahnfahrt von Berlin entfernt lag in einem frostgefährdeten Gebiet des Urstromtals der Havel und zeichnete sich, für den Obstbau besonders unvorteilhaft, durch extreme Winter- und späte Nachtfröste aus. Auch die jährliche Niederschlagsmenge von durchschnittlich nur 541 mm6) war für den Anbau von Edelobst relativ gering. Ähnlich ungünstige Voraussetzungen waren hinsichtlich der Bodenbeschaffenheit zu verzeichnen. Dennoch wurde das Land bis zum 12. Juli käuflich erworben. Die Zahl der aufgenommenen Genossenschafter stieg bis Ende August 1893 auf 26 an. In der ersten Satzung der Genossenschaft heißt es: »Jeder Genosse hat Anrecht auf pachtweise Ueberlassung einer Heimstätte auf der Kolonie. Die Höhe der Pacht wird zwischen dem Genossen und dem Vorstande vereinbahrt. Seine Heimstätte kann der Genosse nach eigenem Ermessen bewirt- | schaften, jedoch nur in einer den
vegetarischen Grundsätzen nicht
widersprechenden Weise. Für alle Anlagen anderer Art ist
die Genehmigung des Vorstandes erforderlich. Die Heimstätten bleiben Eigentum der Genossenschaft und dürfen von derselben nicht veräußert werden. Die Genossen
können ihrer Heimstätte, außer durch
freiwillige Rückgabe derselben an die
Genossenschaft, nur verlustig gehen durch ihr Ausscheiden aus der Genossenschaft.
Tritt beim Tode eines Genossen dessen Erbe (Ehefrau, Kinder usw.) an seiner Stelle in die Genossenschaft ein, so hat derselbe das nächste Anrecht auf die vom
Verstorbenen innegehabte
Heimstätte.«7) Die u. a. auch
von Franz Oppenheimer vertretene Vorstellung, Eden in Form einer
Arbeiterproduktivgenossenschaft aufzubauen, konnte sich auch
später nicht durchsetzen. Eine gemeinschaftliche Bewirtschaftung des gesamten
Bodens war also nicht geplant. Die gut durchdachte Verzahnung von privater
Einzelwirtschaft und genossenschaftlicher
Gemeinwirtschaft mag wohl eine wesentliche
Voraussetzung für den später erfolgten
kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufstieg Edens
gewesen sein, sind doch die vielen anders
gearteten ländlichen genossenschaftlichen
Siedlungsunternehmen schon meist nach kurzer Zeit kläglich gescheitert.
Das erworbene Terrain wurde nun in 85 als »Heimstätte« bezeichnete Grundstücke zu je 2 800 Quadratmeter aufgeteilt. Von die- | |||||
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ser Fläche sollte jeder
Heimstättenbesitzer mit seiner Familie den Eigenbedarf an
Obst und Gemüse voll decken und entsprechende Überschüsse verkaufen. Bereits ein
Jahr nach der Gründung der Genossenschaft konnten 22 Heimstätten verpachtet
werden. Die Zahl der Genossenschaftsmitglieder war bis November 1894 auf 92 angewachsen,
entwickelte sich aber in der Folgezeit nicht befriedigend. Nicht alle Genossenschaftsmitglieder hatten die Absicht, in Eden zu siedeln.
Viele Genossen, wie beispielsweise Franz Oppenheimer, betrachteten sich eher als Fördermitglieder, zumal sie selbst ja gar nicht vegetarisch lebten. Um den Zuzug von geeigneten Siedlern zu erleichtern, sah sich die Genossenschaft im Jahre 1901 zu einer entscheidenden Satzungs- und Namensänderung gezwungen. Der Grundsatz, daß in Eden nur Vegetarier aufgenommen werden sollen, wurde aufgegeben bzw. dahingehend abgemildert, daß die Beitrittswilligen »sich in beständiger Selbsterziehung einer veredelten Lebensführung befleißigen und die Grundsätze einer naturgemäßen Lebensweise zu befolgen bestrebt sein müssen« . Von nun an nannte sich die Siedlungsgenossenschaft nur noch »Obstbaukolonie Eden e.G.m.b.H.« .8) Inzwischen waren neben den Heimstättenwirtschaften drei genossenschaftliche Wirtschaftsbetriebe entstanden: die gärtnerische Betriebsabteilung, die Abteilung Obstverwertung und die Warenabteilung. Die in | Eden tonangebenden
Genossenschaftspioniere hielten von Anfang an die
Errichtung von genossenschaftlich organisierten
Wirtschaftsbetrieben in einem begrenzten Umfang für unerläßlich. Zum einen wollte man
in wirtschaftliche Not geratenen Siedlern eine feste Einkommensquelle
erschließen, zum anderen wußte man um die
Vorteile, die in einer eigenständigen Verarbeitung
des Edelobstes und in einer genossenschaftlichen Organisation des Absatzes liegen. Der genossenschaftliche Gartenbetrieb diente besonders in der Anfangszeit Edens als Lehrstätte für die des Obstbaus meist
unkundigen Neuankömmlinge. Zu seinen vor allem in den ersten zehn Jahren durchgeführten wichtigsten Arbeiten gehörte auch das Ausbringen von Berliner Straßenkehricht, der damals viel Pferdedung enthielt. 100 Kahnladungen Kehricht zu je 2 800 Zentnern sind in diesem Zeitraum ausgebracht worden, jährlich eine 5
cm hohe Schicht. Dazu kamen noch große Mengen von Kalk, Kainit, Lehm und Kuhdung.
Nach einigen schwierigen Anfangsjahren steigerten sich die Ernteerträge immer mehr. Im Jahre 1910 konnte eine Rekordernte eingebracht werden: 148 876 Kilogramm. Die Genossenschaft beschloß, für die Abteilung Obstverwertung ein neues Betriebsgebäude mit einer modernen technischen Ausstattung zu errichten. Bereits im Frühjahr 1912 konnte der Neubau fertiggestellt werden. Obwohl die Edener Produkte | |||||
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aufgrund ihrer sorgfältigen
Verarbeitung und Naturreinheit keine Konkurrenz zu fürchten hatten, unterschieden sie sich
damals preislich wenig von den Erzeugnissen ihrer Wettbewerber, die Waren
minderer Qualität anboten. Die Edener Produkte hatten inzwischen einen solchen Ruf erlangt, daß es sich erforderlich machte,
die Erzeugnisse ab 1915 mit einer Schutzmarke zu versehen. Einige Händler waren
nämlich dazu übergegangen, die Aufmachung
der Edener Verpackung nachzumachen. Die Schutzmarke besteht aus drei
stilisierten Bäumen in einem Wappen, die
symbolisch für die drei Reformrichtungen stehen
sollten, denen Eden sich verpflichtet fühlte:
der Lebensreform (Selbstreform), der Bodenreform und der Wirtschaftsreform.
9)
Ab 1925 konnten die Umsätze erheblich gesteigert werden, was auch auf die sich in dieser Zeit erhöhende Zahl der Reformhäuser in Deutschland und den damit verbundenen Ausbau des Großhandels zurückzuführen ist. Hinzu kam der zunehmende Absatz der »Eden- Pflanzenbutter« einer auf Veranlassung des Arztes Friedrich Landmann (18641931) ab 1908 in einer Duisburger Firma hergestellten und von Eden aus versandten reinen Pflanzenmargerine ohne Milchzusatz und Konservierungsmittel. Allen drei genossenschaftlichen Wirtschaftsbetrieben war gemeinsam, daß sie sich nicht vorrangig den sonst üblichen kommerziellen Gesichtspunkten unterord- | neten. Sie dienten in erster Linie der Arbeitsbeschaffung und somit der Sicherung des Siedlungsunternehmens überhaupt. Alle Anstrengungen liefen darauf hinaus, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. »Der Mensch vor Geld und Maschine« , so lautete die Losung, besonders in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Der Arbeitsbeschaffung wurden alle anderen Interessen untergeordnet. Waren 1924 in allen genossenschaftlichen Betrieben nur 32 Stamm und 13 Saisonarbeiter beschäftigt, die Verwaltung eingeschlossen, so konnten 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, 127 Arbeitskräfte fest und 58 als Saisonarbeiter eine Arbeit finden. Um den bis dahin in auswärtigen Betrieben beschäftigt gewesenen, inzwischen arbeitslos gewordenen Siedlungsbewohnern eine Arbeitsmöglichkeit zu bieten, entschloß sich der Vorstand, ein umfangreiches Arbeitsbeschaffungs- Programm aufzustellen, das mit freiwilligen Lohnkürzungen aller in den Genossenschaftsbetrieben Arbeitenden finanziert werden sollte. Diese Form der »genossenschaftlich- gesinnungsmäßigen Geldbeschaffung« wurde tatsächlich von der Belegschaft angenommen. Die als Edener Notstandsarbeiten durchgeführten Arbeitsbeschaffungs- Maßnahmen beinhalteten die Instandsetzung von Wegen, Plätzen und Anlagen sowie den Bau eines Badebeckens und Bootshafens auf dem Edener Gelände am Oranienburger Kanal. | |||
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Die progressive Dimension dieser
genossenschaftlich organisierten Modellgemeinde kommt auch auf dem Gebiet der
alternativen individuellen Lebensführung
(Selbstreform) zum Ausdruck. Auf diese Praxis sind die sensationell niedrigen Säuglings
und Kindersterblichkeitsziffern
zurückzuführen, die hier bis 1924 in einer
Ernährungsuntersuchung ermittelt wurden. Eden hatte
die niedrigste Säuglingssterblichkeit, die bis
zu jenem Zeitpunkt in einem modernen Industrieland registriert werden konnte. Von
den bis 1924 in der Siedlung geborenen 165 Kindern sind nur sechs im ersten
Lebensjahr gestorben. Kein einziger Todesfall war
bei den bis dahin die Edener Reformschule besuchenden 330 Kindern zu beklagen.10)
Wenn auch Eden als Genossenschaft im weiteren Entwicklungsverlauf bis 1933 zu einer wirtschaftlich selbständigen und erfolgreichen Siedlung heranwuchs bereits 1919 war die Siedlungsfläche durch umfangreiche Landkäufe erheblich erweitert worden , so mußten die Genossenschaftspioniere spätestens 1933 resignierend das Scheitern der mit dem Edener Beispiel gehegten Erwartungen auf eine Reform der gesamten Gesellschaft eingestehen.11) Während der Herrschaft des Nationalsozialismus konnte deshalb eine weitgehende Vereinnahmung der lebensreformerischen Ideale durch die neuen Machthaber erfolgen. Daß die Ideale und Praktiken des neuen Regimes mit den Wertvorstellungen, wie sie bis dahin in Eden | vorherrschend gewesen sind, im wesentlichen nicht korrespondierten, war den meisten parteipolitisch unerfahrenen
Edenern vorerst nicht bewußt. Die vegetarische Lebensweise Adolf Hitlers und die damit vermutete ethische Orientierung des
»Führers« versperrte einigen Edenern den
Blick für die Realität.
Wurden mit dem Nationalsozialismus die humanistischen, demokratischen und emanzipatorischen Gründungsziele der Protagonisten Edens pervertiert, so erfolgte nach 1945 die Beseitigung der ökonomischen Selbständigkeit dieser einst blühenden Kolonie. Die Einführung der Planwirtschaft in der 1949 gegründeten DDR verhinderte alle eigenständigen Initiativen. Es durfte fortan in Eden nur noch das produziert werden, was der Volkswirtschaftsplan vorgab. Diese Entwicklung fast vorhersehend, hatten bereits 1950 Edener Genossen die spätere »EDEN-Waren GmbH« mit Sitz in Bad Soden (Taunus) gegründet. Diese Gründung erfolgte vor allem, um den Namen EDEN und das Warenzeichen zu schützen. Außerdem sollte dem alten Edener Kundenkreis wieder die volle Palette der ehemaligen Edener Produkte angeboten werden können. Nach dem Mauerbau war die Zusammenarbeit zwischen der Genossenschaft und der EDEN-Waren GmbH unterbrochen. Das führte dazu, daß der Einfluß Edens auf den Bad Sodener Betrieb immer weiter zurückging. Kurz vor der Wiedervereinigung war die | |||||
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Genossenschaft lediglich mit 17 Prozent
an diesem Unternehmen beteiligt.12) Die
Erwartungen, die man in Eden hinsichtlich einer Investition der westdeutschen Partner in
die 1972 enteignete, nun
zurückübertragene Obstverwertungsanlage hegte, sollten enttäuscht werden. Völlig
überraschend kam für Eden dann der von den
Mitgesellschaftern eingeleitete Verkauf der EDEN-Waren GmbH an die Schweizer Sandoz AG.
Die Siedlung konnte zu Pfingsten 1993 mit zahlreich erschienenen Freunden und Gästen ihr 100jähriges Bestehen festlich begehen, was Anlaß genug war, die Geschichte Edens Revue passieren zu lassen, und mancher fragte: quo vadis Eden wohin gehst du? Wird man hier den bodenreformerischen Ansatz aufgeben, die Bodenfläche zur Freude der Bodenspekulanten privatisieren und die Genossenschaft auflösen? Vorschläge, die in diese Richtung zielen, hat es bereits gegeben. Die große Mehrheit der Eden- Genossen läßt aber die Bereitschaft erkennen, wieder an Elemente der ursprünglichen Siedlungsidee anzuknüpfen, auch wenn das heute nur noch partiell möglich ist. Quellen :
| lung in Berlin nebst einem Anhang. Erster
Teil, Berlin 1911, S. 79
3 Der Mensch. Organ des Deutschen Bundes für Lebensreform, Berlin 1904, S. 2 4 Bruno Wilhelmi: Aufruf, Obstbaugenossenschaft betreffend, In: »Vegetarische Rundschau«, Berlin 1892, S. 281 5 Franz Oppenheimer: Wege zur Gemeinschaft. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. I, München 1924 S.499 6 Eden. Monatsschrift mit Bildern, Oranienburg- Eden 1932, S. 95 7 Otto Jackisch: Die Entwicklung des Bodenrechts für die Heimstätten in Eden, In: Die Obstbausiedlung Eden eGmbH in Oranienburg in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, Vorstand der Obstbausiedlung Eden eGmbH (Hrsg.), Oranienburg 1920, S. 62 8 Eden. Monatsschrift mit Bildern. Oranienburg- Eden 1932. S. 132 9 Edener Mitteilungen. Zwanglose vierteljährliche Nachrichten der Obstbau- Kolonie »Eden« eGmbH Oranienburg bei Berlin an ihre Mitglieder, Förderer und Freunde. Oranienburg- Eden 1915, S. 25 10 M. Hindhede/F. Landmann: Ernährungsuntersuchungen in der Obstbausiedlung Eden bei Berlin, Dresden 1924, S. 7 11 Adolf Damaschke: Was Eden über Eden hinaus lehrt, In: Eden. Monatsschrift mit Bildern, Oranienburg- Eden 1933, S. 139 f. 12 100 Jahre Eden. Eine Idee wird zur lebendigen Philosophie. (Festschrift), Eden- Genossenschaft e. G. (Hrsg.), Oranienburg/Berlin 1993, S. 31 | |||
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© Edition Luisenstadt, 1997
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