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(1767–1845) wirkte er im geistigen Leben seiner Zeit ähnlich gemeinsam wie die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt (1769–1859; 1767–1835) oder Jacob und Wilhelm Grimm (1785–1863; 1786–1859). Nach dem Studium in Göttingen (1790) und Leipzig (1791–1794), wo er sich mit den Rechten, alten Sprachen und der Philosophie befaßte, versuchte er sich als freier Schriftsteller. Vor allem wollte er frei sein. In einem Brief aus dem Jahre 1793 heißt es: »Ich sehe die offenbare Unmöglichkeit ein, mich itzt in ein bürgerliches Joch zu schmiegen, um einen dürftigen Lohn meinen Geist, das bessere Teil meines Lebens unwiederbringlich hinzuopfern, ohne Ersatz, ja! ohne Linderung des harten Schicksals.« So arbeitete er an verschiedenen Periodika Schillers und Reichardts mit. Die Verbindung mit Johann Friedrich Reichardt war es auch, die ihn im Juli 1797 nach Berlin kommen ließ. Zwischen 1798 und 1800 gab er gemeinsam mit seinem Bruder die Zeitschrift »Athenaeum« heraus, die in Berlin erschien. Im Zusammenhang mit dem dabei entstandenen »Jenaer Kreis« übersiedelte Schlegel nach Jena. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) schrieb darüber 1799 verzweifelt an seine Frau: »Friedrich Schlegel, der mit der sehr interessanten Jüdin, Mad. Veit, von der ich Dir schon geschrieben habe, vereinigt lebt (dies unter uns: es ist Geheimnis), will den Winter nach Jena; ich kann dies nicht wünschen noch
Eberhard Fromm
Ästhet der Romantik

Friedrich von Schlegel

Als Friedrich von Schlegel 1797 nach Berlin kam, stand eigentlich die Mitarbeit an der Zeitschrift »Lyzeum der schönen Künste« im Mittelpunkt. Doch die Zusammenarbeit mit dem Herausgeber Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) hielt nicht allzu lange an. Dafür knüpfte er jedoch neue, interessante Kontakte, vor allem über die Berliner Salons, so den Salon von Henriette Herz (1764–1847). In dem Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) gewann er einen echten Freund, er fand Zugang zu dem Kreis um den Dichter Ludwig Tieck (1773–1853), und – er lernte seine spätere Frau Dorothea Veit (1763–1839) kennen, eine Tochter des Berliner Philosophen Moses Mendelssohn (1728–1786). Obwohl er nur wenige Jahre in Berlin verbrachte, gehörten sie zur erlebnisreichsten Zeit seines widersprüchlichen Lebens.

Ein »umgekehrter Prophet«?

Friedrich von Schlegel wurde am 10. März 1772 in Hannover in der Familie eines protestantischen Theologen geboren. Mit seinem fünf Jahre älteren Bruder August Wilhelm

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zulassen; ich bin dann in Berlin völlig verlassen.«
     Doch Schlegel ging nach Jena, ließ sich aber – nach dem Zerfall des Jenaer Kreises – schon 1802 als Privatdozent in Paris nieder. Hier widmete er sich intensiv dem Studium der Literatur und der indischen Sprachen. Davon zeugt die Untersuchung »Von der Sprache und Weisheit der Inder« (1808),
mit der in Deutschland das dann anhaltende Interesse an indischer Kultur und Literatur weckte. Wenige Jahre nach seiner Heirat mit Dorothea Veit im Jahre 1804 trat er – der Protestant – 1808 in Köln zum katholischen Glauben über. Bald darauf wurde er österreichischer Staatsbeamter und vertrat beispielsweise zwischen 1815 und 1818 als österreichischer Legationsrat die Interessen Metternichs (1773–1859)
am Deutschen Bundestag in Frankfurt am Main. Er starb am 12. Januar 1829 in Dresden.
     Heinrich Heine (1797–1856) gab in seiner »Romantischen Schule« eine der wohl interessantesten Charakteristiken Schlegels: »Friedrich Schlegel war ein tiefsinniger Mann. Er erkannte alle Herrlichkeiten der Vergangenheit, und er fühlte alle Schmerzen der Gegenwart. Aber er begriff nicht die Heiligkeit dieser Schmerzen und ihre Notwendigkeit für das künftige Heil der Welt. Er sah die Sonne untergehn und blickte wehmütig nach der Stelle dieses Untergangs und klagte über das nächtliche Dunkel, das er heran-

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ziehen sah, und er merkte nicht, daß schon ein neues Morgenrot an der entgegengesetzten Seite leuchtete. Friedrich Schlegel nannte einst den Geschichtsforscher einen >umgekehrten Propheten<. Dieses Wort ist die beste Bezeichnung für ihn selbst. Die Gegenwart war ihm verhaßt, die Zukunft erschreckte ihn, und nur in die Vergangenheit, die er liebte, drangen seine offenbarenden Seherblicke.«

»Meine Naturform: Fragmente«

Wenn man von der deutschen Frühromantik spricht, dann ist man verpflichtet, zumindest die Namen Friedrich und August Wilhelm von Schlegel, Friedrich Freiherr von Hardenberg (Novalis, 1772–1801), Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) zu nennen. Dabei zählte Friedrich von Schlegel wohl zu den theoretischen Köpfen dieser literarischen Bewegung. Er kannte die philosophischen Arbeiten Fichtes und Schellings (1775–1854), er analysierte das Werk Goethes (1749–1832), er verteidigte die Positionen von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und Georg Forster (1754–1794) als bedeutende »gesellschaftliche Schriftsteller«, als »revolutionäre Geister«. Bestimmend wurde sein Verhältnis zur Antike. Gegenüber dem bei Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) betonten Aspekt der Einfachheit und des Maßes hob Friedrich von Schlegel mehr

das Orphische und Dionysische in diesem Erbe hervor. In seinem Aufsatz »Über das Studium der griechischen Poesie« (1797) und dem ersten Teil einer »Geschichte der Poesie der Griechen und Römer »(1798) entwickelte er seine Ansichten von der Vereinigung des Modernen und des Antiken. Auf dieser Grundlage, verbunden mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart und einer idealen Vorstellung von einer zukünftigen harmonischen Menschheitsgesellschaft, schuf er sein Konzept von der Beziehung zwischen Poesie und Wirklichkeit in Gestalt einer progressiven »Universalpoesie«. Er gab damit der romantischen Bewegung ihre ästhetischen Grundlagen. Allerdings wandte er sich später einem Mystizismus zu, den er als »Verkündigung der Mysterien der Kunst und Wissenschaft« verstand, und versuchte eine neue Religion zu stiften, die ganz Magie sein sollte.
     Am Ende der 90er Jahre aber schuf er in Berlin in der besten frühromantischen Denkweise seinen einzigen Roman, der seither immer wieder Gegenstand von Kontroversen und Interpretationen ist. »Lucinde« – das Buch erschien 1799 – erzählt von den Freuden der Liebe, von den »Lehrjahren der Männlichkeit«. Das Publikum sah darin sofort die Darstellung der Beziehung zwischen Friedrich von Schlegel und Dorothea Veit, die denn auch am 8. April 1799 an Schleiermacher schrieb: »Oft wird mir es heiß und kalt ums Herz, daß das Innerste so heraus-
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geredet werden soll – was mir so heilig war, so heimlich, jetzt allen Neugierigen, allen Hassern preisgegeben.« Tatsächlich reichte die zeitgenössische Reaktion von offener Zustimmung und Verteidigung – so bei Fichte und vor allem bei Schleiermacher – über Zurückhaltung – so bei Bruder August Wilhelm – bis hin zum Verriß – Schiller (1749–1805) meinte, es charakterisiere den Autor, nur daß es ihn ins Fratzenhafte male – und zur offenen Kampfansage: In Göttingen wollte man »dem durch seine sittenverderblichen Schriften berüchtigten Friedrich Schlegel« sogar den Aufenthalt verbieten. Novalis schrieb in einem Brief vom 2. Februar 1799, daß es wohl nur wenige individuellere Bücher gebe als die »Lucinde«. Schlegel lebe und schwebe darin. »Man sieht das Treiben seines Innern wie das Spiel der chymischen Kräfte in einer Auflösung im Zuckerglase deutlich und wunderbar vor sich. Tausend mannigfaltige helldunkle Vorstellungen strömen herzu, und man verliert sich in einem Schwindel, der aus dem denkenden Menschen einen bloßen Trieb, eine Naturkraft macht, uns in die wollüstige Existenz des Instinkts verwickelt.« Novalis prophezeite dem Roman aber auch keine gute Aufnahme und meinte sarkastisch: »Sollte dies nicht eine Lektüre nur für den Meistergrad der Loge der Sittlichkeit sein?« Vor allem Schleiermacher verteidigte das Anliegen des Buches und veröffentlichte seine »Vertrauten Briefe über Friedrich Schle- gels Lucinde«. Dabei hatte er sehr wohl ein übergreifendes Emanzipationsstreben im Blick, wie es durch die Französische Revolution ausgelöst worden war.
     Im Schaffen Friedrich von Schlegels blieb »Lucinde« das einzige Werk, in dem er seine ästhetischen Ansichten umzusetzen versuchte. Und es blieb fragmentarisch, da er eigentlich eine Fortsetzung geplant hatte. Vielleicht war das auch eine Bestätigung seiner Selbsteinschätzung, die er einmal in einem Brief von 1797 an seine Schwägerin Caroline von Schlegel traf. Während er ihr die Rhapsodie und seinem Bruder die Masse als natürliche Form des Schaffens zuschrieb, hielt er Fragmente für die auf ihn selbst zutreffende Naturform. »Man erschwert sichs gewiß sehr, wenn man, besonders bey wenig Uebung, eine Form wählt, die Einem nicht natürlich und also nur durch große Kunst und Anstrengung erreichbar ist.« Betrachtet man Leben und Werk einiger der Frühromantiker – von Schlegel über Novalis bis Wackenroder –, dann könnte man fast geneigt sein, das Fragmentarische als Darstellungs-, ja als Lebensform zu akzeptieren.

Bildquelle: Archiv LBV

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Denkanstöße

(216) Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben. Selbst in unsern dürftigen Kulturgeschichten, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verlorenging, gleichen, spielt manches kleines Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle als alles, was diese trieb.

(424) Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, als eine unermeßliche Überschwemmung in der politischen Welt; oder als Urbild der Revolutionen, als die Revolution schlechthin. Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten als den Mittelpunkt und den Gipfel des französischen Nationalcharakters, wo alle Paradoxien desselben zusammengedrängt sind; als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsam-

sten Ahnungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikkomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind.
     Aus: Fragmente, In: Athenaeum, Bd. 1

Der häusliche Mensch bildet sich nach der Herde, wo er eben gefüttert wird, und besonders nach dem göttlichen Hirten; wenn er reif wird, so pflanzt er sich an, und tut Verzicht auf den törichten Wunsch, sich frei zu bewegen, bis er endlich versteinert ... Der bürgerliche Mensch wird zuvörderst ... nicht ohne Mühe und Not zur Maschine gezimmert und gedrechselt. Er hat sein Glück gemacht, wenn er nun auch eine Zahl in der politischen Summe geworden ist, und er kann in jeder Rücksicht vollendet heißen, wenn er sich zuletzt aus einer menschlichen Person in eine Figur verwandelt hat. Wie die einzelnen, so die Masse. Sie nähren sich, heiraten, zeugen Kinder, werden alt, und hinterlassen Kinder, die ebenso leben, und ebensolche Kinder hinterlassen, und so ins Unendliche fort ... Die Menschheit läßt sich nicht inokulieren, und die Tugend läßt sich nicht lehren und lernen, außer durch Freundschaft und Liebe mit tüchtigen und wahren Menschen und durch Umgang mit uns selbst, mit den Göttern in uns.
     Aus: Über die Philosophie. An Dorothea, In: Athenaeum, Bd. 3

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Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltende System der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang ... Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden.
     Aus: Kritische Schriften, München, o. J., S. 37

Kann eine neue Mythologie sich nur aus der innersten Tiefe des Geistes wie durch sich selbst herausarbeiten, so finden wir einen sehr bedeutenden Wink und eine merkwürdige Bestätigung für das, was wir suchen in dem großen Phänomen des Zeitalters, im Idealismus! Dieser ist auf eben die Weise gleichsam wie aus Nichts entstanden, und es ist nun auch in der Geisterwelt ein

fester Punkt konstituiert, von wo aus die Kraft des Menschen sich nach allen Seiten mit steigender Entwicklung ausbreiten kann, sicher, sich selbst und die Rückkehr nie zu verlieren. Alle Wissenschaften und alle Künste wird die große Revolution ergreifen. Schon seht ihr sie in der Physik wirken, in welcher der Idealismus eigentlich schon früher für sich ausbrach, ehe sie noch vom Zauberstab der Philosophie berührt war. Und dieses wunderbare große Faktum kann euch zugleich ein Wink sein über den geheimen Zusammenhang und die innere Einheit des Zeitalters. Der Idealismus, in praktischer Absicht nichts anderes als der Geist jener Revolution, die großen Maximen derselben, die wir aus eigener Kraft und Freiheit ausüben und ausbreiten sollen, ist in theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch nur ein Teil, ein Zweig, eine Äußerungsart von dem Phänomen aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden. Sie muß, wie die Sachen stehen, untergehen oder sich verjüngen.
     Ebenda, S. 306 ff.
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