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24 Probleme/Projekte/Prozesse![]() | Heinrich Wolfgang Seidel ![]() ![]() |
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Klaus Goebel
Der Prediger vom Deutschen Dom Heinrich Wolfgang Seidel, ein wiederzuentdeckender Berliner Schriftsteller Sein Leben ist mit der Hauptstadt
verknüpft, auch wenn er jetzt, wie es scheinen mag,
in einer bevorzugteren Landschaft wohnt.
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Doch hatte Heinrich Wolfgang Seidel zu
Lebzeiten einen festen Leserstamm besessen, auch wenn er stets im Schatten seines
Vaters Heinrich (»Leberecht Hühnchen«) und
seiner Frau Ina stand.
Seinen Vater schildert Sohn Georg, der als Journalist dem Ruf einer schreibenden Familie treu blieb, in zwei Berufen: als Pfarrer und als Schriftsteller. Außerdem habe er eine Art von Oeuvre geschaffen, das im beginnenden 20. Jahrhundert seinesgleichen suche. Er habe es sozusagen versehentlich geschrieben, Briefe, sehr viele Briefe, sprachlich und inhaltlich von gediegener Qualität. Schon die frühesten Schreiben aus den Studienorten Marburg und Leipzig und anschließend aus dem Vikariat in dem uckermärkischen Städtchen Boitzenburg seien Exempel detaillierter literarischer Reportage und funkelten von Leben und treffender Beobachtung. Ina Seidel hat diese Briefe ihres Mannes aus jungen Jahren posthum in zwei Bänden herausgebracht (»Drei Stunden hinter Berlin«, »Um die Jahrhundertwende«). Später folgte ein dritter unter dem schmucklosen Titel »Briefe 19341944«. Als Seidel im Frühjahr 1934 nach fast 30 Amtsjahren pensioniert wurde, hatten neben viel Ärger über die NS-nahen »Deutschen Christen« gesundheitliche Gründe den Ausschlag gegeben. Er folgte seiner Frau nach Starnberg am See. Ina hatte dort aus dem Ertrag ihrer Bücher, vor allem des zu- | ||||||
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letzt erschienenen und überaus erfolgreichen Romans »Das Wunschkind«, ein Haus gebaut. In Berlin und zuvor in Eberswalde hatte er seinen beruflichen Pflichten manche Erzählung abgetrotzt. Doch der Roman »George Palmerstone« brauchte sieben Jahre bis zum Druck. Namens der Familie hatte Seidel auch die Neuauflagen der Arbeiten des Vaters betreut, der schon 1906 verstorben war, aber noch lange als lesenswerter Autor galt. Im neuen Lebensabschnitt am Starnberger See sollte sich Seidel dann auf einem Gebiet entfalten, in dem er
Jahrzehnte Zurückhaltung hatte üben müssen: als Briefschreiber.
Zunächst führt er einige Prosaarbeiten zu Ende, die ihn schon länger beschäftigt hatten, allen voran »Krüsemann«, den Roman, der versponnenbesinnlich an Wilhelm Raabe erinnert. Biblische Meditationen und psychologische Beobachtungen aus dem Pfarrer- Alltag fügt er zu dem Essay- Band »Das Unvergängliche« zusammen und gibt einer Sammlung von Bildnissen aus der Kunstgeschichte unter dem Titel »Antlitz vor Gott« einen theologisch- philosophischen Kommentar. |
Heinrich Wolfgang Seidel in Starnberg um 1935 | ||||
Eine Fontane- Biographie hat großen Erfolg, ebenso eine Auswahl Fontanescher Gedichte. Aber je länger, um so weniger konkurriert der Pensionär mit der pausenlos klappernden Schreibmaschine seiner Frau, die an Erzählungen, Gedichten und Essays arbeitet und deren »Lennacker« die Wunschkind- Familiensaga fortführen |
soll. Seidel sieht sich zunehmend mit der Beantwortung von Briefen befaßt, besinnt sich auf alte und gewinnt neue Briefpartner, angefangen bei seinem Sohn, dem Internatsschüler und späteren Frontsoldaten Georg.
Diese Arbeit schlägt sich in 35 Bänden |
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eines Tagebuchs der Briefe und Aufzeichnungen nieder und enthält mehr als 5 000 Briefe aus dem Jahrzehnt bis 1944. Jeden Brief schreibt Seidel in seiner kleinen, deutlichen Handschrift zunächst in dieses Buch, um ihn sodann abzutippen und in dieser Form abzuschicken. In die Episteln an ehemalige Berliner und Eberswalder Gemeindemitglieder, Schriftstellerkollegen, Verwandte und Bekannte verwebt der Schreiber Lebenserfahrungen mit meditierenden Gedanken und aktuellen Beobachtungen. | |||||
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»Ich vermute«, so wendet er sich einmal an Geheimrat Hans Frick, Berlin- Lichterfelde, Unter den Eichen, »daß es neben dem Längenmaß der verrinnenden Zeit noch ein anderes (Maß) gibt, nämlich das der Leere oder der Gefülltheit unserer Existenz, das Maß des wirklich aus dem Innersten gelebten Lebens.« Aus der überquellenden Fülle innerer Bilder gibt Seidel, was er zu geben vermag, und seine Korrespondenzpartner sind dafür dankbar.
Gegen die Deutschen Christen Unerfreulichkeiten der 1933/34 ausklingenden Dienstzeit personifizierten sich vor allem in einem Amtsbruder, der für die nationalsozialistisch unterwanderten Deutschen | |||||
Liebe Eltern!
Eigentlich hebe ich doch nicht gemerkt, wie der Sommer gekommen ist; ich wollte darauf aufpassen, aber er ist vielleicht in der Nacht mit dem Omnibus erschienen und nun auf einmal da. Mit brütender Glut lagert er über Boitzenburg; das Gras um die Kirche ist plötzlich ellenlang, der Hafer rauscht unermüdlich und eine grüne Fliederwildnis weht unter meinem Fenster und beginnt heimlich zu blühen. Handschrift H. W. Seidels aus einem Brief an die Eltern in Groß- Lichterfelde.
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Christen in der Gemeinde der Neuen Kirche ungeniert Propaganda machte. »In den meisten Dingen stehe ich wie die Bekenntniskirche«, schreibt Seidel im September 1935 einem Freund, »in so gut wie gar keinen wie die Front der Deutschen Christen, die ich teils für christlich angepinselte Heiden, teils für oberflächliche Konfusionsräte halte irre ich mich da, um so besser.« Aber er kritisiert unumwunden auch die Bekennende Kirche. Sie vergesse oft, was Jesus unter einem Bekenntnis verstanden habe, »nicht eine Verpflichtung auf gewisse Bekenntnisse entfalteten Glaubens, sondern das Tun des Willens Gottes«. |
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Heinrich Wolfgang Seidel zwischen seiner Mutter Agnes (links) und seiner Braut Ina in Groß- Lichterfelde, Boothstraße 29, am 8. August 1906. Der handschriftliche Gruß aus der Feder des Vaters Heinrich Seidel lautet: »Was ist die Pyramide des Cheops gegen diese? Es grüßt Vater Heinrich Seidel und Mutter Agnes Seidel.« | ||||
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Dem Nationalsozialismus und seinem Führer steht Seidel abwartend gegenüber. Der Sproß von Generationen national empfindender Bürger nimmt das Regime als Obrigkeit hin, die man nicht in Frage stellt, wie Millionen auch. In welcher Weise sich Seidel und seine Frau Fragen gestellt haben, die ihnen das NS-Regime in den 30er Jahren aufgab, ist in beider Nachlaß noch aufzuarbeiten. Heinrich Wolfgang scheint | reservierter als Ina gewesen zu sein, die sich gleichwohl ebenfalls nicht als Parteigängerin eignete und ebensowenig wie ihr Mann in die Partei eintrat. Georg Seidel setzte sich in den Skizzen seiner Familiengeschichte (»Die Seidels«) mit der Tatsache auseinander, daß Ina jedoch eine Treuekundgebung für Hitler unterschrieben und ein Huldigungsgedicht auf den Führer verfaßt hatte. Die Texte seiner Mutter seien von einem apolitischen Wandervogel- oder Wunderglauben bestimmt gewesen. | ||||
| Der »Lennacker«- Roman habe dann in eine andere, den Machthabern wenig genehme Richtung gewiesen. 1945 räumt Ina ein, »von 1932 an für einige Zeit der Suggestion der nationalsozialistischen Parolen erlegen« zu sein. Zu jüdischen und pazifistisch empfindenden Freunden hat sie sich immer bekannt, ihr Mann erst recht. Mit dem Krieg, so Georg, seien der Mutter die Augen aufgegangen »und damit eine tiefe Verzweiflung über ihre Blindheit«. | ||||
Ina und Heinrich Wolfgang Seidel in Starnberg, 1938 |
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Schriftstellerkollegen
Seit Kindheitstagen war Seidel mit Literatur vertraut und mit Poeten persönlich
bekannt. An der Hand des Vaters wurde er im Tiergarten dem alten Fontane vorgestellt.
Die Edition des Briefwechsels, den Friedrich Eggers, Freund Heinrich Seidels im Schriftstellerverein »Tunnel über der Spree«,
mit Theodor Storm geführt hatte, war 1911 als sein erstes Buch herausgekommen.
| eine Generation Älteren, mit dem er
den Pfarrerberuf und die literarische Berufung teilte.
Doch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs wird manche Verbindung lockerer, manche zerschlägt sich ganz. Bomben zerstören die Stätten, wo Seidel aufgewachsen war. Unbehaglich wird für die Zivilbevölkerung die wachsende Bedrohung der Städte aus der Luft. Seidel ist ein sorgfältiger Chronist der Angriffe auf München und Umgebung und hält fest, was er in dieser Beziehung aus Berlin und Hamburg erfährt. »Wie seltsam ist das, wenn so nach und nach die Architektur der Kindheit und Jugend, die ja doch dauerhafter zu sein pflegt als der Mensch selber, zu eigenen Lebzeiten weggewischt wird wie die Schrift auf einer Schiefertafel.« Mit dem Elternhaus Am Karlsbad 11 verbinden sich die Erinnerungen an die Kindheit, »es war auch als Meisterwerk von Gropius mit der seltenen Sgraffitoarbeit Försterlings wert, zu dauern. In meinem Herzen aber wird es weiter stehen, nun aus Phantasiesteinen gebaut im märchenhaften Reich des Vergangenen, schöner, als es war, ganz bestrahlt von Liebe; und nach wie vor werde ich jene Gestalten sehen, die zu uns die Treppe hinaufschritten oder die man doch vor der Tür von Karl Eggers traf: Großvater und Großmutter, meine Schwester Klärchen, Theodor Storm, Fontane, Mark Twain, Trojan sie alle.« Zum Jahresbeginn 1944 klagt er Goes weitere unwieder- | |||||
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bringliche Opfer: »Meine Kirche auf
dem Gendarmenmarkt, in der ich elf Jahre auf der Kanzel stand, ist ein
Trümmerhaufen! Dreifaltigkeit ist ausgebrannt, aber der
marmorne Schleiermacher steht noch unbeschädigt davor.« Annie (die Schwester
seiner Frau) und Peter Suhrkamp hätten alles verloren. Die alte Tante Elsbeth Seidel sei gerettet, »hinter ihr lodert Schloß
Monbijou, in dem einst mein Onkel das Hohenzollernmuseum leitete, und am Eingang des
Monbijouparkes stehen zwei geschwärzte Engel, herabgestürzt von ihren Postamenten
und mit flehend erhobenen Händen«.
»Alles Leid ist wesenlos geworden« Die gesundheitliche Verfassung verschlimmert sich durch solche psychischen
Lasten. Eine Krebskrankheit, die
fälschlicherweise als »Strahlenpilzinfektion« gedeutet
wird, macht ihm zunehmend zu schaffen. Ihr sollte er, wie der Vater Heinrich in seinem 63. Lebensjahr 1906 und später, 1992, auch sein Sohn Georg, nur zu bald erliegen.
| Helmuth: »So lebt man von den Toten und ist ihnen dankbar. Alles schien unendliche Vergangenheit zu sein, von
grenzenlosem Frieden behütet. So wirkt es heute auf
uns, obwohl Hoffmann durch alle Schrecken des Krieges und der dem Kriege folgenden Nöte hindurchgeweht wurde, Robertson
seelischen Jammer und allerschwerstes Sterben erfuhr, Storm jahrelang ein Flüchtling
ohne Heimat war und daß der alte Raabe
kein leichtes Leben hatte, ist bekannt. Es ist wohl der Gedanke, daß alles Leid dieser Menschen jetzt wesenlos geworden, der
sie uns als so glückselig, ja, fast
beneidenswert erscheinen läßt.«
Am 22. September des darauffolgenden Jahres 1945 stirbt Heinrich Wolfgang Seidel in einem Münchener Krankenhaus. Für die Briefzitate ist der Nachlaß, teils im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., teils im Privatbesitz befindlich, herangezogen worden; außerdem wird aus »Briefe 19341944«, herausgegeben von Ina Seidel, Eckart- Verlag Witten/ Berlin 1964, zitiert. Bildnachweis:
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© Edition Luisenstadt, 1997
www.luise-berlin.de