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Hainer Weißpflug
An einer Eiche lehrte er das Turnen

Friedrich Ludwig Jahn
1778–1852

In Neukölln, in der Fontanestraße/Ecke Karlsgartenstraße, am Volkspark Hasenheide, steht eine mächtige alte Stieleiche (Quercus robur). Mit ca. 5,0 Meter Stammumfang, einer Höhe von ca. 25 Metern und einem Alter von annähernd 500 Jahren ist die Eiche ein Denkmal der Natur und natürlich als Naturdenkmal geschützt. Unter der Nummer NDM XIV–1/B ist sie in der Verordnung zum Schutz von Naturdenkmalen in Berlin vom 2. März 1993 registriert. Zugleich ist sie ein Denkmal der Geschichte. Sie trägt den Namen des berühmten Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), der hier, im heutigen Volkspark Hasenheide, 1811 zusammen mit dem späteren Turnpädagogen Karl Friedrich Friesen (1784–1814) den ersten öffentlichen Turnplatz in Berlin und Preußen einrichtete. An den Ästen dieser Eiche, so wird berichtet, soll Jahn seinen jungen Turnern Reckübungen beigebracht haben. Eine Gedenktafel erinnert an dieses historische Ereignis: »Hier stehst du an der Geburtsstätte des deutschen Turnens. Turnvater Jahn

Friedrich Ludwig Jahn
richtete 1811 an dieser Stelle der Hasenheide den ersten deutschen Turnplatz ein.« Friedrich Ludwig Jahn gilt als Begründer der deutschen Turnbewegung.
     Jahn wurde am 11. August 1778 in Lanz bei Lenzen in der Westprignitz geboren. Nach dem damals üblichen Unterricht im Elternhaus besuchte er von 1791–1794 das Gymnasium in Salzwedel. 1794 kam Jahn nach Ber-
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lin und wurde am 27. September Schüler der Klein-Prima am Grauen Kloster, damals Berlinisch- Köllnisches Gymnasium genannt. Friedrich Gedicke (1754–1803), der zu dieser Zeit Direktor war, verwirklichte die Ideen seines Vorgängers Anton Büsching (1727–1793) und verwandelte das Gymnasium in eine Musteranstalt moderner Schule. Er verhalf ihr zu einem guten Ruf im Berliner geistigen Leben und über Berlins Grenzen hinaus. Aber das hohe Niveau dieser Einrichtung und ihrer Lehrer war wohl nicht nach Jahns Geschmack. Im April 1795 verschwand er so überraschend aus Berlin, wie zuvor vom Gymnasium in Salzwedel. Mehrere Anekdoten über sein Verschwinden sind überliefert. Jahn habe am 17. April 1795 seine Kleider am Schafgraben vor dem Cottbusser Tore niedergelegt und sich aus Berlin entfernt. So entstand der Eindruck, er sei verunglückt. Direktor Gedicke ließ Tage später in den »Berliner Blättern« mitteilen, Jahn sei ertrunken. Er bat um Benachrichtigung, falls der Leichnam gefunden werden würde. Derselbe Gedicke soll sehr aufgebracht gewesen sein, als sich herausstellte, daß Jahn nicht ertrunken war, sondern in Halle weilte.
     Ein Ersuchen für eine Stelle als Hochschullehrer lehnte der damalige Preußische Kultusminister Wihelm von Humboldt (1767–1835) ab. Er empfahl Jahn zunächst, an einer Schule zu unterrichten. Aber er bestand die Prüfung nicht, die er vor einer
Kommission unter Vorsitz Friedrich Schleiermachers (1768–1834) ablegen mußte. Jahn wurde deshalb von Humboldt dem Seminar für Gelehrte Schulen am Grauen Kloster zugewiesen. So fand sich Friedrich Jahn an jener Stätte wieder, die er als Schein- Verunglückter verlassen hatte. Das war 1810. Johann Joachim Bellermann (1754–1842), zu dieser Zeit Direktor, versuchte, seinen Teil zum bevorstehenden Kampf gegen das bedrückende napoleonische Joch zu leisten, und holte ausgezeichnete Lehrer und Größen des preußischen Geisteslebens nach Berlin. Darunter den Blindenpädagogen, Geographen und Germanisten Johann August Zeune (1778–1834), den Theologen Georg Karl Benjamin Ritschl (1783–1858), den Dichter und Übersetzer Karl Friedrich Kannegießer (1781–1864), den Schriftsteller und Geographen Christian Gottlieb Daniel Stein (1771–1830), den Grammatiker und Lexikographen Theodor Heinsius (1770–1849), den Dichter Karl Heinrich Giesebrecht (1782–1832) und viele andere mehr.
     In dieser geistigen Atmosphäre des Aufbruchs und der Erneuerung der deutschen Nation reifte Jahn als Persönlichkeit und Lehrer. Er verstand es schon bald, einen festen Schülerkreis um sich zu sammeln. Und er begann, seine Idee der Einrichtung eines Turnplatzes zu verwirklichen. Als Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster hatte er sich theoretisch mit der Bedeutung
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des Turnens befaßt. In seiner Schrift »Deutsches Volkstum« bezeichnete er Leibesübungen als Bestandteil der Volkserziehung. Sie waren für ihn Kernstück der patriotischen Erziehung und der körperliche Ertüchtigung zum Widerstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Mit Schülern des Grauen Klosters zog Jahn seit 1810 an freien Nachmittagen in die Hasenheide, um mit ihnen zu turnen. Er selbst berichtete darüber:
»In schöner Frühlingszeit des Jahres 1810 gingen an den schulfreien Nachmittagen der Mittwoche und Sonnabende erst einige Schüler mit mir in Feld und Wald, und dann immer mehr. So ging es fort bis zu den Hundstagen, wo eine Anzahl von Knaben zusammenkam, die sich aber bald nachher verlief. Doch sonderte sich ein Kern aus, der auch im Winter als Stamm zusammenhielt, und mit dem dann im Frühjahr 1811 der erste Turnplatz in der Hasenheide eröffnet wurde. Jetzt wurde im Freien, öffentlich und vor jedermanns Augen, von Knaben und Jünglingen mancherlei Leibesübungen unter dem Namen Turnkunst in Gesellschaft betrieben.« (Zur Erinnerung des Turnplatzes in der Hasenheide. Friedrich Ludwig Jahn zum Gedächtnis, o. O. u. J.)
     Am 19. Juni 1811, dem 1. Allgemeinen Turntag, wurde der Jahnsche Turnplatz offiziell eröffnet. Der Platz befand sich damals an der heutigen Lilienthalstraße, an der nordöstlichen Ecke des dortigen Friedhofs. An den später Karlsgarten genannten
Platz kam er erst 1812. Zu Jahns Schülern am Grauen Kloster, die den Stamm seiner Turnerriege bildeten, gehörten solche bedeutenden deutschen Turnpersönlichkeiten wie Ernst Wilhelm Eiselen (1792–1846), bekannt durch eine Vielzahl Veröffentlichungen zur Turnkunst, der spätere Oberlehrer am Grauen Kloster und Direktor des Köllnischen Realgymnasiums Ernst Ferdinand August (1795–1870), einer der Initiatoren des Wartburgfestes, und Franz Lieber (1800–1872), der Jahns Reden aufzeichnete und ein bekannter Publizist und Staats und Völkerrechtler wurde. Viele seiner Schüler wurden zu Begründern von Turnvereinen in anderen deutschen Städten. Unter Jahns Einfluß selbst entstand 1817 der Mainzer Turnverein und 1819 der Turnverein Basel. 1812 wurde in Berlin der »Turnkünstlerverein« zur Erforschung und Begründung des Turnens gegründet.
     Jahn betrachtete Turnen von Anfang an als Bestandteil der patriotischen Gesamterziehung der Jugend und deren Vorbereitung auf den Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Mit Freunden, mit denen er am Grauen Kloster und an der Plamannschen Erziehungsanstalt arbeitete, gründete er 1810 in Berlin den »Deutschen Bund«. Jahn wurde immer mehr zu einem der führenden Köpfe des Widerstandes gegen Napoleon. Er verfaßte Schriften gegen Napoleon und Aufrufe zum Widerstand, u. a. den »Aufruf an das Deutsche Volk« und »Das
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preußische Kriegsheer an die Deutschen jenseits der Elbe«. Jahn bereitete mit Unterstützung des Grauen Klosters die Aufstellung des Lützowschen Freicorps vor und wurde dessen erfolgreichster Werber. Später wurde er Offizier der Lützower, Kompaniechef und Batallionskommandeur. Jahn fühlte sich aber nicht zum Offizier berufen und wurde nach einem Brief an Gneisenau 1814 dem Freiherrn vom Stein für besondere Aufgaben zugeteilt.
     Nach dem Sieg über Napoleon kehrte Jahn 1814 nach Berlin zurück, wo er die Leitung der Turnanstalt übernahm, die bisher Wilhelm Bornemann geführt hatte und in der Jahns Schüler Eiselen als Lehrer wirkte. Jahn genoß in dieser Zeit großes Ansehen im Volk und bei den Herrschenden. Staatsminister Fürst von Hardenberg entsandte ihn zum Wiener Kongreß und später auch nach Paris.
     Auf Jahns Einfluß hin wurde 1815 die Deutsche Burschenschaft gegründet. 1816 gab er zusammen mit Eiselen das Buch »Die Deutsche Turnkunst« heraus und hielt seine berühmten 21 Vorträge über das »Deutsche Volkstum«, in denen er die deutsche Einheit in einem Rechtsstaat mit Verfassung forderte und die deutschen politischen und staatlichen Verhältnisse scharf kritisierte. Das rief die Gegner der deutschen Einheit und des Turnens auf den Plan. Zunächst wurde 1817 von Professor Franz Daniel Friedrich Wadzeck (1762–1823), Bibliothekar an der
Ritterakademie und beim Kadettenkorps, die »Berliner Turnerfehde« gegen Jahn vom Zaun gebrochen. Das Turnen gefährde Gesundheit und Moral. Ein Gutachten von Medizinalrat Dr. v. Koenen konnte allerdings das Gegenteil belegen, und so wurde der Angriff abgewehrt. Aber nach dem Wartburgfest vom Oktober 1817 verschärfte sich die Turnerfehde. König Friedrich Wilhelm III. stellte die Turnbewegung am 7. Dezember 1817 unter Polizeiaufsicht, und im März 1819 wurde das Turnen in der Hasenheide gänzlich untersagt. Als der Jenenser Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (1795–1819) den Schriftsteller und Staatsrat in russischen Diensten August von Kotzebue (1761–1819) ermordete, wurde die berüchtigte »Demagogenverfolgung« eingeleitet, zu deren Opfern auch Jahn gehörte.
Seiner Verhaftung in der Nacht vom 13. zum 14. Juni 1819 folgten Festungsjahre in Spandau, Küstrin und Kolberg. 1825 kam er frei, wurde aber unter Polizeiaufsicht gestellt. Per Kabinettsorder war ihm der Aufenthalt an Universitäten und Lehranstalten und in der Haupstadt verboten. Mit einer Königlichen Kabinettsorder wurde jegliches Turnen im Dezember 1819 untersagt und die Turnanstalten geschlossen.
Der Turnplatz in der Hasenheide verfiel, die Geräte wurden abgerissen, und schließlich wurde die Hasenheide zum Gardeschießplatz.
     Erst nach 1837 wurde das Turnen zunächst
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Handschriftliche Widmung Jahns, den Lützowern ins Stammbuch geschrieben
an höheren Schulen wieder als Unterricht eingeführt. 1842 hob Friedrich Wilhelm IV. die Turnverbote auf. Ab 1844 konnte in der Hasenheide wieder geturnt werden.
     Jahn verbrachte seinen Lebensabend in Kölleda und Freyburg an der Unstrut. 1848 trat er nochmals an die Öffentlichkeit. Er wurde Abgeordneter im Frankfurter Parlament. 1852 verstarb er im Alter von 74 Jahren.
     Außer der Jahneiche und der Gedenktafel erinnert im Volkspark Hasenheide ein Denkmal an den großen Patrioten Friedrich Ludwig Jahn. Der Grundstein zu diesem Denkmal wurde am 50. Jahrestag der Eröffnung des Jahnschen Turnplatzes, 1861, gelegt. Das aus Spenden finanzierte bronzene Standbild schuf Erdmann Encke. 139
Gedenksteine von Turnvereinen aus ganz Deutschland und aus dem Ausland wurden in den Sockel eingelassen. 1872 wurde das Denkmal eingeweiht. Jahns Ideen und Grundsätze des Turnens wurden erst nach der Jahrhundertwende vollständig verwirklicht. 1905 wurde Turnen in ganz Preußen Pflichtfach für Jungen und Mädchen.
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