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fanden Aufnahme in Turnabteilungen von Handwerker-, Bildungs- oder anderen Vereinen. Weil sie ihre politische Gesinnung nicht verhehlten, wurden sie jedoch auch hier häufig beargwöhnt, diskreditiert oder wie im hier geschilderten Falle gar wieder mit Ausschluß bedroht. So hegten viele Sozialdemokraten den Wunsch, neue Turnvereine zu bilden, in denen sie und ihre Sympathisanten das Sagen hatten.
     Doch das Sozialistengesetz untersagte auch dies.
     Erst als der Reichstag im Januar 1890 dessen Verlängerung ablehnte, wendete sich das Blatt. Offiziell verlor es zwar erst am 30. September desselben Jahres seine Gültigkeit, aber bis dahin wollten die besagten 12 jungen Männer nicht mit der Gründung eines neuen Turnvereins warten. Schon am nächsten Tag, am 6. August 1890, traten sie gemeinsam mit sieben weiteren Turnern zur formellen Konstituierung des Vereins zusammen. Auf der Suche nach einem treffenden Namen, verwarfen sie die Vorschläge »Eiche« und »Turnvater Jahn«, um sich dann auf den Namen Arbeiterturnverein »Fichte« zu einigen. Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hatte in seinen »Reden an die deutsche Nation« Worte geprägt, die den jungen Leuten in vielfacher Hinsicht imponierten: »... daß kein Mensch und kein Gott und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignissen uns helfen kann,
Günter Möschner
5. August 1890: Erster Berliner Arbeiterturnverein

Als »größter Roter Sportverein der Welt« bezeichnete er sich Ende der 20er Jahre voller Stolz - der Berliner Arbeitersportverein Fichte. Ebenso konnte er sich mit seinen rund 10 000 Mitgliedern und seiner Popularität durchaus mit allen anderen Sportvereinen Berlins messen. Dabei hatte seine Geburtsstunde sehr bescheiden an einer Parkbank im Friedrichshain geschlagen. Hier beratschlagten am 5. August 1890 12 junge Turner, unter denen sich Franz Gentz als Wortführer hervortat, wie sie auch künftig Sport treiben könnten. Denn die Turnabteilung des Berliner Handwerkervereins, dem sie angehörten, hatte ihnen den Ausschluß angedroht, weil sie als Sozialdemokraten nicht für die deutschen Fürsten zu deren 10. Deutschen Bundesschießen Spalier stehen wollten. Ähnliches war ihnen und vielen ihrer Gesinnungsgenossen schon einmal widerfahren. Der Deutsche Turnerbund hatte nämlich nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes von 1878 vielerorts Sozialdemokraten und ihnen nahestehende Arbeiter aus seinen Reihen ausgeschlossen. Manche von ihnen

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sondern daß allein wir selber uns helfen müssen, falls uns geholfen werden soll«.
     Sie konnten sich ja wirklich nur selbst helfen, zumal die Berliner Behörden zunächst alle Gesuche dieses Turnvereins auf Nutzung von Sportanlagen ablehnten. Deshalb richtete er sich seine erste Sportstätte in einer Lichtenberger Laubenkolonie selbst her. Zeitweilig schloß sich der Arbeiterturnverein »Fichte« trotz politischer Kontroversen der »Berliner Turnerschaft« an, um in deren Turnhallen üben zu können. Große Zustimmung fand es bei den Fichte-Sportlern, als Brandenburger Turner 1892 zur Bildung eines »Märkischen Arbeiter-Turnbundes« aufriefen. Noch im September gleichen Jahres veranstaltete dieser einen Turntag in Berlin, an dem Gäste aus mehreren anderen Städten teilnahmen. Dies wiederum wurde zum Ausgangspunkt für die Gründung des Arbeiter-Turn-Bundes Deutschlands im Mai 1893. Von den 42 Vereinen, die sich darin zusammenschlossen, galt »Fichte« als erster, stärkster und aktivster. Am 1. Juli 1900 zählte er 1 197 Mitglieder: 642 Männer, 416 Lehrlinge von 14 bis 18 Jahren und 139 Damen. Er war in neun Männer-, acht Lehrlings- und zwei Damenabteilungen gegliedert. Längst konnte man den Fichte-Turnern die Nutzung von Schulturnhallen und öffentlichen Sportplätzen nicht mehr versagen, zumal sie sich eines immer größeren Zustroms erfreuten.
     Anfang der 20er Jahre wirkte sich die
Spaltung der Arbeiterbewegung auch auf den Arbeitersport aus. Da sich »Fichte« zur Politik der KPD bekannte, traten die meisten Sozialdemokraten zur »Freien Turnerschaft Groß-Berlin« über. Dennoch erlebte »Fichte«, wie eingangs gesagt, in den folgenden Jahren seine Glanzzeit. Regelmäßige Übungsstunden in Turnhallen und auf Sportplätzen, Wettkämpfe an Sonntagen, Wanderungen mit Kind und Kegel, Ausflüge und Fahrten erfaßten Zehntausende Berliner. Mit Demonstrationen verbundene nationale und internationale Arbeiter-Spartakiaden, Aufmärsche mit eigenen Blaskapellen und Agit-Prop-Gruppen sorgten für Aufsehen und Popularität. Durch Vorträge und eine eigene Zeitschrift verbreitete »Fichte« Kenntnisse über politische Fragen wie auch über Körperkultur, Hygiene und Sexualität. In einem eigenen großen Sportgeschäft kauften nicht nur Fichte-Sportler ein.
     Mit der Machtergreifung der Faschisten wurden alle Arbeitersportvereine - die sozialdemokratisch orientierten ebenso wie »Fichte« - zerschlagen.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1996
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