22   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Nächstes Blatt
Bernhard Meyer
Für das Ideal sozialer Gerechtigkeit

Der »Verein sozialistischer Ärzte« 1913-1933

20 Jahre existierte mit unterschiedlichen Namen eine Vereinigung linker, sozialistisch orientierter Ärzte und Zahnärzte. Nach 1925 erreichte diese Gruppierung als »Verein sozialistischer Ärzte« (VSÄ) den höchsten Grad seiner Wirkung und Bekanntheit.
     Der Verein entstand in Berlin, das Gros seiner Mitglieder lebte und praktizierte in der Hauptstadt, weshalb der Verein gelegentlich auch als eine Berliner Institution mit einigen Ablegern im Reichsgebiet betrachtet wird. Innerhalb der mehrheitlich konservativ eingestellten über 52 000 Ärzte (1932) Deutschlands vereinigte der VSÄ selbst in seiner Blütezeit nur maximal 850 Mitglieder (1932). Demnach betrug der Anteil der VSÄ-Mitglieder an der Gesamtzahl der Ärzte und Zahnärzte in der Weimarer Republik lediglich ca. 1,33 Prozent.
     Dennoch stellt der Verein ein Phänomen dar: Innerhalb der zwischen Reform und Revolution schwankenden Arbeiterbewegung bot er den unterschiedlichen linken Strömungen angehörenden Ärzten Heimstatt für eine Blickrichtung auf das Gesundheitswesen.


Unter dem Dach des VSÄ sammelten sich rechte (Raphael Silberstein), zentristisch/ gemäßigte (Ignaz Zadek, Ernst Simmel, Georg Löwenstein) und linke Sozialdemokraten (Karl Kollwitz) ebenso wie die Thälmann-Kommunisten (Richard Schmincke, Martha Ruben-Wolf), rechtsopportunistische Kommunisten (Leo Klauber, Ewald Fabian, Minna Flake) und parteilose Linkssozialisten (Max Hodann, Felix Boenheim). Entgegen ideologischer Zerfahrenheit im linken Spektrum erstritten sie sich ihren Konsens aus sich lebhaft entwickelnden sozialhygienischen Ansichten heraus und in Sonderheit aus den Konsequenzen einer sozial-biologischen Betrachtungsweise des Menschen.

Unter Ernst Simmel blüht der Verein auf

1913 kurz vor dem Ersten Weltkrieg, gründeten knapp zwei Dutzend Berliner SPD-Ärzte den »Sozialdemokratischen Ärzteverein«.
     Federführend waren Ignaz Zadek (Vorsitzender), 1892 der erste sozialdemokratische Arzt als Stadtverordneter von Berlin, Karl Kollwitz (1863-1940), der Ehemann von Käthe Kollwitz (1867-1945) und Namensgeber der ehemals größten Poliklinik Ostberlins in der Grellstraße (Prenzlauer Berg) und der junge Assistenzarzt Ernst Simmel (1882-1947).

BlattanfangNächstes Blatt

   23   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
In den anhaltenden Streitigkeiten zwischen Ärzteschaft und den Krankenkassen um Honorarfragen und freie Arztwahl oder Zwangsarztsystem suchten sie mit dem Verein eine Organisationsform zum Austausch ihrer Ansichten zu den komplizierten Sachverhalten zu finden.
     Als sich 1917/18 aus der Sozialdemokratie heraus andere Parteien (USPD, KPD) entwickelten, stand der sozialdemokratische Verein vor einer Zerreißprobe. Die Mitglieder einigten sich auf eine linke Ärztevereinigung (statt drei oder mehr) unter dem Namen »Verein sozialistischer Ärzte« mit dem neuen Vorsitzenden Raphael Silberstein (1873-1926). Trotz Konsens kam es 1924 zur Abspaltung einer zahlenmäßig äußerst kleinen, von den Namen her aber honorig besetzten Gruppe. Raphael Silberstein, Ignaz Zadek (1858-1931), Julius Moses (1868-1942), Karl Kollwitz und einige andere gründeten den »Sozialdemokratischen Ärztebund«, der sich wieder eng an die SPD anlehnte, dennoch ohne nennenswerten Einfluß blieb.
     Nunmehr nahm der inzwischen zu einem namhaften Psychoanalytiker gereifte Ernst Simmel, 1925 bis 1930 Präsident der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft und 1931 Direktor des ersten psychoanalytischen Sanatoriums in Tegel, die Geschicke des Vereins in die Hand. Unter seiner Regie blühte der Verein auf, wenngleich jedoch in bescheidenem Umfange im Vergleich zu tradiert konservativer Übermacht der Ärzteschaft.
Aber immerhin erfolgte jetzt eine Ausdehnung des bisher nur in Berlin ansässigen Vereins auf das Reichsgebiet, wurde die Vereinsschrift »Der sozialistische Arzt« aus der Taufe gehoben und die Vereinigung auf internationaler Ebene angestrebt.

»Mehr Bohéme denn Parteisoldaten«

Wer sich zum Sozialismus bekannte, dessen Ziele und der Weg dorthin im Statut nicht definiert waren, konnte ordentliches Mitglied des Vereins unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit werden. Medizinstudenten blieb die außerordentliche Mitgliedschaft vorbehalten.
     Etwa die Hälfte der Mitglieder waren Sozialdemokraten, ein Drittel ohne Parteizugehörigkeit und ca. ein Fünftel Kommunisten (1928). Im Verein versammelte sich »eine sozialreformerisch, liberal, modern und urban denkende Minderheit von sozialhygienischen Medizinern zumeist jüdischer Herkunft«. 1) Ihre Rekrutierung aus einem gehobenen bildungsbürgerlichen Milieu mit ausgeprägt demokratischen Ambitionen und Idealen sozialer Gerechtigkeit führte gerade sie an die Sozialmedizin heran. Natürlich favorisierten die Kommunisten den revolutionären Weg und speisten ihre Ziele aus streng linken Vorgaben. Die gemeinsamen sozialhygienischen Wurzeln jedoch hielten alle irgendwie zusammen, jedenfalls über einen beträchtlichen Zeitraum.

BlattanfangNächstes Blatt

   24   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
     Berlin bot diesen Ärzten mit ihrem spezifischen Blick auf die Stellung der Medizin und des Arztes in der Gesellschaft einen hervorragenden Nährboden. Hier entwickelte sich wesentlich die Sozialhygiene (aus der nach dem Zweiten Weltkrieg das Fach Sozialmedizin erwuchs) als eigenständige Disziplin innerhalb der Medizin durch Alfred Grotjahn (1869-1931).
     Der Berliner Osten bot täglichen Anschauungsunterricht für das Entstehen von Krankheiten durch Unzulänglichkeiten des Wohnens, der Ernährung und der Hygiene. Gerade in Berlin fungierten sozialdemokratische Ärzte in zahlreichen Bezirken auf sozialen und medizinischen Stadtratsposten. Sozialhygienische Prämissen boten nach ihrer Überzeugung zumindest Vorstellungen, wie der Tuberkulose, den Geschlechtskrankheiten, dem Alkoholismus, der Säuglingssterblichkeit entgegengewirkt werden könne.
     Mehrheitlich neigten die Mitglieder wohl zu sozialreformerischen Intentionen, deren Vordenker der verdienstvolle Ignaz Zadek blieb. Sie fühlten sich durch die erheblichen sozialen Regelungen seit der Etablierung der Weimarer Republik in ihrem Anliegen bestätigt. Dennoch bildeten die Vereinsärzte ein buntschillerndes Völkchen - ungebunden, freiberuflich, individualistisch, gebildet, volksverbunden, antielitär, zum Radikalen wie zu Experimenten neigend, »mehr Bohéme denn Parteisoldaten«. 2)
Für Polikliniken und mehr Prophylaxe

Anfangs ohne eigenes Programm, dafür dem Erfurter Programm der SPD von 1891 folgend, wurde ein solches Papier in der 20er Jahren zu einem wichtigen praktischen Erfordernis - der Verein wollte sich an den Ärztekammerwahlen beteiligen. Die Mitglieder strebten die »Sozialisierung des Gesundheitswesens« an. Sie verständigten sich auf die Errichtung von Polikliniken und Beratungsstellen, gesundheitlich einwandfreie Lebensbedingungen und verstärkte Vorsorge (Prophylaxe), freie Arztwahl und mehr Haushaltsmittel für die Kommunen, eine Vielzahl hauptamtlich angestellter Ärzte. Vor allem Karl Kollwitz formulierte derlei Absichten unmittelbar in den Novembertagen 1918.
     Bemerkenswert, daß die linken Ärzte bis zum Ende der Weimarer Republik, als schon lange nicht mehr von »Sozialisierung« gesprochen wurde, an ihren Forderungen festhielten. Sie standen auf verlorenem Posten, denn die Ärzteschaft und ihre Standesorganisationen wollten die private Niederlassung um jeden Preis erhalten und sträubten sich gegen jede Form einer Anstellung oder Beamtung.
     Waren die sozialen und medizinischen Forderungen unter den Vereinsmitgliedern auch weitgehend unumstritten, so entzündete sich die Debatte um die Art und Weise ihrer Durchsetzung - reformerisch oder revolutionär.

BlattanfangNächstes Blatt

   25   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
Erst 1931 einigten sich die Mitglieder auf einen schon 1928/29 von Georg Löwenstein (1890-1987) formulierten Kompromiß: »Dieses Endziel kann entweder durch Ablösung der kapitalistischen Macht in allmählicher Entwicklung durch den wirklichen Volksstaat erfolgen, oder durch eine proletarische Revolution erreicht werden. Niemand kann voraussehen, welcher Weg der bessere ist.« 3) Stillschweigend funktionierte diese Aussage schon seit Mitte der 20er Jahre als einzig denkbare Klammer für den Zusammenhalt. Im Detail sah das Programm vor: »Schaffung eines Reichsministeriums für Gesundheitspflege und Sozialversicherungswesen«, »Einrichtung von Gesundheitsgewerkschaften«, »Übernahme aller Krankenanstalten auf Gemeinde und Staat«, ebenso der Apotheken und der Arzneimittelbetriebe, »durchgreifende Gewerbehygiene« mit ausreichender Anzahl von Gewerbeärzten und »Freigabe des künstlichen Aborts an Ärzte aus sozialer Indikation«. 4)

Wissenschaftlicher Neuwert bei den Vorträgen

Mitglieder und Freunde pflegten ein interessantes und vielschichtiges Vereinsleben. Allmonatlich oder noch öfter versammelte man sich zu Vorträgen mit ausführlichem Disput.

Die Themen umfaßten die ganze Skala der sozialen und medizinischen Probleme der Werktätigen: Die Volksseuchen Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, Abtreibung und Aufhebung des Paragraph's 218, Prostitution und Alkoholismus, Neurosen u. ä. Neue Sichten wurden vermittelt, praktizierte Erfahrungen dargelegt, Statistiken bewertet, sodaß wissenschaftlicher Neuwert zu einem Markenzeichen der Abende wurde, die sich durch Pluralität auszeichneten und parteigeprägtem Gezänk kaum Raum ließen.
     Eine wichtige Voraussetzung für ein derart außergewöhnliches Zusammenwirken bestand in der Verankerung der verschiedenen Strömungen bereits im Vorstand. Von der Wahl im Februar 1925 bis 1933 erhielten Ernst Simmel (Vorsitzender) und Leo Klauber (Stellvertreter), Ewald Fabian und Minna Flake (beide Schriftführer) stets das Vertrauen der Mitglieder. Später stießen u. a. noch Salo Drucker (1885-1940) und Georg Löwenstein hinzu.
     Eine Klippe bestand in der komplizierten Entscheidung, ob sich der Verein weiterhin vorwiegend als Diskutierclub verstehen oder verstärkt an öffentlichen Aktionen teilnehmen und aktiv in die Standespolitik der Ärzteschaft eingreifen sollte. Georg Löwenstein und Leo Klauber (1890-1935) plädierten für die Beteiligung an den Ärztekammerwahlen. So nominierte der VSÄ im November 1927 erstmalig eigene Kandidaten in Berlin.
BlattanfangNächstes Blatt

   26   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
Vier Kandidaten erhielten ausreichend Stimmen: Ignaz Zadek (kandidierte für den VSÄ, obwohl nicht mehr Mitglied), Leo Klauber, Ernst Simmel und Minna Flake (1896-1958). Damit errangen sie aber nur vier von ca. 80 Plätzen im Berliner Ärzteparlament. Ein Achtungserfolg, mehr nicht, denn die auf den status quo ausgerichtete Standespolitik war damit nicht zu erschüttern.
     Vorausgegangen waren bereits einige Aktionen, wie der Protest des VSÄ gegen die parlamentarische beschlossene »Reichsgesundheitswoche«, der sie eine »Rote Gesundheitswoche« entgegensetzten. Bemerkenswert, daß die offizielle Woche vom ehemaligen VSÄ-Mitglied, dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Julius Moses (1868-1942) 5), die Protestwoche dagegen vom VSÄ-Mitglied, dem Kommunisten Georg Benjamin (1895-1942) angeregt wurde.
     Der Volksentscheid für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten sah den Verein auf dem Plan mit dem Vorschlag: »Alles den leidenden Volksmassen, den Armen, kranken und Kriegskrüppeln!« 6) Hoch schlugen die Wellen 1931, als die Republik eine bis dahin nicht gekannte Bewegung gegen den Paragraphen 218 erlebte, die sich an dem vom Arzt/ Schriftsteller Friedrich Wolf (1888-1953) und seiner Kollegin Else Kienle (1900-1970) bewußt ungesetzlich vorgenommenen Abtreibungen festmachte.
Der VSÄ mit Fabian, Klauber und Max Hodann (1894-1946) war auch in der interorganisatorischen »Reichsinitiative gegen den Abtreibungsparagraphen« vertreten.

Eine Zeitschrift machte den Verein bekannt

Bis 1925 verfügte der Verein über kein Publikationsorgan. Als Ernst Simmel den Vorsitz übernahm, entschloß sich der Vorstand trotz prekärer finanzieller Lage, ein »Mitteilungsblatt des Vereins sozialistischer Ärzte« herauszugeben. Es erschien erstmalig im März 1925 unter der Redaktion des Zahnarztes Ewald Fabian (1885-1944). Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, das »Der sozialistische Arzt« (so der Titel ab April 1926) mehr oder weniger regelmäßig vierteljährlich bis 1933 erscheinen konnte.
     Die Auflage kam 1928 an 2 000 heran. Kein anderer vergleichbarer Ärzteverein konnte sich eines derartigen Organs rühmen. Es machte den Verein bekannt. Und die Sozialhygiene, an den Universitäten wissenschaftlich ohnehin isoliert und personell nur geduldet, wenn der Kultusminister des Landes Sozialdemokrat war, fand eine unerwartete Verbreitung.
     Wer sozialhygienische Aufsätze lesen, sich über das soziale Umfeld der Medizin informieren oder weiterbilden wollte, fand im »Sozialistischen Arzt« dazu reichlich Gelegenheit.

BlattanfangNächstes Blatt

   27   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
Erste Ausgabe der in der Illegalität in Prag erschienenen Zeitschrift

BlattanfangNächstes Blatt

   28   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattNächstes Blatt
Analysen zur Wohnungssituation, zur Ernährungslage, zu Bevölkerungspolitik, Geburtenregelung, Abtreibung und Kurpfuschertum (1930 wurden über 11 000 Kurpfuscher geschätzt), zu Problemen von Krankenkassen und Ärzten, Informationen zum Gesundheitswesen in der Sowjetunion, Berichte über Ärztetage und standespolitische Nachrichten boten eine vielfältige Palette von Themen, die so in den Fachzeitschriften nicht auftauchten.
     Anfang der 30er Jahre beteiligte sich die Zeitschrift engagiert an dem unter Ärzten heiß debattierten »Gaskrieg« als Teil der chemischen Kriegführung. Der Vorstand, der Schriftsteller und Arzt Alfred Döblin (1878-1957), Max Hodann und vor allem Felix Boenheim beteiligten sich führend an der Antikriegsbewegung der Ärzte.

Geschlossen gegen die braune Gefahr

Früh, eher als andere wache Beobachter der Weimarer Republik, erkannten Mitglieder des VSÄ, medizinisch-biologisch geschult und auch sensibilisiert durch enorm auflebenden Antisemitismus, was sich da in Eugenik und Rassenlehre Unheilvolles unter dem Namen Faschismus zusammenbraute. Sie mahnten, warnten, veranstalteten eine Großkundgebung am 21. Juli 1932 im Berliner Lehrer-Vereinshaus: »Der Nationalsozialismus - der Feind der Volksgesundheit«.

     Im Gegensatz zur allgemein zersplitterten Lage unter den Hitlergegnern demonstrierten die VSÄ-Ärzte Einträchtigkeit. Die Rednerliste verdeutlichte es: Ernst Simmel und Hermann Schulz (beide SPD), Käte Frankenthal (Sozialistische Arbeiterpartei [SAP], vormals SPD), Fritz Weiß (KPD) und die parteiungebundenen Sozialisten Max Hodann und Felix Boenheim (1890-1960). Fabian berichtet: »Saal und Galerien waren überfüllt. ... Die Nazis, die zur Diskussion herausgefordert waren, blieben fern und verbreiteten stattdessen ein Flugblatt voller Schmähungen gegen die sozialistischen Ärzte und die Gewerkschaften. Ihnen sprachen sie das Recht ab, über die >deutsche Volksgesundheit< zu referieren.« 7)
     Nach der Machtergreifung Hitlers, vor dem drohenden Verbot der letzte Appell des VSÄ im Februar 1933: »Schließt euch zusammen zum gemeinsamen Abwehrkampf! Delegierte aller sozialistischen Parteien tretet unverzüglich zusammen! Proletarier aller Richtungen vereinigt euch!« 8)
     Der VSÄ wird bereits im März 1933 verboten: »Säubert die Führung unserer Organisationen, fegt alle hinweg, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollen, macht unseren Stand in Leitung und Geist wieder deutsch, so wie es Reich und Volk in diesen Wochen geworden sind.« 9) Die meisten Mitglieder unterliegen einer doppelten Verfolgung durch die neuen Machthaber - als Juden und als Linke.
BlattanfangNächstes Blatt

   29   Probleme/Projekte/Prozesse Verein sozialistischer Ärzte  Voriges BlattArtikelanfang
Noch ehe Gesetze vorhanden sind, handelten »kommissarische« Bürgermeister bereits. Unter dem Titel »Die Neuordnung in Neukölln. Abberufungen und Rathausverbote« wurde am 18. März 1933 die Entlassung von Käte Frankenthal als Fürsorgeärztin mitgeteilt 10) und wenig später ihre Stelle öffentlich ausgeschrieben, wobei u. a. der »Nachweis der arischen Abstammung und der nationalen Einstellung« gefordert wurden. 11)
     Das Los vieler in den Folgejahren ist schockierend: Erbarmungslose Verfolgung, Approbationsentzug, Emigration, Berufsverbot, Berufsprobleme im Asylland, Krankheiten. Simmel und Weiß (1898-1967) gelingt es in den USA, eine psychoanalytische Praxis zu eröffnen; Löwenstein, Frankenthal (1889-1976), Flake und Boenheim emigrieren und überstehen mühsam in den USA; Drucker, Moses und Benjamin kommen im KZ ums Leben; Schmincke setzt nach faschistischer Verfolgung und Krankheit seinem Leben 1939 ein Ende; Hodann scheitert im schwedischen Exil und stirbt nach seiner Rückkehr 1946; Ruben-Wolf emigriert mit ihrem Mann, dem VSÄ-Arzt Lothar Wolf (1882-1940 ?), in die Sowjetunion, beide werden Opfer des Stalinschen Terrors; Fabian organisiert Widerstandsarbeit in Westeuropa, geht in die USA, muß als Packer arbeiten und stirbt 1944, Klauber emigriert 1933 und stirbt im 45. Lebensjahr in Nizza.
Quellen:
1 F. Walter: Sozialistische Akademiker- und Intellektuellenorganisationen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 176. (Zugleich die ausführlichste Darstellung des VSÄ.)
2 Ebenda, S. 183
3 Gesundheitspolitische Forderungen des VSÄ (Entwurf des Programms), vorgelegt von G. Löwenstein, In: »Der sozialistische Arzt«, 5. Jg. (1929), Nr. 4, S. 153
4 Ebenda, S. 154 ff.
5 Über Julius Moses siehe B. Meyer: Im Reichstag stritt er für die Volksgesundheit, In: »Berlinische Monatsschrift«, 3. Jg. (1994), H. 12, S. 37 ff.
6 Vgl.: »Der sozialistische Arzt«, 2. Jg. (1926), Nr. 1, S. 8 und Nr. 2/3, S. 9
7 Aus der sozialistischen Ärztebewegung, In: »Der sozialistische Arzt«, 8. Jg. (1932), Nr. 7/8, S. 153
8 Vgl.: »Der sozialistische Arzt«, 9. Jg. (1933), Nr. 1/2, S. 2
9 Aufruf des »Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes«, In: Völkischer Beobachter vom 23. März 1933
10Die Neuordnung in Neukölln, In: »Berliner Tageblatt« vom 18. März 1933
11Stellenangebote, In: »Berliner-Ärzte-Correspondenz«, 38. Jg. (1933), H. 33, S. 267

Bildquelle: Archiv Autor

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/1996
www.berlinische-monatsschrift.de