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Horst Wagner
23. Juni 1995:
Der Reichstag wird zum Gewandhaus

»Riesenfreude und Erleichterung: Freitag um Punkt 12 Uhr fielen die letzten silbernen Hüllen am Reichstag«, berichtete die »Berliner Zeitung« am Sonnabend, dem 24. Juni 1995, unter der Überschrift »Wie ein gefrorener Wasserfall«. Die »Berliner Morgenpost«, die den verhüllten Reichstag das »Gewandhaus vom Platz der Republik« nannte, nahm es etwas genauer und schrieb am gleichen Tage: »Die letzte Hülle am Reichstag ist gestern gefallen. Komplett ist das Kunstwerk jedoch voraussichtlich erst heute, wenn alle Taue befestigt sind, und Christo und Jeanne-Claude die Vollendung bekannt geben.«
     Das geschah dann tatsächlich am Sonnabend Mittag. Hunderttausende Besucher aus aller Welt (die Berliner Kulturverwaltung nannte die Zahl 350 000) waren bei Sonnenschein und Höchsttemperaturen um 22 Grad zum Platz der Republik gekommen, um das mit 1 300 Kilometer Garn vernähte Kunstwerk aus rund 10 000 Quadratmeter aluminiumbedampftem Polypropylengewebe zu bestaunen, das da mit 16,5 Kilometer langen blaufarbenen Seilen verzurrt war und mit Gewichten von insgesamt 1 000 Tonnen vorm Wegfliegen bei Wind geschützt wurde.

     Für das bulgarisch-französische, seit 1964 in New York lebende Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude Jawatschew, das zuvor schon u. a. ein Kunstmuseum in Chicago, Denkmäler in Italien, die Stadtmauer in Rom und die Pont Neuf in Paris sowie eine Schlucht in Colorado verhüllt hatte, ging damit eine langgehegter Wunsch in Erfüllung. Hatte sich Christo schon als Zwölfjähriger für den Reichstag interessiert, weil er vom mutigen Auftreten seines berühmten Landsmannes Georgi Dimitroff im Reichstagsbrandprozeß gelesen hatte, so gab 1971 ein Vorschlag des in Berlin arbeitenden New Yorker Galeristen Michael S. Cullon den eigentlichen Anstoß, worauf er 1972 eine erste Collage der Reichstagsverhüllung anfertigte. 1976 weilte er dann selbst in Berlin, wo er sich bei der damaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger für die Verhüllung einsetzte. 1977 lehnte Rengers Nachfolger Karl Carstens Christos Projekt offiziell ab. Seitdem stieß die Verhüllungsidee immer wieder auf den Widerstand bundesdeutscher Politiker, die eine »Verletzung der Würde« des geschichtsträchtigen Wallotbaues fürchteten und meinten, die Verhüllung könnte als ein Zeichen der Resignation angesichts der direkt am Reichstag vorbeiführenden Berliner Mauer verstanden werden. Andererseits besuchte 1981 Willy Brandt Christo in New York und forderte ihn zum Weitermachen auf. 1987 sammelten anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins 70 000 Anhänger Christos Unterschriften für die Verhüllung.
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     Richtig voran kam das Projekt dann nach dem Fall der Mauer, dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und der Entscheidung, den Reichstag zum Sitz des gesamtdeutschen Parlaments zu machen. Kräftige Unterstützung erfuhr das Künstlerpaar besonders von der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth. Die englische Kunstkritikerin Marina Vaizey schrieb einst über Christo: »Er stellt Dinge von unglaublicher Schönheit her, die eine Weile in der realen Welt existieren.« Seine Werke »überhöhen die reale Welt, sie schärfen unseren Blick, machen uns aufmerksamer und wachsamer, verändern unsere Sichtweise der Dinge«.
     Am 25. Februar 1994 stimmte der Deutsche Bundestag nach 70-minütiger heftiger Debatte in namentlicher Abstimmung mit 292 gegen 223 Stimmen für das Projekt. Unter den Gegenstimmen war auch die des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Berlins Regierender Bürgermeister Diepgen dagegen sah richtig voraus: »Wieder einmal werden die Augen der Welt auf Berlin blicken.« Womit er offenbar auch über die Ablehnung der Berliner Olympia-Bewerbung hinwegtrösten wollte. Von da an vergingen nur noch ein Jahr und vier Monate angestrengter generalstabsmäßiger Arbeit, zu deren Koordinierung am 1. Oktober 1994 neben dem Reichstag ein Büro der »Verhüllter Reichstag GmbH« eingerichtet worden war.
     In den frühen Morgenstunden des 16. Juni 1995 rollten 25 Meter lange Sattelschlepper vom ehemaligen sowjetischen Militärflughafen Werneuchen, in dessen Hangars das »Verpackungsmaterial« seit Januar gesammelt worden war, über Blumberg und die Märkische Allee durch die Clara-Zetkin-Straße (heute Dorotheenstraße) auf den Reichstag zu, wo schon vier gewaltige Kräne bereit standen, um das silbrig glänzende Gewebe auf das Dach zu hieven. Am Sonntag, dem 18. Juni, sollten bereits die Nord- und Südfassade sowie das Ost- und Westportal verhüllt werden. Zehntausend Schaulustige waren aus diesem Anlass zum Platz der Republik und in den Tiergarten gekommen. Zwar konnten Christo und Jeanne-Claude um 7.40 Uhr das Herablassen der ersten zwei Stoffbahnen kontrollieren, aber dann gab Projektleiter Wolfgang Voltz per Megaphon die vorläufige Unterbrechung der Arbeiten wegen starken Windes bekannt. Um 5.30 Uhr Montag konnte es dann weiter gehen. Am Mittwochmittag gab es nochmals eine kurze Unterbrechung der Verhüllungsarbeiten wegen eines heftigen Gewitterregens. Trotzdem konnte der ursprüngliche Termin 23. Juni im wesentlichen eingehalten werden.
     Über fünf Millionen Menschen haben bis zum 6. Juli das Spektakel des verhüllten Reichstages, Christos und Jeanne-Claudes bisher größtes und meistbesuchtes Projekt, gesehen.
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Von wenigen Störungen abgesehen, herrschte eine fröhliche und entspannte Atmosphäre. Zahlreiche Besucher campierten rund um den Reichstag, veranstalteten Picknicks und feierten Feste. Die sogenannte Christo-Fressmeile links und rechts vom Brandenburger Tor, auf der Kulinarisches aus ganz Deutschland angeboten wurde, erfreute sich großer Beliebtheit. Für die Mitarbeiter und Helfer des Christo-Teams wurden - natürlich kostenlos - 12 600 Essen zubereitet. Dem Künstlerpaar gelang die insgesamt 15 Millionen Mark teure Aktion ganz ohne Subventionen. Durch den Verkauf von Zeichnungen, Skizzen und Drucken konnte sogar ein Gewinn in Höhe von 3,5 Millionen Mark erzielt werden. Aber auch die gesamte Stadt hat von der Verhüllung kräftig profitiert. Laut der Berlin-Tourismus-Marketing GmbH brachte die Aktion über eine Milliarde Mark zusätzlichen Umsatz. Die Berliner Hotels waren an den Wochenenden der Verhüllung fast vollständig ausgebucht. Die Lufthansa zählte auf den Strecken in die Bundeshauptstadt pro Tag etwa 1 000 Passagiere mehr als sonst.
     »Dankeschön Christo und Jeanne-Claude« verkündeten riesengroße Transparente in Blau und Rot vom Brandenburger Tor, bevor am Morgen des 7. Juli 1995 die Enthüllung des Reichstages begann.

Der Reichstag in der Verhüllung durch Christo

Wie hatte doch Christo im Vorfeld der Bundestagsdebatte gesagt? Die Verhüllung werde »100 Prozent der Leute in Deutschland« glücklich machen. »Ein großer Prozentsatz - nehmen wir mal an 80 Prozent - ist glücklich, weil sie den verhüllten Reichstag gesehen haben. Die restlichen 20 Prozent, die darüber in Rage geraten, werden ihrerseits glücklich sein, wenn wir ihn wieder enthüllen.«

Bildquelle: Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001
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