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Gebhard Schultz
Militärisches Sperrgebiet

Die Zitadelle Spandau im Nationalsozialismus

Fast in der Mitte des Bezirks Spandau, am Zusammenfluss von Havel und Spree, liegt die im wesentlichen im 16. Jahrhundert entstandene Zitadelle Spandau. Die einzig erhaltene Renaissance-Festung in Nordeuropa ist heute vor allem ein Ort für kulturelle Aktivitäten. Hier befindet sich u. a. das Stadtgeschichtliche Museum des Bezirks Spandau.1)
     Während der Zeit des Nationalsozialismus war die Zitadelle militärisches Sperrgebiet. Von 1935 bis 1945 waren hier die Heeres-Gasschutzlaboratorien (HGL) untergebracht2), die das gesamte Gelände der Festung nutzten. An den vorhandenen historischen Gebäuden wurden zahlreiche Umbauten vorgenommen und vier größere Gebäude neu errichtet. Die etwa 300 Laborbeschäftigten befassten sich keineswegs nur mit Fragen des Gasschutzes, sondern auch mit der Entwicklung von chemischen Kampfstoffen sowie mit der Ausarbeitung von Produktionsmethoden für Kampfstoffe. Der dem Heereswaffenamt unterstellte Laboratorienkomplex war eine der wichtigsten Einrichtungen der C-Waffen-Forschung im »Dritten Reich«.3)

     Im Rahmen des Gasschutzes und der Kampfstoffentwicklung der Wehrmacht erfüllten die HGL eine Teilfunktion: Während die in Charlottenburg ansässige Gasschutzabteilung des Heereswaffenamtes (Amtskürzel: »Wa Prüf 9«) die theoretischen Vorgaben lieferte, fand auf der Zitadelle Spandau die labortechnische Erprobung statt. Für Feldversuche war die Heeresversuchsstelle Raubkammer (Munsterlager) in der Lüneburger Heide zuständig, die ebenfalls der »Wa Prüf 9« unterstellt war.

Geheimhaltung

Die HGL arbeiteten unter strengster Geheimhaltung. Die Beschäftigten waren zur Verschwiegenheit verpflichtet und durften nur über ihren eigenen Arbeitsbereich Bescheid wissen. Ein ehemaliger Chemotechniker der HGL erinnert sich z. B. an ein Code-System zur Bezeichnung der auf der Zitadelle verwendeten chemischen Kampfstoffe:4)
     »Die Stoffe, die von Herstellern angeliefert wurden, hatten einen zweistelligen Code, wobei der erste Buchstabe für >Auswärts< steht, mit einer Zahl kombiniert, die die Substanz identifiziert; Stoffe aus Dyhernfurth hatten einen Code, der mit D anfing, z.B. >D 7< für Tabun. Innerhalb des Zitadellengeländes wurden die Substanzen auch nur unter der Code-Bezeichnung gehandhabt, sodass in der Regel die Mitarbeiter nicht wußten, mit welcher konkreten Verbindung sie es zu tun hatten.«5)

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Tierversuche

Eine wesentliche Aufgabe der Spandauer Laboratorien bestand darin, chemische Kampfstoffe im Tierversuch zu testen. Zuständig für sämtliche Tierversuche auf der Zitadelle waren die im »Haus 15 a« untergebrachten Mitarbeiter des Toxikologischen Instituts (Abteilung »VII L«). Das Gebäude auf der Bastion Brandenburg wurde Ende der dreißiger Jahre errichtet und ist noch heute erhalten.
     Durchgeführt wurden die Experimente unter anderem in zwei 1938 gebauten Sprengkammern an der Nordkurtine (hinter dem Ostflügel des »Hauses 6«). Es handelte sich hierbei um halbkugelförmige Kammern aus Stahlbeton mit einem Volumen von 100 m³ bzw. 250 m³. In den Sprengkammern wurde Kampfstoffmunition zur Detonation gebracht. Die Versuche hatten insbesondere das Ziel, die sogenannten Tödlichkeitsprodukte verschiedener Kampfstoffe zu ermitteln. Nach der von Fritz Haber entwickelten Formel ergibt sich das Tödlichkeitsprodukt (T) aus der Multiplikation der Gaskonzentration (c) mit der Einwirkungszeit (t). In der Literatur wird beispielsweise das Tödlichkeitsprodukt von Phosgen für Katzen mit 900 angegeben. Dies bedeutet, dass eine Katze stirbt, wenn sie (z. B.) 15 Minuten lang einer Phosgenkonzentration von 60 mg/m³ ausgesetzt wird (60 × 15 = 900).

Da der Wert jeweils für verschiedene Tierarten ermittelt werden musste, gehörten derartige Zeitmessungen für die beteiligten Laborbeschäftigten zum Arbeitsalltag.
     Auf der Zitadelle wurden auch Experimente mit Pferden unternommen, um verbesserte Gasmasken für diese Tiere zu entwickeln. Hierüber berichtet ein ehemaliger Feinmechaniker der HGL: »Die Pferde trugen speziell für sie angefertigte Gasmasken und waren an ein Drehgestell geschirrt, an dem sie im Kreis gehen mußten. Damit die Tiere in Bewegung blieben, haben wir sie an Leinen geführt. Wir trugen bei dieser Tätigkeit Gasmasken und gummierte Schutzanzüge. Welche Art von Giftstoff dabei verwendet wurde, ist mir nicht bekannt. Die zeitliche Dauer dieser Versuche war verschieden und wurde jeweils von der Laboratoriumsleitung angeordnet. Die Tiere kamen bei den Versuchen nicht zu Schaden, sie wurden versorgt und anschließend abgeholt. Über den weiteren Verbleib der Tiere ist mir nichts bekannt geworden.«6)
     Des weiteren wurde auf der Zitadelle an Affen, Hühnern, Hunden, Kaninchen, Katzen, Mäusen, Meerschweinchen, Ratten, Schafen, Schweinen, Ziegen sowie Insekten experimentiert. Ein ehemaliger Pförtner erinnerte sich, dass etwa einmal im Monat ein Tierhändler erschien, der die bestellten Tiere lieferte.
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1Zitadellenbrücke
Wachposten
2Kommandantenhaus
Ausweiskontrolle; Wohn- und Diensträume
3Palas
Kasino, Verwaltung
4Juliusturm
Luftschutzzentrale
5Sicherungszaun
nur Laborbeschäftigte mit einem Sonderausweis durften den abgesperrten Bereich betreten
6Erdwall der Westkurtine
Chemikalienlager
7Offiziantenhaus
Entwicklung von Tarn- und Giftnebeln; Lostlabor
8Haus 4
Analyse und Synthese chemischer Kampfstoffe; toxikologische Kampfstoff-Forschung; Bibliothek
9Kavalier (Bastion Kronprinz)
zentrales Materiallager (Chemikalien, Geräte, Laborbedarf)
10Haus 6 (Kaserne)
Prüfung und Entwicklung von Gasschutzausrüstungen; Entwicklung von Kampfstoffmunition
11Nordkurtine
2 Sprengkammern aus Stahlbeton (100 m³ u. 250 m³) zur Prüfung von Kampfstoffmunition (1947 von den britischen Truppen zerstört)
12Haus 15 (inzwischen abgerissen)
Humanmedizinische Abteilung (ärztliche Betreuung der Beschäftigten und Menschenversuche)
13Haus 15 a Tierversuche
14Italienische Höfe
noch heute erhaltener Versuchsraum
15Exerzierhalle Kfz-Werkstätten
16Magazin (Haus 8)
Werkstätten, Versuchsräume, Kampfstoffproduktion zu Versuchszwecken (bis 50 kg)
17Ostkurtine
Gewächshaus (vermutlich für Pflanzenversuche)
18Bastion Königin Chemikalienlager
Haus 14 (inzwischen abgerissen): Forschung zur Vernebelung von flüssigen Kampfstoffen
19Zeughaus
Entwicklung von Methoden zur Produktion von chemischen Kampfstoffen
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Menschenversuche

Die Tätigkeit des Toxikologischen Instituts der HGL beschränkte sich jedoch nicht auf Tierexperimente. Ebenfalls auf der Bastion Brandenburg, im »Haus 15«, waren die für Humanexperimente verantwortlichen Mitarbeiter der »Abteilung VII L« untergebracht. Auch dieses Gebäude war Ende der Dreißigerjahre errichtet worden; es wurde in der Nachkriegszeit abgerissen.
     Glaubt man den Zeitzeugen, so wurden zu den Menschenversuchen auf der Zitadelle nur Beschäftigte der HGL herangezogen. Eine Verpflichtung zur Teilnahme habe es nicht gegeben. Ein ehemaliger Chemotechniker der Spandauer Laboratorien erinnert sich: »Die Methode der subjektiven Versuche bestand in Tests, bei denen die Empfindlichkeit der Haut auf die Einwirkung von Kampfstoffen - insbesondere von Lost - überprüft wurde. Versuche dieser Art wurden überwiegend in der humanmedizinischen Abteilung unter Kontrolle eines Oberstabsarztes auf der Bastion Brandenburg vorgenommen. Die Kleinstmenge eines Kampfstoffes wurde den Testpersonen auf die Haut gebracht. Da die verabreichten Mengen offenbar keine erkennbaren körperlichen Schäden verursachten, meldeten sich viele Mitarbeiter freiwillig zu solchen Experimenten, die nach dem Grad ihrer Gefährlichkeit

mit 50,- bis 100,- Reichsmark honoriert wurden. Normalerweise zeigten sich an den betroffenen Hautstellen Bläschen, die bei der Nachuntersuchung geöffnet wurden. Die entnommene Flüssigkeit wurde analysiert und erwies sich allgemein als ungiftig. Offenbar zielten solche Versuche darauf hin, zu ermitteln, welche Menge eines chemischen Kampfstoffes vom menschlichen Körper abgebaut werden könnte. (...)
     Die Prüfung von Schutzanzügen fand in den Gasräumen ... statt. Es wurde die Durchlässigkeit bzw. die Undurchlässigkeit des verwendeten Materials geprüft. Die Versuchspersonen begaben sich, bekleidet mit Schutzanzügen, in die mit Kampfstoff angefüllten Räume, wobei sie mit Atemschutzmasken versehen waren. (...) Nachdem Kampfstoffe über den Boden gesprüht (als Flüssigkeit) oder gestreut (als Pulver) waren, krochen Testpersonen über das verseuchte Gelände.
     Eine andere Methode bestand in der Erprobung der Giftwirkung insgesamt auf den menschlichen Organismus. In die bereits bezeichneten Versuchsräume ... wurden Kampfstoffe eingeleitet. Versuchspersonen betraten diese Räume - je nach körperlicher Konstitution - kurz- oder längerfristig. Die Stoffe bewirkten in der Regel Atemnot, Erbrechen und Übelkeit, schmerzhafte Reizung der Schleimhäute und der Augen.«7)
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     Einer der erwähnten Versuchsräume wurde nach dem Kriege lediglich technisch demontiert und ist noch heute in den »Italienischen Höfen« unterhalb der Bastion Brandenburg zu besichtigen.
     In der Aussage eines früheren Feinmechanikers heißt es: »Es ist vorgekommen, daß ich und auch andere Mitarbeiter bei der Arbeit eine Schutzkleidung tragen mußten. Ich erinnere mich, daß es Lost-Schutzkleidung war, die für die Verwendung bei der Wehrmacht vorgesehen war und von uns probegetragen werden mußte. Das Probetragen erstreckte sich über den gesamten Arbeitstag. Ich nehme an, daß es sich dabei um einen Hautverträglichkeitstest handelte. Mit dieser Schutzkleidung bin ich keiner Giftstoffeinwirkung ausgesetzt worden.«8)
     Nach Berichten von Zeitzeugen wurden ab etwa 1943 auch Soldaten einer Genesungskompanie zu Menschenversuchen herangezogen. Nähere Informationen liegen bislang nicht vor; insbesondere ist nicht bekannt, ob die Versuchsteilnehmer angemessen informiert wurden und ob die Teilnahme freiwillig war.
     Unabhängig voneinander berichteten mehrere Zeitzeugen, das HGL-Personal hätte gelegentlich ohne nähere Begründung für einige Tage arbeitsfrei gehabt. Von dieser Anordnung seien die meisten Beschäftigten betroffen gewesen, nicht jedoch die leitenden Wissenschaftler.
Im Kollegenkreis habe es Gerüchte gegeben, dass an diesen Tagen Häftlinge zu Versuchen in die HGL gebracht wurden. Geschlossene Wagen sollen in die Zitadelle gefahren sein.
     Die Beweislage ist schwierig: Schriftliche Unterlagen sind nicht erhalten; umfangreiche Aktenbestände wurden kurz vor Kriegsende vernichtet. Keiner der befragten Zeitzeugen hat die Experimente persönlich beobachtet oder die Transportwagen selbst gesehen. Dass es die arbeitsfreien Tage in der beschriebenen Form gab, kann aufgrund der vorliegenden Aussagen als gesicherte Erkenntnis gelten. Die Vermutung, dass diese Arbeitsbefreiung die Funktion hatte, etwas vor den Augen des Personals zu verbergen, ist zumindest plausibel.
     In seinem 1997 veröffentlichten Buch »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer« beschäftigt sich Ernst Klee mit den HGL und insbesondere mit den »Gas-Versuchskammern« auf der Zitadelle Spandau. Er verweist in diesem Kontext auf eine Aussage des ehemaligen Rechtspflegers Walter Strelow, der von 1936 bis 1945 für die Anstalten Tegel und Plötzensee zuständig war:9) »Aus meiner ... Tätigkeit bei dem Strafgefängnis Plötzensee ist mir ... bekannt, daß an zu Tode Verurteilten, die hingerichtet werden sollten, Versuche mit Giftgasen vorgenommen wurden. (...) Meiner Erinnerung nach begannen diese Versuche bald nach Beginn des Krieges.«
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Versuche an Häftlingen

Strelow erinnert sich an den konkreten Fall eines zum Tode verurteilten Gefangenen: »Der Verurteilte war eines Tages zum Direktor der Anstalt gerufen worden, der ihm bekannt gab, daß sein Gnadengesuch abgelehnt war und daß seine Hinrichtung in Kürze erfolge. Man gab ihm aber eine Chance zur Freiheit, wenn er sich einem Versuch unterwerfe, der nicht unbedingt tödlich verlaufe. Falls er am Leben bliebe, würde er frei sein, falls er aber mit diesem Experiment nicht einverstanden sei, müsse seine Hinrichtung erfolgen. Dieses Verfahren, das, soweit ich erfahren konnte, nur mit Kriminellen, also nicht mit Politischen, vorgenommen wurde, wiederholte sich auch in den späteren Fällen. Die Verurteilten, die mit dem Versuch einverstanden waren, wurden dann in Begleitung des in Plötzensee tätig gewesenen 1. Hauptwachtmeisters Iffländer fortgebracht, der dann am folgenden Tage, manchmal auch mehrere Tage später wieder in der Anstalt auftauchte. In einem Fall kehrte Iffländer erst viele Tage später wieder und zwar mit einem entzündeten Hals. Seine intimsten Freunde hatten von ihm erfahren, daß auch er aus Versehen etwas von dem Gas geschluckt habe.«
     Aus der Aussage geht nicht hervor, wo die Experimente stattfanden. Strelow sagt ausdrücklich: »Wo diese Versuche stattfanden, habe ich nie erfahren können.«10) Es ist durchaus vorstellbar, dass die

Spandauer Laboratorien involviert waren; das Dokument enthält hierfür jedoch keinen konkreten Beleg.
     Dass in den Konzentrationslagern Natzweiler, Neuengamme und Sachsenhausen Häftlinge zur Teilnahme an Menschenversuchen mit chemischen Kampfstoffen gezwungen wurden, ist seit dem Nürnberger Ärzteprozess 1947 dokumentiert. Die Brutalität dieser Experimente entzieht sich jeder Beschreibung. In der Regel wurden die Versuche unter Leitung der SS durchgeführt. Teilweise beteiligten sich jedoch auch externe Forschungseinrichtungen.
     Ehemalige HGL-Mitarbeiter haben nicht nur die Beteiligung an KZ-Experimenten, sondern selbst das Wissen über derartige Versuche vehement bestritten. Trotz der schwierigen Quellenlage steht fest, dass auf den Tagungen der Militärärztlichen Akademie in Berlin, an denen auch HGL-Wissenschaftler teilnahmen, über KZ-Versuche referiert wurde. Darüber hinaus ist nachweisbar, dass ein leitender Wissenschaftler der Spandauer Laboratorien Ende 1939 in das KZ Sachsenhausen fuhr, um Lostexperimente an KZ-Häftlingen zu beobachten.11)

Test von Nervenkampfstoffen

Die C-Waffen-Forschung im In- und Ausland verfolgte nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere das Ziel, die chemische Kriegführung auch in komplizierteren (mobileren) Konstellationen zu ermöglichen.

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Die Entwicklung der Nervenkampfstoffe im nationalsozialistischen Deutschland stellte in dieser Hinsicht einen wesentlichen Modernisierungsschritt dar: Diese Kampfstoffe waren erheblich toxischer, sie wirkten schneller und konnten mit den herkömmlichen Mitteln der technischen Detektion nicht rechtzeitig erkannt werden. Auch bei einer tödlichen Konzentration waren sie nahezu geruchlos.
     Entstanden sind die Nervenkampfstoffe in einem arbeitsteiligen Forschungs- und Entwicklungsprozess, an dem insbesondere die IG Farben und das Heereswaffenamt beteiligt waren. Der IG-Farben-Chemiker Dr. Gerhard Schrader entdeckte 1936 in Leverkusen und 1938 in Wuppertal-Elberfeld zwei hochtoxische Phosphorsäureverbindungen. Beide Substanzen wurden von der Gasschutzabteilung des Heereswaffenamtes zu militärisch einsatzfähigen Kampfstoffen weiterentwickelt. So wurde Tabun zum ersten Nervenkampfstoff der Geschichte. Der noch weitaus toxischere Kampfstoff Sarin verdankt seine Bezeichnung den Namen der Hauptverantwortlichen Schrader und Ambros (IG Farben) sowie Rüdiger und Linde (Heereswaffenamt). Diesen Nervenkampfstoff verwendete die Aum-Sekte 1995 bei ihren Giftgasanschlägen in Tokio.
     An der Erprobung und Weiterentwicklung von Tabun und Sarin waren die HGL auf der Zitadelle Spandau wesentlich beteiligt.
So wurde im »Institut für Kampfstoff-Analyse« mit beiden Kampfstoffen experimentiert. Untergebracht war diese Abteilung in dem in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre errichteten »Haus 4«, das noch heute erhalten ist. Darüber hinaus wurde die Wirkung der neu entdeckten Substanzen im Tierversuch getestet. Nach Aussagen von Zeitzeugen wurden hierzu Affen, Hunde, Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen, Pferde, Schafe, Ziegen sowie Fliegen herangezogen.
     Auch Fertigungsmethoden für Tabun und Sarin wurden auf der Zitadelle entwickelt. Im historischen Zeughaus sowie im südlichen Teil des »Hauses 8« konstruierten Fachleute »halbtechnische« Produktionsanlagen. Die in den Versuchsanlagen hergestellten Kampfstoffe wurden in den Laboratorien auf der Zitadelle untersucht und anschließend zur Heeresversuchsstelle Munsterlager abtransportiert.
     Die Erforschung der hochgiftigen chemischen Substanzen war für die Beschäftigten mit erheblichen Gefahren verbunden. So kam es in den HGL zu schwerwiegenden Unfällen. Ein ehemaliger Chemotechniker berichtet über einen »Betriebsschlosser, der eine Reparatur an einer Rohrleitung durchführen sollte: »Er war geschützt durch Gummikapuze, Gummianzug, Gummistiefelund Gummihandschuhe, mit einer Gasmaske mit Schutzfilter. Er mußte unter der Anlage arbeiten und dabei einen Verschluß lösen.
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In dem Verschluß befand sich aber noch reines Tabun. Dieses tropfte beim Lösen des Stopfens direkt auf den Maskenfilter (direkt auf die Öffnung). Es wurde versucht, eine Dekontamination mit verdünnter Natronlauge durchzuführen (Abspritzen); der Mann verstarb innerhalb weniger Minuten.«12)

Auf schmalem Grad

Chemische Kampfstoffe wurden im Zweiten Weltkrieg nicht eingesetzt. Für die in der ersten Phase von Deutschland verfolgte Blitzkriegsstrategie war die chemische Waffe denkbar ungeeignet, weil sie den Vormarsch der eigenen Truppen behindert hätte. Später, als sich die militärische Lage für Deutschland verschlechterte, war wohl die Furcht vor gegnerischen Vergeltungsschlägen das wesentliche Motiv für den Nichteinsatz.
     Gleichwohl ist es nach Einschätzung der Historikerin Angelika Ebbinghaus »noch nicht abschließend geklärt«, »ob und wie konkret die Deutschen in den letzten beiden Kriegsjahren den Einsatz von chemischen Kampfstoffen erwogen haben«.13) Wie Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt formuliert, »zeigt sich bei der Betrachtung der Vorgänge - und dies gilt nicht nur für Deutschland - ein erschreckendes Maß an Skrupellosigkeit bei Politikern, Militärs und Industriellen. Der Grat der Entscheidungsfindung über einen möglichen Ersteinsatz war ... nur sehr schmal.«14)

Quellen:

1 Einen Überblick zur Geschichte der Festung vermittelt der bereits in mehreren Auflagen erschienene Führer »Die Zitadelle in Spandau«, herausgegeben vom »Kreis der Freunde und Förderer des Heimatmuseums Spandau e. V.«
2 Bereits 1926 hatte die Reichswehr auf der Zitadelle ein Forschungslaboratorium eingerichtet. Es handelte sich jedoch nur um ein kleines Laboratorium mit wenigen Mitarbeitern, die sich hauptsächlich mit der Entwicklung neuer Gasschutzausrüstungen befassten. Der Ausbau der Zitadelle Spandau zu einem modernen Laboratorienkomplex mit hochspezialisierten Arbeitsbereichen begann 1935 und wurde erst in den vierziger Jahren abgeschlossen
3 In der historischen Forschungsliteratur zur Geschichte der chemischen Kampfstoffe werden die Spandauer Laboratorien nur am Rande erwähnt. Anlässlich der Ausstellung »Sperrgebiet Zitadelle« des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau (1995) wurden erstmals systematische Recherchen zur Geschichte der HGL durchgeführt, auf die hier zurückgegriffen wird. Grundlage ist hierbei: Schultz, Gebhard: Die »Heeres-Gasschutzlaboratorien« (HGL) auf der Zitadelle Spandau (1935-1945), Ms. für das Stadtgeschichtliche Museum Spandau, Berlin 1997

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4 In den achtziger Jahren führte die Berliner Polizei auf der Zitadelle eine großangelegte Kampfstoffsuche durch. Etwa 60 ehemalige Mitarbeiter der HGL wurden damals ausfindig gemacht und befragt. Bei meinen Recherchen konnte ich auf Befragungsprotokolle zurückgreifen, die das Institut für polizeitechnische Untersuchungen (PTU) in anonymisierter Form für die Ausstellung »Sperrgebiet Zitadelle« zur Verfügung stellte. Die Experimente in den HGL werden darüber hinaus in mehreren Zeitzeugenberichten beschrieben, die im Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau archiviert sind. Die bei der Auswertung dieser Materialien gewonnenen Erkenntnisse werden im wesentlichen durch die Erinnerungen von weiteren Zeitzeugen bestätigt, die vom Verfasser seit 1994 befragt wurden
5 Zit. nach dem Protokoll der PTU aus dem Jahre 1983
6 Zit. nach dem Protokoll der PTU aus dem Jahre 1984
7 Der Chemotechniker war von 1937 bis 1945 in den HGL beschäftigt und legte im Januar 1980 auf Anregung der Abteilung Volksbildung des Bezirksamtes Spandau seine Erinnerungen nieder. Das 16-seitige Manuskript, aus dem hier zitiert wird, ist im Archiv des Stadtgeschichtlichen Museums Spandau archiviert
8 Zit. nach dem Protokoll der PTU aus dem Jahre 1984
9 Klee, Ernst: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main 1997, S. 272 f. (überarbeitete Taschenbuch-Ausgabe: Frankfurt am Main 2001, S. 272 f.). Hier zit. nach IMT, Beweisdokument NG-405
10Ebd. Klee zitiert diesen Satz nicht
11S. hierzu ausführlich: Kopke, Christoph/ Schultz, Gebhard: Menschenversuche mit chemischen Kampfstoffen bei Wehrmacht und SS. Ein Forschungsbericht, in: Kopke, Christoph (Hrsg.): Medizin und Verbrechen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke, Ulm 2001, S. 239-257.
12Zit. nach dem Protokoll der PTU aus dem Jahre 1983
13Ebbinghaus, Angelika: Chemische Kampfstoffe in der deutschen Rüstungs- und Kriegswirtschaft, in: Eichholtz, Dietrich (Hrsg.): Krieg und Wirtschaft. Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939-1945, Berlin 1999, S. 171-194, hier S. 191
14Müller, Rolf-Dieter: Chemische Kriegführung und Gaskriegsvorbereitungen (1914-1945), in: Brauch, Hans Günter/Müller, Rolf-Dieter (Hrsg.): Chemische Kriegführung - Chemische Abrüstung: Dokumente und Kommentare, Berlin 1985, S. 21-66, hier S. 66

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
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