140   Im Detail Die Annenkirche  Nächstes Blatt
Frank Eberhardt †
Eine Kirche ohne Namen?

Die Annenkirche in der Mitte Berlins

In der Annenstraße in Berlin-Mitte steht die Kirche einer selbständigen evangelisch-lutherischen Gemeinde, die schon seit 144 Jahren keinen offiziellen Namen trägt. In dem Klassiker der Berliner Bauarchitektur »Berlin und seine Bauten« wird sie als »altlutherische Kirche« bezeichnet.1) So steht es auch in den Stadtplänen. Im Telefonbuch erscheint sie unter »Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, Gemeinde Mitte«. In dem vom Institut für Denkmalpflege in der DDR herausgegebenen Buch »Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR, Hauptstadt Berlin I« heißt sie »Altlutherische Annenkirche«.2) Ein Plakat vor der Kirche ist unterzeichnet »Selbständig Ev.-Luth. Kirche Annenkirche zu Berlin-Mitte«.
     Die Annenstraße, in der sich die Kirche befindet, ist eine der ältesten Straßen dieses Stadtteils, der zur Zeit der Errichtung der Kirche »Luisenstadt« hieß. Heute gehört die Straße, die bereits in den ältesten Karten eingezeichnet ist, zum neuen Stadtbezirk Mitte von Berlin. Zuerst wurde sie Neue Trift, später Triftstraße genannt.3)

Als 1579 der Rat zu Cölln eine in der Straße liegende Schäferei kaufte, nannte man sie Schäfergasse. Erst 1849 erhielt sie den Namen Annenstraße. Benannt wurde sie nach Marie Anna Friederike (1836-1918), einer preußischen Prinzessin, die damals erst 13 Jahre alt war.4)
     Nach dieser Anna konnte und kann man die Kirche nicht benennen. Doch es gibt noch eine andere Anna, die Heilige Anna, der Legende nach die Mutter der Jungfrau Maria, Frau des Joachim, die als Schutzheilige der Mütter gilt (Tag: 26. Juli). Wäre das nicht eine würdige Bezeichnung für diese Kirche der Altlutheraner, die damit endlich einen Namen erhielte?

Zur Geschichte der Altlutheraner

Der Name »Altlutheraner« war anfangs nicht als neutrale Nennung gedacht, sondern als kritische Sektenbezeichnung, etwa im Sinne von »die Rückständigen« bzw. »die Unbelehrbaren«. Die Kirche selbst hat sich nie so benannt. Die Gemeinden entstanden im 19. Jahrhundert auf dem Boden der deutschen evangelischen Landeskirchen aus dem Bestreben heraus, das theologische Erbe der Reformation Martin Luthers vor allem gegen die vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840, König ab 1797) verordnete Kirchenunion (Altpreußische Union ab 1817), aber auch gegenüber den nach ihrem Verständnis nicht bekenntnisgemäßen kirchlichen und theologischen Strömungen zu bewahren.

BlattanfangNächstes Blatt

   141   Im Detail Die Annenkirche  Voriges BlattNächstes Blatt
Ansicht Annenstraße mit den späteren Anbauten Pfarrhaus (links) und Schulhaus (rechts), nach Kriegszerstörung abgetragen
Die Altlutheraner gehören zu den lutherischen Freikirchen, die sich 1972 in der »Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche« vereinigt haben. Sie unterscheiden sich aber von den anderen Freikirchen durch die bis heute streng durchgehaltene reformatorische Tauflehre.
     Im Jahre 1830 erklärten Breslauer Lutheraner ihre kirchliche Unabhängigkeit von der durch den preußischen König eingeführten Unionskirche und bildeten die erste altlutherische Gemeinde. Fünf Jahre später konstituierte sich auch in Berlin eine größere Anzahl lutherischer Familien in einem Brief an das Konsistorium als evangelisch-lutherische Kirche. Der Staat reagierte wie stets auf Spaltung, und Minister Altenstein (1770-1840)
beantwortete die Eingabe mit der Bemerkung, dass das Verhalten der Lutheraner »... nur als das Ergebnis eines sektiererischen Fanatismus angesehen werden muß«. Die ersten beiden Berliner Pastoren wurden verhaftet und erhielten zwei Jahre bzw. 14 Monate Gefängnis.
     Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. (1795-1861, König 1840-1858) endete die Verfolgung der altlutherischen Kirche in Preußen. Die Gemeinden konnten sogar eigene Schulen einrichten (1842 in Berlin). 1845 erließ der König eine Generalkonzession für die »von der Gemeinschaft der evangelischen Landeskirchen sich getrennt haltenden Lutheraner«.
BlattanfangNächstes Blatt

   142   Im Detail Die Annenkirche  Voriges BlattNächstes Blatt
Die Gemeinden der Altlutheraner wuchsen rasch an und umfassten 1860 bereits rund 55 000 Mitglieder in Deutschland. 1954 benannte sich die Kirche in »Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche« um.

Blankensteins erster Berliner Bau

Als Friedrich Wilhelm IV. der Berliner altlutherischen Gemeinde die bisherige Nutzung der Garnisonkirche untersagte, war sie gezwungen, eine eigene Kirche errichten. 1855 wurde für 6 000 Taler ein Grundstück in der damals gerade parzellierten Luisenstadt gekauft, in der Annenstraße 52/53. Das Grundstück war gut ausgewählt. Es lag zwischen zwei wichtigen Ausfallstraßen, der Dresdener und der Köpenicker Straße. In der Nähe war gerade der Luisenstädtische Kanal mit seinem Zentrum, dem als Hafen ausgebauten Engelbecken, fertiggeworden. Mit dem weiteren Ausbau der Luisenstadt hoffte man sicherlich auch viele Menschen zu erreichen, die sich - insbesondere aus Schlesien kommend - hier ansiedelten. Und Schlesien war ja der Ausgangsort der Altlutheraner-Gemeinden.
     Der Entwurf für die zu errichtende Kirche stammte von Hermann Blankenstein (1829-1910), dem späteren langjährigen Berliner Stadtbaurat. Es war sein erster Bau in Berlin. Die nüchterne Gestaltung zeigt Blankensteins Abneigung gegen jede Formenspielerei.

Sie ist sicherlich aber auch der finanziellen Not der Gemeinde zuzuschreiben, die den größten Teil der Baukosten von rund 30 000 Talern selbst aufbringen musste. Den Gegensatz dazu bildet die nur etwa 100 Meter entfernt stehende katholische St. Michael-Kirche, für die der König das Grundstück und 70 000 Taler zur Verfügung stellte und die doch zehn Jahre für ihren Bau brauchte, da das Geld immer wieder ausging und durch Kollekten in ganz Europa gesammelt werden musste (vgl. BM 8/93).

Ein schlichtes Gewand

Die Kirche der altlutherischen Gemeinde ist ein Klinkerverblendbau aus graubraunen Handstrichziegeln mit offenem Dachstuhl. Trotz seiner einfachen hölzernen Decke erhielt der dreischiffige Emporensaal Strebepfeiler an den Seiten, die die Aussteifung der Wände aus der Konstruktionsform der mittelalterlichen Gewölbearchitektur übernahmen. Die Vertikaltendenz des Baukörpers wird durch die querbauartige Eingangsfront mit Portal und großer Fensterrosette aufgefangen. Die Kirche hat keinen Turm, lediglich der Mittelteil mit drei gestaffelten Rundbogenfenstern ist leicht erhöht und trägt das Kruzifix.
     An der linken Seite der Kirche erhebt sich, mit der Straßenfront abschließend, das zehn Jahre später errichtete Pfarrhaus. Analog befand sich auf der rechten Seite ein Schulgebäude, das im Krieg zerstört wurde.

BlattanfangNächstes Blatt

   143   Im Detail Die Annenkirche  Voriges BlattNächstes Blatt
Innenansicht der Evangelisch-lutherischen Kirche in der Annenstraße von der Orgelempore aus. Der offene Dachstuhl ist gut zu erkennen
Bildnisse von Luther über dem Portal und Melanchthon am Pfarrflügel bilden den kargen äußeren Schmuck. Die Kanzel und der Taufstein stammen aus der Erbauungszeit; die Orgel, eine so genannte Schleifladen-Orgel der Firma Schuke in Potsdam, wurde erst vor zehn Jahren anstelle der ursprünglichen Orgel eingebaut.
     Die Bauzeit der Kirche betrug zwei Jahre (1855-1857). Am Samstag, den 10. Oktober 1857, war in der »Vossischen Zeitung«5) zu lesen: »Wie bereits erwähnt, wird am künftigen Sonntag die Einweihung der neuerbauten
Kirche der hiesigen evangelisch-lutherischen Gemeinde erfolgen ... Sie ist halb byzantinisch, halb im Rundbogenstyle errichtet. Eben so einfach wie ihr Aeußeres ist ihre innere Ausstattung. Ein Christuskopf im Relief-Medaillon und ein kleines vergoldetes Kreuz am Frontispice sind an der Vorderfront die einzigen Zierden. Die Seitenfront, von sechs Strebepfeilern gehalten, bietet Raum von je 5 Bogenfenstern aus buntem Glas, welche, wie die drei Fenster der Altar-Kuppel, aus der Fabrik von Spinn und Mencke hierselbst hervorgegangen sind. Ebenso die 6 Treppenfenster.
BlattanfangNächstes Blatt

   144   Im Detail Die Annenkirche  Voriges BlattNächstes Blatt
Die innere recht geschmackvolle Ausstattung zeigt, außer dem Schiff, welches 720 Sitzplätze enthält, zwei Seiten- und ein Orgel-Chor, welche 543 Sitzplätze enthalten, so daß die ganze Kirche Platz für 1263 Personen aufweisen kann. Vier Säulen zu jeder Seite tragen die Decke der Kirche und sind wie das gesamte Holzwerk und die Beschaalung der Decke, mit eichenartigem Anstrich versehen. Der Altar in der dem Haupteingange gegenüberliegenden Kuppel ist in Holz mit marmorartigem Anstrich ebenso wie die zur Linken freistehende Kanzel ausgeführt ...«
     Der Artikel geht weiter sehr detailliert auf die Ausstattung der Kirche ein, wobei auffallend ist, dass die namentlich genannten Hersteller »hiesig« sind. Da man mit dem zur Verfügung stehenden Geld sehr sorgfältig umgehen musste, griff man offenbar auf die in der Stadt ansässigen Handwerker zurück.
     Bei der Einweihung der Kirche am 11. Oktober 1857 war die gesamte Stadtobrigkeit, an der Spitze Oberbürgermeister und Stadtverordneten-Vorsteher, anwesend. Offensichtlich war es für die Altlutheraner ein wichtiges Ereignis, denn viele Gemeinden aus den angrenzenden preußischen Provinzen hatten ihre Pastoren entsandt. Von der preußischen Königsfamilie war allerdings - im Gegensatz zu sonstigen Kirchenweihen - niemand anwesend. Soweit ging die Toleranz bei einer sich von der Union gesondert haltenden Gemeinde nicht.
     Um 1890 - etwa zeitgleich mit der höchsten Einwohnerzahl der Luisenstadt - hatte auch die evangelisch-lutherische Gemeinde der Kirche in der Annenstraße ihre größte Mitgliederzahl mit etwa 3 000 Gemeindemitgliedern erreicht. Mit der Gründung einer Nord- und einer Westgemeinde sank ihre Zahl und erreichte ihren Tiefpunkt nach dem Bau der Mauer mit etwa 1 000 Gläubigen. Zugleich entstanden in den Westberliner Bezirken Neukölln und Zehlendorf neue Gemeinden. Die Kirchengemeinde in der Annenstraße ist aber immer noch die größte der sieben Berliner evangelisch-lutherischen Gemeinden.
     Den Krieg überlebte die Kirche bis auf den zerstörten Schulflügel relativ unversehrt. Die hohen Fenster allerdings bestehen heute nicht mehr aus buntem Glas, sondern sind durch geschickte Bemalung einer Bleiverglasung täuschend nachgeahmt worden.

Der erste Pastor

Links von der Eingangspforte der Kirche erhebt sich im Vorgarten ein Grabstein. Er trägt die Inschrift:

     Hier ruht in Gott
     ein Prediger der Glaubensgerechtigkeit.
     Friedrich Lasius
     ev. luth. Kirchenrath u. Superintendent.
     * 14. 10. 1806 † 28. 6. 1884
     Dan. 12,3

BlattanfangNächstes Blatt

   145   Im Detail Die Annenkirche  Voriges BlattArtikelanfang
Auf der Rückseite stehen die Worte:
     Er hat getragen Christi Joch,
     Ist gestorben und lebet noch.

Die Geschichte der Gemeinde ist eng mit diesem Friedrich Lasius verbunden. Lasius studierte Theologie und trat 1834, als er wegen seiner Predigten im Gefängnis saß, der altlutherischen Kirche bei. Predigttätigkeit, Gefängnis, Verbannung, Flucht und Aufenthalt an verschiedenen Orten folgten, bis er Anfang 1838 nach Berlin kam. Wieder musste er wegen seiner Predigten für fast neun Monate ins Gefängnis; danach wurde er von der Berliner Gemeinde zu ihrem Pastor gewählt. Er konnte nur des Nachts in Privaträumen und vor einer begrenzten Zahl von Mitgliedern predigen. Im Oktober 1838 wurde er wieder verhaftet und blieb 14 Monate im Gefängnis. Erst im Herbst 1840, nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV., konnte Lasius sein Berliner Pfarramt auch offiziell übernehmen. Bei seinen Sonntagspredigten sollen sich regelmäßig über 1 000 Menschen versammelt haben.
     Zugleich war Lasius ein äußerst strenger Pastor und übte harte Kirchenzucht. Sittliche Verfehlungen, Verstöße gegen die Gemeindeordnung und Lehrabweichungen zogen Kirchenzuchtsverfahren nach sich. Dadurch gab es sehr viele Ausschlüsse und Lossagungen von der Gemeinde. Trotzdem wuchs sie, und Lasius war hochgeachtet 46 Jahre lang bis zu seinem Tode ihr Prediger.

Quellen:
1 Berlin und seine Bauten, hrsg. vom Architekten-Verein zu Berlin, Berlin 1877, S. 137/138
2 Heinrich Trost u. a. Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR, Hauptstadt Berlin, Band I, Berlin 1983, S. 257
3 Johann Friedrich Bachmann, Die Luisenstadt, Berlin 1838, S. 21 sowie Plan No. I und IV
4 Horst Fritzsche, Wegweiser zu Berlins Straßennamen, Mitte, Berlin 1995, S. 64
5 Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (»Vossische Zeitung«) vom 10. 10. 1857, Erste Beilage, S. 2

Bildquellen:
Selbständige Ev.-Luth. Kirche, Kirchengemeinde Berlin-Mitte, Archiv Autor

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7-2/2001
www.berlinische-monatsschrift.de