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Es war die wichtigste Zeit meines Lebens

Günter Gaus zur ersten Ständigen Vertretung der BRD in der DDR

Die Ostpolitik von Kanzler Willy Brandt brachte nach den Verträgen mit Moskau, Warschau und Prag den Grundlagenvertrag, der im Dezember 1972 in Berlin unterzeichnet wurde, gewissermaßen der point of no return in den deutsch-deutschen Beziehungen. Der Vertrag sah die Errichtung Ständiger Vertretungen vor, über deren Modalitäten Sie dann ein Jahr lang verhandelten. Warum fiel die Wahl auf Günter Gaus, zuvor Chefredakteur des »Spiegel«?
     Günter Gaus: Ich hatte in den Jahren vor 1973, bevor ich als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt berufen wurde, zu einem kleinen Kreis von Journalisten gehört, der um Willy Brandt und Egon Bahr an den Diskussionen beteiligt war, vollkommen intern, wie es mit der Vertragspolitik weitergehen könnte, was die Ziele sein sollten. So gab es eine gewisse Vertrautheit mit den politischen Überlegungen von Willy Brandt und Egon Bahr. Es gab auch eine gewisse Vertrautheit Brandts und Bahrs mit mir, mit meiner Art zu analysieren und Schlüsse zu ziehen. Insofern war es für mich nicht so überraschend, dass Willy Brandt mich dann

nach der Bundestagswahl 1972 fragte, ob ich vom »Spiegel« in den Staatsdienst wechseln wollte. Was ich dann im Frühjahr 1973 getan und nie bereut habe.

Für die DDR war die Bundesrepublik Ausland, sie hätte am liebsten Botschafter ausgetauscht. Spielte das in den doch ziemlich langen Verhandlungen eine Rolle?
     Günter Gaus: Das war nicht der Punkt. Es war klar, dass die beiden Staaten Bevollmächtigte austauschen würden, die im Rang eines Ministers oder Staatssekretärs sein sollten. Der zentrale Punkt war: Die Bundesrepublik konnte aus staatsrechtlichen Gründen die DDR nicht als Ausland anerkennen, aber als Staat, und wir haben sie als Staat anerkannt. Wenn wir weitergegangen wären, dann hätte das Verfassungsgericht in Karlsruhe den Fortgang dieser Politik gestoppt. Das war der Grund, warum wir den Kompromiss eingegangen sind, und dann die DDR sich bereit finden musste, diesen Kompromiss auch einzugehen: Staat ja - aber nicht Ausland. Deswegen haben wir auch den Ständigen Vertreter der DDR in Bonn nicht angebunden im Auswärtigen Amt, sondern beim Kanzler. Wir hingegen haben akzeptiert, dass der Ständige Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR am Außenministerium der DDR angebunden war - protokollarisch. Das war sehr wichtig, um endlich mit der praktischen Arbeit anfangen zu können.

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War die Frage der Anbindung der Ständigen Vertreter der einzige neuralgische Punkt?
     Günter Gaus: Die DDR hatte das Verhandlungsziel, so viel Botschaft wie möglich, was den Charakter der Vertretungen betrifft. Unser Ziel war, so wenig wie möglich und so viel wie wir brauchten, um arbeiten zu können. Es ging um die Frage, in welcher Weise die Wiener Konvention über die diplomatischen Rechte auf die Vertretungen angewendet wird oder nicht. Das heißt Immunität des diplomatischen Personals, die Freistellung des Botschaftsgebäudes und der Residenz von Zugriffen des Gastlandes usw.

Wer waren Ihre Verhandlungspartner?
     Günter Gaus: Kurt Nier, der stellvertretende Außenminister, und an seiner Seite Karl Seidel, der Abteilungsleiter Bundesrepublik im Außenministerium der DDR. Es ging in diesen Verhandlungen um Völkerrechtsfragen. Völkerrecht ist eine philologische Hilfswissenschaft. Ich sage das mit Respekt. Wenn fünf Begriffe verbraucht sind für die Beschreibung einer Situation, und man kann sich dann einigen auf einen sechsten, und man sagt, mit diesem Begriff bezeichnen wir diese Lösung, dann haben wir ein neues Völkerrecht. Bei den Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ist am Ende das Wort »entsprechend« herausgekommen. Es ist dann festgelegt worden, dass die Wiener Diplomaten-Konvention entsprechend angewendet wird. Das war das neue Völkerrecht.


Günter Gaus

 
Am 2. Mai 1974 begann die Ständige Vertretung mit der Arbeit. Nur fünf Tage später musste Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurücktreten. Fürchteten Sie Auswirkungen auf Ihre Tätigkeit in Ost-Berlin?
     Günter Gaus: Am 2. Mai hat das Vorauskommando der Bundesrepublik im Hotel Unter den Linden angefangen.

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Als Guillaume enttarnt und festgenommen worden war, habe ich auf Weisung des Bundeskanzlers meine nächste Verhandlungsrunde mit Kurt Nier abgesagt. Wir wollten deutlich machen, dass dies nicht die Art ist, wie die Bundesrepublik mit sich umgehen lassen will. Aber es bestand Einmütigkeit in der Koalition darüber, dass diese Enttarnung eines Spions im Kanzleramt die sachliche Richtigkeit der Politik nicht veränderte.

Am 20. Juni wurden Sie akkreditiert. Allerdings fand dieses Zeremoniell im Hof des Staatsratsgebäudes statt. Der Platz vor dem Gebäude wurde kurzfristig in eine Baustelle verwandelt, damit, wie viele meinten, die BRD-Hymne nicht vor Publikum gespielt werden musste.
     Günter Gaus: Ich habe das die diplomatische Baugrube genannt. Sie ist, glaube ich, am nächsten Tag wieder zugeschüttet worden. Aber das hat dem protokollarischen Ablauf dieser Akkreditierung keinen Abbruch getan.1)

Sie haben in Ost-Berlin zwei Hüte aufgehabt, wie Sie in Ihrem Buch »Wo Deutschland liegt« schreiben. Den des Missionschefs und den des zentralen Verhandlungsführers. Was sprach für diese Lösung, mit der die DDR anfangs nicht einverstanden war?
     Günter Gaus: Lassen Sie mich das ein bisschen verdeutlichen. Bismarck hat in seinen Erinnerungen zwei Beschreibungen vom Glück gegeben.

Erstens, wenn man einmal fünf Minuten lang alle Entscheidungen treffen könnte, die man für nötig hält, ohne jemanden fragen zu müssen. Dieses Glück hat er nicht erreicht. Das erreicht kein Mensch. Die zweite Beschreibung von Glück hat er entwickelt aus seiner Erfahrung als Preußischer Gesandter in Petersburg: Glück müsste es sein, wenn man sich als Missionschef seine Weisungen selber geben kann.
     Was ich mit den beiden Hüten ausdrücken wollte: Ich stieg mit dem Hut des Missionschefs ein im Flughafen Tegel, wenn ich nach Bonn flog, und setzte mir, wenn ich in Bonn ausstieg, den Hut des Staatssekretärs auf. Es ging dabei nicht um die zentrale Verhandlungsführung, sondern darum, dass ich die Vertreter der Fachministerien, deren Sachverstand für meinen Verhandlungsgegenstand benötigt wurde, ins Kanzleramt bestellte. Das war der andere Hut.
     Wir stellten fest, dass die DDR einen großen Vorteil dadurch hatte, dass sie ein zentralistisch geführtes Regime war. Es gab nur eine Entscheidungsstelle und nicht die Schwierigkeiten wie bei pluralistischen Systemen mit Koalitionsabsprachen usw. Um halbwegs Schritt zu halten mit dem Vorteil, den die DDR aus ihrer zentralistischen Apparatur gewann, hat Schmidt seinerseits in einem Brief an Honecker mitgeteilt, dass die Bundesregierung sich entschlossen hat, einen zentralen Verhandlungsführer für alle Themen einzurichten. Das sollte der Ständige Vertreter sein.
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Das hat die DDR vielleicht ein bisschen knurrend akzeptiert, denn es war wieder eine Abweichung vom Üblichen, von Botschaftern. Denn in der Tat verhandeln Botschafter kaum noch, sondern es kommt jemand aus der Zentrale. Seinerzeit wusste man noch nicht so genau, ob es kleidsam ist, sich mit den Oberen der DDR Unter den Linden zu zeigen. Die Politiker in Bonn hielten sich noch ein bisschen zurück und sagten, soll das doch der Gaus machen. Ich hatte eine hochpolitische Funktion, aber ich war ja Beamter, beamteter Staatssekretär, und das war den Politikern ganz recht. Mir war es auch recht, denn dann redeten nicht so viele Leute rein.

1976 wurde Wolf Biermann ausgebürgert. Hat es von der Ständigen Vertretung dazu Reaktionen gegeben, hat das Ihre Arbeit behindert?
     Günter Gaus: Als das Schild für die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Hannoverschen Straße angebracht wurde, hatte Biermann über den Adler im Staatswappen ein böses Spottlied gemacht. Ich bin dann einige Wochen später rübergegangen, er wohnte ja genau gegenüber der Ständigen Vertretung. Er bat mich rein, und ich habe gesagt, er soll mir das mal erklären. Er hat es nicht sehr gut erklären können. Ich bin dann öfter zu ihm gegangen. Er war ausgehungert nach Publikum.

»Ach, darf ich Ihnen mal ...«, da wusste ich, jetzt holt er seine Gitarre und singt mir etwas vor. Ich habe das sehr gemocht. Dass ein Künstler Auftrittsverbot hat, fand ich nicht in Ordnung. Eine ganze Menge von seinen Liedern habe ich sehr geschätzt, und ich wollte ihm auch zeigen, dass es mir nicht Recht war, wie man ihm mitspielte. Er war eindeutig glücklich darüber.
     An dem Tag, an dem Biermann ausgebürgert wurde, war ich zu einer Besprechung über den Fortgang der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Kanzleramt. In einem sehr kleinen Kreis beim Bundeskanzler Helmut Schmidt. Da kam ein Amtsdiener in das Besprechungszimmer und gab mir einen Zettel. Auf dem Zettel stand - das las ich vor, - die DDR hat Biermann ausgebürgert. Die Besprechung ist dann relativ schnell zu Ende gegangen, weil wir abwarten wollten, wie sich die Dinge entwickeln. Ich flog nach Berlin zurück und hatte noch in der Vertretung zu tun. Als ich da an meinem Schreibtisch saß, dachte ich, da drüben sitzt jetzt die Frau von Biermann, die ein Kind erwartet, und fühlt sich bestimmt bedrückt. Ich fand es nicht in Ordnung, wie die DDR mit Biermann umgesprungen ist, und dachte, geh hinüber, vielleicht kannst du ihr helfen. Ich fand aber nicht eine »Hinterbliebene« in Tränen vor, sondern drei, seine damalige Frau, Eva-Maria Hagen und Sybille Havemann. Ich habe ihnen angeboten, Post weiterzuleiten, und sie haben es dankbar angenommen.
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Dann schrieb jede einen Brief an Biermann. Ich brachte die drei Briefe gleich nach West-Berlin, um sie dort in den Kasten zu werfen.

Sie kamen in ein »Land der kleinen Leute«, wie Sie es später beschrieben haben, mit dem Auftrag, die »Anomalie der Teilung zu normalisieren«. Ihr Gegenüber war eine für Sie ganz unbekannte politische Klasse. Es waren einerseits die »Kurienkardinäle« mit Erich Honecker an der Spitze, andererseits aber auch Macher wie Schalck und Vogel. Wie kamen Sie mit den einen und mit den anderen zurecht? Wie kamen die Kontakte überhaupt zu Stande?
     Günter Gaus: Mit den Mitarbeitern des Außenministeriums der DDR war es der ganz normale Weg, wie das zwischenstaatlich üblich ist. Meine Mitarbeiter gingen zu den zuständigen Abteilungen auf ihrer Etage im Außenministerium. Ich ging zum stellvertretenden Außenminister, oder er bestellte mich ein, wenn die DDR etwas loswerden wollte - Beschwerden, Proteste -, oder zum Abteilungsleiter Bundesrepublik, Karl Seidel, einem sehr tüchtigen Mann. Das waren, wie in jedem System, unterschiedlich begabte, einige hoch begabte Diener ihres Staates, korrekt.
     Mich interessierten die Biografien dieser Leute. Deshalb nutzte ich auch jede Gelegenheit, die Antrittsbesuche im Lande zu machen, die das Protokoll zuließ: bei den Vorsitzenden der Räte der Bezirke, nicht da, wo Gott wohnt, nicht beim 1. Sekretär, aber beim Vorsitzenden und den Oberbürgermeistern aller Bezirksstädte.

Man konnte auch noch den Oberbürgermeister von Weimar besuchen, obwohl das keine Bezirkshauptstadt war. Das lag an der besonderen kulturellen Bedeutung der Stadt. Ich habe das alles gemacht, weil ich auch sehen wollte, wie das Personal außerhalb Berlins ist. Ich war zum Teil sehr beeindruckt von einigen der Oberbürgermeister. Sie hatten offenbar alle vom Protokoll des Außenministeriums so einen Spickzettel bekommen. Als ich beim dritten Oberbürgermeister oder Ratsvorsitzenden war, sagte ich, lassen Sie den doch mal beiseite, das kenne ich schon. Da war der Mann souverän genug, zu lachen. Dann hatte ich Gelegenheit, ihn zu fragen nach seinem Herkommen und seiner Ausbildung und war angetan von der Zähigkeit, mit der manche sich die Fähigkeiten angeeignet hatten, die sie ja brauchten, um die Stadt leiten zu können.
     Dies war der eine Weg in die politische Klasse hinein. Was das Politbüro angeht, das ich verglichen habe mit der Kurie - der Papst speist niemals auswärts und Kardinäle selten. Dass man den Generalsekretär als Gast hatte, das hat nur der italienische Botschafter geschafft. Der hatte Besuch vom Vorsitzenden der italienischen Kommunisten. Da kam Honecker zum Abendessen in die Residenz. Alle anderen Missionschefs haben ihn glühend beneidet. Zu mir ist von den Kurienkardinälen nur Günter Mittag gekommen, wenn ich Delegationen des Wirtschaftsministers bei mir hatte. Oder Harry Tisch, wenn Gewerkschaftsdelegationen da waren. Der Ablauf war so geheimnisvoll, wie es bei der Kurie ist.
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Und wie war das mit Rechtsanwalt Vogel und Alexander Schalck-Golodkowski?
     Günter Gaus: Sie waren außergewöhnlich zuverlässige, korrekte Gesprächspartner. Vogel hat wirklich viel für Menschen getan, für viele Menschen. Zweitens, das gilt auch für Schalck, sie haben niemals etwas zugesagt, was sie am Ende nicht gehalten haben. Vogel hatte mit dem Häftlingsfreikauf zu tun. Sein Ansprechpartner in Bonn saß im Innerdeutschen Ministerium. Egon Bahr und ich hatten gedacht, wir könnten auch diese Sache in den ganz offiziellen Kanal hineinziehen, den es nun durch die Errichtung der Vertretungen gab. Das hat man dann in Bonn nicht getan und nicht gewollt. Wehner fand es ganz nützlich, glaube ich, diesen Seitenkanal offen zu halten. Auch die DDR hat es nicht gewollt.

Wie wurde das mit den Asylsuchenden geregelt?
     Günter Gaus: Im Frühjahr 1975 kamen die ersten in die Ständige Vertretung, es war ein Ehepaar mit einem Baby. Ich wurde benachrichtigt und kam abends gegen halb elf in die Ständige Vertretung. Meine beiden Sekretärinnen waren auch da. Zwischen ihnen auf dem Teppich kroch so ein entzückendes kleines Baby herum.

Im Nebenzimmer saß das Ehepaar. In der Nacht, die wirklich dramatisch verlief, haben Vogel und Gaus das Rezept entwickelt, nach dem bis fast zum Ende der DDR gehandelt wurde. Bis zu dem Zeitpunkt, wo es sich nicht mehr um Einzelfälle handelte.
     In der Nacht also habe ich Vogel angerufen und ihm gesagt, was los ist. Er erklärte, er rufe zurück. Ich denke, und er hat es mir später bestätigt, dass er nun seinerseits sich absicherte, ob er jetzt der Verhandlungspartner für mich sein solle oder ob er mir sagen sollte, nein, geht uns nichts an. Aber offenbar war man ganz oben - was mich sehr gefreut hat, denn es war gut für die Leute - daran interessiert, diese Sache zu regeln. Dann rief Vogel zurück und sagte, wir können ja mal reden. Ich bin dann zu ihm gefahren, und wir haben überlegt. Er wies darauf hin, dass er mir nichts Schriftliches geben könne, aber, nach kurzer Überprüfung, eine mündliche Zusage, sein Ehrenwort, dass der Fall positiv gelöst wird. Es sei nun meine Sache, das den Zufluchtsuchenden zu erklären. Ich überlegte natürlich, was passiert, wenn Vogel mich sitzen lässt. Was er nie getan hat. Auf meinen Wunsch kam Vogel dann mit in die Vertretung und hat mit mir zusammen diesem Ehepaar erklärt, das können wir anbieten, mehr nicht, Schriftliches gibt's nicht.
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Ich habe dem Ehepaar gesagt, wenn es nicht so funktioniert, wie man mir versprochen hat, werde ich es der Öffentlichkeit mitteilen und werde von diesem Posten zurücktreten. Dann musste Vogel noch einmal wegfahren.
     Teil der Verabredung war, dass nichts an die Öffentlichkeit, an die Presse gelangen darf. Bei allen Fällen, es gab während meiner Zeit bis 1981 ungefähr zwei Dutzend, muss ich zum höheren Ruhme der Korrespondenten sagen, dass sich alle daran gehalten haben. Niemand ist indiskret geworden. Während Vogel weg war, habe ich noch einmal mit dem Ehepaar geredet. Es stellte sich heraus, die Zäheren waren immer die Frauen. Allen Männern hätte ich es wohl wieder ausreden können, wenn ich gewollt hätte, aber den Frauen, nein. Das fiel mir auf und war mir interessant.
     Eines musste geklärt sein: Die Leute, die da durch die Zuflucht in der Ständigen Vertretung ihre schnelle Ausreise ertrotzen wollten, durften keine Leiche im Keller zurücklassen, d. h. es durften keine Prozesse anhängig sein, keine Alimentenzahlungen ausstehen, keine Strafverfahren wegen Diebstahls oder Ähnlichem ins Haus stehen. Das war die Voraussetzung, dass die ganze Maschinerie in Gang gesetzt wurde. Die Lösung sah so aus: Die Leute mussten zurück in ihre Heimatgemeinde, gestützt auf meine Zusage, dass innerhalb von sechs Wochen, meistens ging es schneller, die Sache gelöst sein würde. Sie durften dort nicht sagen, dass sie beim Ständigen Vertreter gewesen waren, sondern sie mussten ihren Ausreiseantrag erneuern.
Dann sorgte man von Berlin aus dafür, dass dieser Antrag genehmigt wurde.

Sie haben auch eng mit Schalck zusammengearbeitet. Wie kam es dazu?
     Günter Gaus: Der Kontakt zu Schalck kam zu Stande, weil sich die Verhandlungen auf der normalen Ebene in einer Sache, ich rede jetzt auch vom Jahr Ende 1975, festgefahren hatten. Vogel gab mir, »mit Weisung von ganz oben«, eine Telefonnummer, weil ich künftig mit jemand anderem verhandeln sollte. Ich rief an, und es meldete sich Herr Schalck, der darauf verwies, dass alles ganz diskret geschehen müsse. Er schlug vor, dass wir uns auf einem Parkplatz in der Nähe der Ständigen Vertretung, die er Botschaft nannte, treffen sollten. Da ich ein spottlustiger Mensch bin, habe ich ihn gefragt, ob ich mir einen Bart umhängen soll. Er hat gelacht, und wir haben ein Treffen für den nächsten Nachmittag vereinbart. Wie das auf dem Parkplatz ablief, mag man nicht glauben, aber es ist wahr, und Schalck bestreitet es nicht. Er hatte mir gesagt, er wird im Wagen sitzen, in einem Volvo, damals noch ein sehr seltenes Fahrzeug in der DDR. Es war auch nur ein Volvo auf dem Parkplatz, aber das war Schalck, der selber fuhr, nicht genug - er betätigte auch noch die Lichthupe, als ich auf den Parkplatz kam, damit ich den Wagen wirklich erkenne. Ich habe mich sehr bemühen müssen, nicht laut zu lachen. Dann nahm er mich mit zu sich nach Hause, dieses eine Mal. Es gab Kaffee und Kuchen.

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Von da an kam er dann immer zu mir nach Hause, in die Residenz in der Kuckhoffstraße. Er stieg an der Ecke vorher aus und ging die letzten 200 Meter zu Fuß, wegen der Diskretion. Was ja in allen Staaten aller Systeme üblich ist, dass es Verhandlungen gibt, die geheim bleiben sollen. Es ging immer diskret zu, und es war immer korrekt.

Diese Diskretion ging ja so weit, dass, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, Schalck Sie bat, auf Empfängen so zu tun, als würden sie sich nicht gut kennen. Für wen waren denn solche Manöver gedacht, für die Korrespondenten oder die Sowjets, die ja ein wachsames Auge auf den »Pangermanismus« hatten?
     Günter Gaus: Natürlich für die Korrespondenten. Die sollten nicht merken, der Schalck, der doch ein ganz anderes Ressort hat als die Beziehungen zur Bundesrepublik, der Schalck und der Gaus, die scheinen sich doch gut zu kennen. Ob es auch vor den Sowjets verborgen bleiben sollte, weiß ich nicht, das hat Schalck natürlich auch nicht gesagt. Ziemlich sicher ist, dass es der Sowjetunion in mancher Weise zu schnell ging. Ich erinnere mich sehr genau, als ich mein erstes größeres Verhandlungspaket mit der DDR geschnürt hatte, da kam auf einem Diplomatenempfang der sowjetische Botschafter Abrassimow auf mich zu und gratulierte sehr knapp. Er sagte dann, unüberhörbar deutlich: Aber zu viel, zu schnell.

Sie haben zwischen 1974 und 1980 insgesamt 17 vertragliche Vereinbarungen mit der DDR geschlossen. Welche waren am schwersten zu haben?
     Günter Gaus: Am schwersten zu verhandeln war die Wiedereröffnung des Teltowkanals. Für West-Berlin ungeheuer wichtig, denn sie verkürzte die Touren der Schleppkähne mit den Massengütern um zwei Tage. Die Wiedereröffnung des Teltowkanals war für die Westberliner Wirtschaft das Bedeutendste, was man überhaupt aushandeln konnte, viel wichtiger als die Autobahn nach Hamburg. Das Komplizierte bestand darin, dass beide Uferseiten des Teltowkanals DDR-Territorium waren. Wir mussten unsere Rechtsauffassung, nämlich dass Ost-Berlin nicht Hauptstadt war, durchsetzen. Das war das Komplizierteste, was ich ausgehandelt habe. Das habe ich mit Schalck getan. Schwierig war auch, über die Transitpauschale zu verhandeln. Die DDR ist ein rohstoffarmes Land gewesen. Der wichtigste Rohstoff, den sie hatte, war das Transitrecht. Das hat sie sich teuer abkaufen lassen, wie jeder Rohstoff, wenn er selten ist, teuer bezahlt werden muss. Wie teuer, das war ein wichtiger Verhandlungspunkt. Für das Ergebnis bin ich damals in Bonn gelobt worden, nicht in der Öffentlichkeit, der war alles zu teuer. Intern bin ich vor allem von Genscher gelobt worden, weil es mir gelungen ist, eine Langfristigkeit der Transitpauschale auszuhandeln.
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Von den 17 Verträgen, die ich ausgehandelt habe, hätte es 15 nicht gegeben, wenn West-Berlin in der Lüneburger Heide gelegen wäre. Von 17 Verträgen gab es 15 nur, um West-Berlin lebensfähig zu erhalten. Das wird fast nie bedacht. Für die Ostberliner mussten wir die Autobahn nach Hamburg nicht bauen und den Teltowkanal nicht wieder eröffnen.

Erlauben Sie mir eine letzte Frage. War die Zeit als Ständiger Vertreter für Sie ein Intermezzo, ein Durchgangsstadium für den Journalisten, Publizisten, Schriftsteller Gaus, der jetzt an seinen Memoiren arbeitet?
     Günter Gaus: Es war die wichtigste Zeit meines Lebens. Wenn ich zurückblicke und Bilanz ziehe, dann kann ich sagen, Chefredakteur des »Spiegel« ist eine schöne Sache für einen Journalisten, aber das Wesentliche in meinem Leben ist die Arbeit als Ständiger Vertreter gewesen und meine Interviewreihe »Zur Person«. Ich kann Ihnen auch sagen, warum. Wenn sie einen schlechten Artikel schreiben, dann können sie nächste Woche einen besseren schreiben. Wenn sie einen schlechten Vertrag aushandeln, können sie nicht sagen, jetzt mache ich einen neuen. Was mich rückblickend am Journalismus gestört hat, was ich aber so nicht wusste, war die Unverbindlichkeit der Arbeit. Die Arbeit als Ständiger Vertreter hatte etwas Verbindliches, und sie konnte konkret etwas für Menschen tun.

     Ich hatte den interessantesten Posten in einem anderen Staat, den ein Westdeutscher zu der Zeit haben konnte.

Das Gespräch führte Jutta Arnold

Anmerkung:
1 Nach Auskunft von Karl Seidel, damals Leiter der Abteilung Bundesrepublik im Außenministerium der DDR, fanden von 1973 bis 1976, in der Zeit, als Willi Stoph Staatsratsvorsitzender war, alle Akkreditierungen im Hof des Staatsratsgebäudes statt, weil Stoph es so wünschte.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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