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Gerhard Keiderling
Die Vier Mächte in Berlin 1961 bis 1990

Am 13. August 1961 um 1.00 Uhr begann auf Befehl des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Walter Ulbricht (1893-1973), die Durchführung der am Vortage vom Ministerrat der DDR beschlossenen »Schutzmaßnahmen an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin«.
     An der rund 43 km langen innerstädtischen Grenze übernahmen Bereitschaftspolizei und Hundertschaften der Betriebskampfgruppen die erste pioniermäßige Sicherung durch Stacheldrahtverhaue und Straßensperren, den Posten- und Streifendienst sowie die Kontrolle des Überschreitens und Überfahrens der Grenze von Westberliner Seite aus an den dafür vorgesehenen Kontrollpunkten. Gleichzeitig wurden der durchgehende S- und U-Bahn-Verkehr zwischen Ost- und West-Berlin getrennt.
     Ab 22. August 1961 begann der »pioniermäßige Ausbau der 2. Reihe« in Gestalt einer Mauer aus Betonplatten und Großblocksteinen. In der Folge wurde das Sperrsystem rings um West-Berlin mit einer Gesamtlänge von 155 km perfektioniert: Mauer bzw. Metallgitterzaun bis ca. vier Meter hoch, Kontrollstreifen, Hundelaufanlagen, über 300 Beobachtungstürme und 22 Bunker.

Die Reaktion auf den 13. August

Obwohl die Ereignisse vom 13. August 1961 nicht unerwartet kamen, wirkten sie auf die Berliner wie ein Schock. Die Westberliner sahen sich ringsum von der östlichen Militärmacht eingekesselt und setzten ihre ganze Hoffnung auf die Westalliierten. In Ost-Berlin war die Meinung geteilt. Wer Verwandte und Freunde oder gar seinen Arbeitsplatz im Westteil hatte, reagierte mit heller Empörung. Viele, von der SED-Propaganda beeinflusst, begrüßten den Wegfall solch parasitärer Erscheinungen wie Wechselstubenkurs und Grenzgängerei und hofften auf eine Verbesserung ihrer Lage im »Schutze gesicherter Grenzen«. Es war damals nicht absehbar, dass die Mauer fast drei Jahrzehnte Bestand haben würde.
     Dass in den Iden des August 1961 der Weltfriede auf des Messers Schneide stand, spielt in der heutigen Literatur kaum noch eine Rolle. Und doch war es so: Die zweite Berlin-Krise, im November 1958 von der Sowjetunion ausgelöst, hatte im Sommer 1961 eine dramatische Zuspitzung erreicht. Der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow (1894-1971) sagte am 3. Juni 1961 in Wien mit eisiger Miene zum USA-Präsidenten John F. Kennedy (1917-1963): »Krieg oder Frieden - das liegt in Ihrer Hand«, und dieser erwiderte: »Es wird ein kalter Winter werden.«1)

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Am 25. Juli 1961 proklamierte Kennedy die »Three Essentials«: das Recht der Alliierten auf Anwesenheit in Berlin, das Zugangsrecht der Alliierten nach Berlin und die Lebensfähigkeit West-Berlins. Eine Verletzung dieser lebenswichtigen Interessen würde als Casus belli gewertet. Unter Respektierung dieser Formel bereitete der Osten seine Aktion vor und gab auf geheimen Kanälen, die bis heute nicht völlig offen gelegt sind, dem Westen bestimmte Signale.
     Am 13. August 1961 wurden das Gebiet der Berliner Westsektoren nicht betreten, die alliierten und zivilen Zugangswege von und nach West-Berlin nicht eingeschränkt und die Anwesenheit der Westalliierten in keiner Weise berührt. Somit ergab sich aus westalliierter Sicht auch keine Notwendigkeit, im Sinne der »Three Essentials« zu handeln.
     In den westlichen Hauptstädten nahm man die Grenzschließung zwischen der DDR und West-Berlin mit Gelassenheit, ja sogar mit einem »Seufzer der Erleichterung« (Sebastian Haffner am 15. August 1961 in »Die Welt«) hin. Den 13. August - einen Sonntag - verbrachten Kennedy auf seinem Wochenendsitz in Hyannisport, Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle (1890-1970) in Colombeydesdeux-Églises und der britische Premierminister Harold Macmillan (1894-1986) auf Rebhuhnjad in Schottland.
Selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967), der in seinem Haus in Rhöndorf bei Bonn um 4.30 Uhr von den Vorgängen unterrichtet wurde, legte sich wieder ins Bett. Den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt (1913-1992) ereilte die Kunde im D-Zug zwischen Nürnberg und Hannover. Mit der ersten britischen Morgenmaschine flog er nach Tempelhof und fuhr sofort zum Potsdamer Platz und zum Brandenburger Tor, um sich ein Bild vom Geschehen zu machen. Dann wartete er im Flur der Alliierten Kommandantur in Dahlem, bis ihn die ratlosen Stadtkommandanten hereinließen. Brandt flehte: »Protestieren Sie doch wenigstens.«2) Weil seiner Meinung nach der Westen zu träge reagierte, verlangte er in einem Brief an Kennedy vom 16. August 1961 »entschlossenes Handeln«. Aber: »Die Westmächte brauchten in der Tat viel Zeit, um sich auch nur klarzumachen, was die - im Vergleich zu den Befürchtungen der vorangehenden Monate - begrenzte Krise bedeutete.«3)

Panzer am Checkpoint Charlie

Als wegen der Tatenlosigkeit der Westmächte die Volksseele in West-Berlin zum Kochen kam, schickte Präsident Kennedy am 19. August 1961 seinen Vize Lyndon B. Johnson (1908-1973) und General Lucius D. Clay (1897-1978) vor Ort, wo sie jubelnd empfangen wurden.

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Als Berlin-Sonderbevollmächtigter des Präsidenten legte es Clay darauf an, den Fortbestand des Viermächtestatus zu demonstrieren und dabei die Sowjets, die sich im Hintergrund hielten und den Mauerbau als Handlung einer souveränen DDR erscheinen ließen, mit demonstrativen Fahrten von US-Militärfahrzeugen in Ost-Berlin und auf der Transitautobahn nach Helmstedt aus ihrer Reserve zu locken. Clay trieb ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.
     Am 22. Oktober 1961 verweigerten DDR-Grenzpolizisten Allen Lightner, dem stellvertretenden Chef der US-Mission, am Checkpoint Charlie4) die Einreise nach Ost-Berlin, weil er sich nicht mit seinem Diplomatenpass ausweisen wollte. Kurz darauf kehrte er mit einer militärischen Eskorte - zwei Jeeps und acht GI's mit aufgepflanztem Bajonett - zurück, erzwang die Passage und kehrte nach 100 m Weiterfahrt in den US-Sektor zurück. Am 25. Oktober 1961 ließ Clay in der Friedrichstraße zehn General-Patton-Tanks aufrollen und gefechtsbereite Soldaten in den angrenzenden Häusern in Stellung bringen. Jetzt reagierte Marschall I. S. Konew (1897-1973), Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland von 1961 bis 1962, und schickte 30 T-54-Panzer nach Ost-Berlin. 16 Stunden lang standen sich am 27. und 28. Oktober 1961 in der Friedrichstraße erstmals in der Geschichte Panzer beider Seiten mit gesenkten Kanonenrohren bedrohlich gegenüber.
     In der Folge beschränkten sich die Westalliierten auf ständige Kontrollgänge und -flüge mit Hubschraubern entlang der Grenze. Eine Beruhigung der Lage trat nicht ein. Flüchtlingsmorde auf östlicher Seite sowie Sprengstoffanschläge auf die Mauer und Tunnelbauten auf westlicher Seite schufen eine Vielzahl von Gefahren, die zugleich Propagandamöglichkeiten boten.
     Als am 17. August 1962 in der Nähe des Checkpoint Charlie US-Soldaten und Westberliner Polizisten hilflos zuschauen mussten, wie wenige Meter vor ihnen auf Ostberliner Gebiet der 18-Jährige Peter Fechter bei einem Fluchtversuch verblutete, kam es zu mehrtägigen Ausschreitungen aufgebrachter Westberliner, die sich gegen die Tatenlosigkeit der Schutzmächte richteten. Diese erteilten der Westberliner Polizei den Auftrag, mit Knüppeln und Wasserwerfern an der Mauer Ruhe herzustellen. Den Tod Fechters kommentierten die Amerikaner: »It's not our problem«.5) Das war korrekt, denn der im Herbst 1961 aufgenommene sowjetisch-amerikanische Dialog über die deutsche und Berliner Frage endete mit der stillschweigenden Übereinkunft, »die >bestehenden Demarkationslinien< zu respektieren.«6) Der damalige Innensenator Heinrich Albertz (1915-1993) gebrauchte ein biblisches Gleichnis: »Der Vorhang zerriß, und der Tempel war leer.«7) Bei aller Berufung auf einen Viermächtestatus: »Wir in West-Berlin hatten es seit der Spaltung der Stadt allein mit den für uns zuständigen Drei Mächten zu tun.«8)
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Mit der Mauer leben

Es mag paradox klingen: Nachdem Empörung und Zorn gewichen waren, trug die Berliner Mauer auf lange Sicht zur Entspannung in Mitteleuropa bei. Dem Verlangen »Die Mauer muss weg!« folgte die Einsicht »Mit der Mauer leben«. »Im Zentrum dieses Dilemmas stand die >Realität der DDR< und die >Realität der staatsrechtlichen Nichtanerkennung der DDR<.«9)
     Die Westberliner Führung begann eine schmale Gratwanderung zwischen fiktivem Viermächtestatus und faktischer Dreimächtegarantie, um die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren und die Grenze nach Osten hin durchlässiger zu machen. Trotz ständiger Behinderung durch Bonn führte diese »Politik der kleinen Schritte« zum ersten Passierscheinabkommen mit der DDR vom 17. Dezember 1963.
     Über die Jahreswende 1963/64 fuhren erstmals seit August 1961 rund 1,2 Millionen Westberliner zu Verwandtenbesuchen nach Ost-Berlin. Bis 1966 kamen drei weitere Abkommen zu Stande. Als die DDR die bisherige »salvatorische Klausel«, wonach man sich über Orts- und Amtsbezeichnungen nicht einigen konnte, nicht länger hinnahm und auf ihrer Anerkennung bestand, brachen die Verwandtenbesuche mit Ausnahme derer in dringenden Familienangelegenheiten vorerst ab. Mitte der sechziger Jahre nahmen die Ost-West-Spannungen erneut zu.

Gegen die Abhaltung einer Sitzung des Deutschen Bundestages im April 1965 - erstmals seit 1958 - protestierte die Sowjetunion mit Tiefflügen ihrer Jagdflugzeuge über dem Tagungsort in der Kongresshalle im Tiergarten. Der Ausbau von Bundespräsenzen in West-Berlin wurde mit Behinderungen im Transitverkehr beantwortet.
     Im Juli 1968 führte die DDR eine generelle Pass- und Visumpflicht für Reisende nach West-Berlin ein. In Entgegnung von »revanchistischen Ansprüchen Bonns« behandelten die UdSSR und die DDR West-Berlin als eine »selbstständige politische Einheit«, die neben den beiden deutschen Staaten existierte.
     Die Krise erreichte im Februar 1969 ihren Höhepunkt, als die Bonner Regierung trotz Warnungen aus Ost und West an der Durchführung der Bundesversammlung in West-Berlin - sie wählte Gustav Heinemann (1899-1976) zum Bundespräsidenten - festhielt.
     Nur der gleichzeitig ausgebrochene sowjetisch-chinesische Grenzkrieg verhinderte eine Eskalation. Auf diplomatischem Wege kamen die Vier Mächte überein, ihre Botschafter in der BRD bzw. DDR mit der Aufnahme von Gesprächen über die Berliner Angelegenheiten zu beauftragen. Die erste Sitzung fand am 26. März 1970 im Gebäude des früheren Alliierten Kontrollrates am Kleistpark statt.
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Diplomatisches Meisterstück

Am 3. September 1972 unterzeichneten die Botschafter der Vier Mächte im früheren Kontrollratsgebäude ein »Vierseitiges Abkommen«.10) Sie hatten in 33 Sitzungen mit über 150 Verhandlungsstunden ein diplomatisches Meisterstück vollbracht, indem sie über einen der kompliziertesten internationalen Streitfälle zu einer praktikablen Bilanz ihrer gegenseitigen Interessen kamen, ohne dass eine der beteiligten Seiten ihr Gesicht verlor. »Unbeschadet ihrer Rechtspositionen«, die in puncto Gültigkeit eines Viermächtestatus unverändert gegensätzlich waren, aber »handelnd auf der Grundlage ihrer vierseitigen Rechte und Verpflichtungen aus dem Kriege«, zu denen man sich »Deutschland als Ganzes« wegen bekannte, und »unter Berücksichtigung der bestehenden Lage in dem betreffenden Gebiet«, einer eleganten Umschreibung der DDR und ihrer Hauptstadt, die noch nicht von den Westmächten diplomatisch anerkannt worden war, verständigten sich die Vier Mächte über »praktische Verbesserungen der Lage«. Wie kompliziert die Einigung gewesen war, zeigte das Gefügte und Geschachtelte des Abkommens, dem Anlagen, Noten, Briefwechsel und Protokollvermerke beigefügt waren.
     Das eigentliche Abkommen beschränkte sich auf drei Teile. In den »Allgemeinen Bestimmungen« versicherten sich die Vier Mächte eingedenk ihrer

Rechte und Verantwortlichkeiten, »die Beseitigung von Spannungen und die Verhütung von Komplikationen« zu fördern, »Streitigkeiten ausschließlich mit friedlichen Mitteln beizulegen« und die »im betreffenden Gebiet« entstandene Lage nicht einseitig zu verändern. Diese Verpflichtungen bezogen sich zweifelsfrei auf das gesamte Berlin. Hingegen beinhaltete Teil II nur »Bestimmungen, die die Westsektoren Berlins betreffen«, nämlich den Transitverkehr und »die Kommunikationen zwischen den Westsektoren Berlins und Gebieten, die an diese Sektoren grenzen«. Konkrete Regelungen wurden »den zuständigen deutschen Behörden« übertragen. Die entscheidende, weil das gesamte Abkommen tragende Bestimmung lautete, »daß diese Sektoren so wie bisher kein Bestandteil (konstitutiver Teil) der Bundesrepublik Deutschland sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden«. Indem die Westmächte den Sonderstatus West-Berlins bestätigten, erhielten sie von der Sowjetunion die Zustimmung, »daß die Bindungen zwischen den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik aufrechterhalten und entwickelt werden«. Gleichzeitig räumten die Westmächte der UdSSR konsularische und andere Rechte in den Westsektoren ein, über die sie in Ost-Berlin nicht verfügten. Teil III »Schlußbestimmungen« sah nur noch die Inkraftsetzung des Abkommens nach Abschluss aller Begleitmaßnahmen vor.
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   9   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Transitabkommen zwischen der BRD und der DDR wurde am 17. Dezember 1971 abgeschlossen. Es war der erste selbstständige, völkerrechtsverbindliche Staatsvertrag zwischen beiden Staaten. Zwischen der DDR-Regierung und dem Senat von Berlin wurden am 20. Dezember 1971 Vereinbarungen über Erleichterungen und Verbesserungen des Reise- und Besucherverkehrs sowie über Gebietsaustausch in der Frage von Enklaven getroffen. Damit waren die Ausführungsbestimmungen des Vierseitigen Abkommens von deutscher Seite aus erfüllt.
     In der BRD hatten die Entspannungsgegner in der CDU/CSU inzwischen eine massive Kampagne gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung gestartet. In einer dramatischen Sitzung des Bundestags am 27. April 1972 scheiterte das von der CDU/CSU eingebrachte Misstrauensvotum. Damit war der Weg frei zur Inkraftsetzung des Vierseitigen Abkommens am 3. Juni 1972.

Der Interpretationsstreit

Schon im Vorfeld des Abkommens zeichnete es sich ab, dass der komplizierte Formelkompromiss unterschiedliche Interpretationen auslösen und die Vier Mächte die Austragung dieses Auslegungsstreites ihren deutschen Stellvertretern überlassen würden. So geschah es. Es begann damit, dass der offizielle Titel von der DDR korrekt mit »Vierseitiges Abkommen« übersetzt wurde,

während in der BRD und West-Berlin permanent von einem »Viermächte-Abkommen über Berlin« gesprochen wurde.
     Hauptstreitpunkt war der Rechtsstatus der Berliner Westsektoren. Die Vier Mächte hatten einen tragfähigen Kompromiss gefunden: »Kein konstitutiver Bestandteil der BRD« und »weiterhin nicht von ihr regiert« entsprach der historischen wie tatsächlichen Lage, denn in entscheidenden Fragen beanspruchten die Drei Mächte die Oberhoheit auf besatzungsrechtlicher Grundlage. Mit der Aufrechterhaltung und Entwicklung von Verbindungen zwischen West-Berlin und der BRD war andererseits die gewachsene Zugehörigkeit zur BRD bekräftigt und ihr auch eine Perspektive gewiesen worden. Die Sowjetunion war mit ihrer Konzeption einer »selbständigen politischen Einheit Westberlin« als drittem deutschem Staatsgebilde nicht durchgekommen.
     Zwischen beiden deutschen Seiten ging der Streit darüber, ob es sich um »Bindungen« oder - wie die DDR übersetzte - um »Verbindungen« (im Abkommen engl. »ties«, französisch »liens« und russisch »svasi«) handelte. »Bindungen« - so Politiker und Juristen im Westen - würden die erwünschte »Vollwertigkeit des Bundeslandes Berlin« unterstreichen und den Ausbau demonstrativer Bundespräsenzen rechtfertigen. Das wiederum betrachtete die DDR, von ihrer Schutzmacht ermuntert, als ein provokatives Unterlaufen des Abkommens.
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   10   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Besondere Proteste lösten die Errichtung des Umweltbundesamtes 1973/74, demonstrative Sitzungen von Gremien des Bundestages und der Bundesregierung sowie die Verwendung der »Land Berlin«-Klausel in der Gesetzgebung und in internationalen Verträgen der BRD aus. Im Gegenzug nutzte die DDR die Gelegenheit, um Ost-Berlin als ihre Hauptstadt verstärkt zu integrieren. So wurden 1976 das »Verordnungsblatt für Groß-Berlin«, in dem die DDR-Gesetzgebung - analog zur Übernahme der Bundesgesetze in West-Berlin - übernommen worden war, eingestellt, 1977 die Amtsbezeichnung der Ostberliner Verwaltung in »Magistrat von Berlin, Hauptstadt der DDR« geändert, 1979 die Sonderstellung der Ostberliner Volkskammer-Abgeordneten aufgehoben und ab 1981 direkt zur Volkskammer der DDR gewählt.
     Als Anfang der achtziger Jahre der NATO-Doppelbeschluss über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen das Ost-West-Verhältnis wiederum belastete, bemühten sich beide deutsche Staaten, West-Berlin aus dem Konfliktfeld herauszuhalten. Schon lange anstehende Vereinbarungen, so zur Verbesserung des Post- und Fernmeldeverkehrs, zum Umweltschutz, zur Müllentsorgung, zum Gebietsaustausch und zum Austausch von Kulturgütern, kamen zum Abschluss. Die DDR-Führung, die die Anfänge ihrer Destabilisierung nicht länger verbergen konnte, ließ sich ihre Zustimmung mit horrenden Summen abkaufen.
Allein für die Gebietsaustausch-Verträge von 1971, 1972 und 1988 kassierte sie insgesamt 111 Millionen DM. Aus DDR-Sicht war somit aus dem früheren »Pfahl im Fleisch« ein »Goldesel«, d. h. Devisenbeschaffer, geworden. Trotzdem übten Planungsstäbe der NVA und des Ministeriums für Staatssicherheit noch 1988 unter dem Decknamen »Operation Bordkante« die militärische Besetzung West-Berlins während eines »Ernstfalles« innerhalb von zwei Tagen.

Die Schutzmächte im Alltag

Der Begriff Schutzmacht bürgerte sich nach der Berlin-Blockade von 1948/49 ein, zumal er ein offizielles Diktum war. Der Umgang der Westberliner mit den Alliierten vollzog sich in sachlicher und freundschaftlicher Atmosphäre. Man begegnete sich in der Stadt, in Jazzkellern und Diskotheken, bei Veranstaltungen und Volksfesten oder in Kultureinrichtungen wie dem »Amerika-Haus«. Zu Weihnachten waren alliierte Soldaten zu Gast in deutschen Familien. Vor allem nach 1961 lebte die Mehrheit der Westberliner mit der festen Überzeugung, dass die Schutzmächte ihre Sicherheit und Freiheit gewährleisteten.
     Die Alliierten machten von ihren in der »Erklärung über Berlin« vom 5. Mai 1955 novelliierten Besatzungsrechten (vgl. BM 3/2001) sparsamen, jedenfalls unauffälligen Gebrauch.

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   11   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Der Mann auf der Straße spürte den Sonderstatus seiner Stadt an einigen Praktiken, an die er sich gewöhnt hatte: keine Teilnahme an Bundestagswahlen, keine Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst, ein besonderer »Behelfsmäßiger Ausweis«, der grundsätzlich auf der Straße bei sich zu tragen war, Flüge nur mit alliierten Fluglinien und anderes mehr. Die Unannehmlichkeiten, die sein Leben einschränkten, empfand er als Schikanen der »anderen Seite«: Kontrollen auf den Transitwegen, Zwangsumtausch und andere Beschränkungen im Besucherverkehr nach Ost-Berlin und in die DDR und vor allem die Mauer, die in einer Länge von 155 km, davon 43 km mitten durch Berlin, die Inselstadt umgab.
     Seit der Neubildung der Alliierten Kommandantur Berlin im Dezember 1948 verlief die Anleitung und Kontrolle des Senats in einer nach außen hin unerkennbaren Form. Monatlich fanden zwischen den drei Stadtkommandanten und dem Regierenden Bürgermeister die »Kommandantengespräche« statt, in denen alle wichtigen anstehenden Fragen behandelt wurden. Der ständige Verkehr untereinander verlief reibungslos, zumal

Planungsunterlage »Operation Bordkante«, Zeichnung der »Berliner Zeitung« vom 30. November 1994

die drei Verbindungsoffiziere ihre Büros neben den Amtsräumen des Regierenden Bürgermeisters im Rathaus Schöneberg hatten. Klaus Hübner, Polizeipräsident von 1969 bis 1987, beschrieb die Situation so: »Auf meine Arbeit bezogen vollzogen sich die Kontakte zu den Alliierten auf drei Ebenen. An der Spitze korrespondierte der Regierende Bürgermeister mit den Stadtkommandanten.

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   12   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Die nächste Kontaktfläche bestand zwischen den Senatoren und den Gesandten. Mit den Sicherheitsoffizieren, die das Public-Safety-Committee bildeten, pflegte der Polizeipräsident direkten Kontakt.«11)
     Grundsätzliche Dinge regelten nach wie vor »Berlin Kommandatura Letters«, die zumeist auch im Gesetzblatt veröffentlicht wurden. In allen Belangen der inneren und äußeren Sicherheit beharrten die Schutzmächte auf ihrer Befehlsgewalt, insbesondere über die Polizei. Entsprechend der BK/O (58) 3 vom 14. März 1958 durfte ohne Zustimmung des Public-Safety-Committee kein Polizeibeamter vom Oberkommissar aufwärts befördert oder suspendiert werden. Darüber hinaus setzten sie die Personalstärke der Polizei und ihre Ausstattung mit Schusswaffen und Munition fest. Sie überwachten auch die Freiwillige Polizei-Reserve (FPR), die - quasi als Gegenstück zu den Ostberliner Betriebskampfgruppen - im Herbst 1960 zum Objektschutz und als Hilfstruppe im Ernstfall gebildet worden war.

»Entrümpelung« des Besatzungsrechts

Seit der »außerparlamentarischen Opposition« (APO) der Studenten Ende der sechziger Jahre verstummte in der Nachkriegsgeneration nicht die Disksussion über das Besatzungsrecht.

Wiederholt kam es zu antiamerikanischen Aktionen in West-Berlin, die mit hartem Polizeieinsatz bekämpft wurden, so bei den Besuchen des US-Präsidenten Ronald Reagan im Juni 1982 und im Juni 1987.
     Ausgerechnet biedere Rentner aus der Blockadegeneration traten Anfang der achtziger Jahre eine Rechtslawine los. Als am Rande des Landschaftsschutzgebietes Düppel eine Wohnsiedlung für amerikanische Soldaten und in Gatow nahe eines deutschen Wohngebietes ein britischer Schießplatz gebaut werden sollten, erhoben sie Klage beim Verwaltungsgericht. Die Stadtkommandanten verweigerten unter Berufung auf Besatzungsrecht die Zustimmung zur Verhandlung. Die Betroffenen gingen daraufhin in Washington und London vor Gericht, wo man ihr Grundanliegen zwar als justitiabel befand, aber mit dem Hinweis abwies, dass West-Berlin nach wie vor besetztes Gebiet sei.
     Zeitgleich gab es einen anderen Vorfall. Zwei DDR-Bürger, die in den Westen wollten, entführten am 30. August 1978 eine polnische LOT-Maschine und zwangen sie zur Landung in Berlin-Tempelhof. Die Springer-Presse bejubelte diesen Husaren-Ritt. Doch die USA, die sich damals einer weltweiten Luftpiraterie erwehrten, mussten einschreiten. Zur Aburteilung der beiden Luftpiraten setzte Washington ein spezielles »Amerikanisches Gericht für Berlin (United States Court for Berlin)« ein.12)
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   13   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Beide Vorfälle fanden größte Beachtung. Erstmals geriet das seit Kriegsende in West-Berlin geltende und bislang als »heilige Kuh« behandelte Besatzungsrecht in die öffentliche Diskussion. Bürger beschwerten sich über Straßenkampfübungen in Kreuzberg und Wedding sowie über die Freisprechung britischer Soldaten, die eine Westberlinerin vergewaltigt hatten. Bürgerinitiativen entstanden. Die Alternative Liste forderte im Abgeordnetenhaus 1984/85 »den Verzicht der Westalliierten auf die Ausübung ihrer innenpolitischen Rechte«, weil sie in krassem Widerspruch zur offiziell deklarierten Gültigkeit des Grundgesetzes der BRD standen. Der Antrag wurde von den etablierten Rathaus-Parteien niedergestimmt. Dennoch sah sich der Regierende Bürgermeister Diepgen bemüßigt, bei seinen Antrittsbesuchen in den drei westlichen Hauptstädten im Frühjahr 1984 eine »Entrümpelung« des Besatzungsrechts zu ersuchen. Nach Expertenschätzung gab es noch rund 4 000 geltende alliierte Gesetze, Verordnungen und Befehle, die längst obsolet waren. Diepgen selbst nannte
Ergebnis einer repräsentativen Umfrage in der »Berliner Zeitung« vom 22. August. 1994

»die Androhung der Todesstrafe für den Besitz eines langen Küchenmessers« laut alliierter Gesetzgebung antiquiert.13)

»Wie die Made im Speck«

Die Alternative Liste verlangte eine Offenlegung der Besatzungskosten. Nach BK/O (68) 8 übergab die Alliierte Kommandantur jährlich dem Regierenden Bürgermeister den Etat »Einzelplan 35, Kapitel 3502«, der ihn direkt an den Bundesfinanzminister weiterleitete.

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   14   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Das Abgeordnetenhaus bekam diesen Haushaltsplan nie zu Gesicht. Als Details über parasitäre Zustände bei den Schutzmächten bekannt wurden, wuchs die öffentliche Kritik.
     Die »taz« schrieb im November 1985: »Seit Jahrzehnten leben sie in Westberlin wie die Made im Speck. Von den jährlichen Kosten der Truppen für ihr Engagement (1985 ungefähr zwei Milliarden DM) tragen die bundesdeutschen Steuerzahler gut zwei Drittel - die sogenannten Besatzungskosten. Die drei Mächte bestreiten nur den Teil selbst, den sie auch sonst für die Gehälter, Kleider, Verpflegung und Waffen ihrer Soldaten ausgeben müßten. Was die Kosten so in die Höhe treibt, sind sicher nur die Hausgehilfin, die mietfreie Wohnung und das Reitpferd, auf die jeder britische Offizier Anspruch hat.«14)
     Für die rund 12 000 Westalliierten und die bei ihnen beschäftigten rund 12 000 zivilen Arbeitskräfte - rechnerisch kam also auf jeden Besatzungssoldaten ein deutscher Zivilbeschäftigter - stand um 1985 ein Haushaltsposten von 1,384 Milliarden DM zur Verfügung.
     Die Stadtkommandanten genossen ihre Hoheit, »wenn sie sich plötzlich, in ausgesuchtesten Villen residierend, nahezu in die Situation feudalistischer Souveräne versetzt sahen.«15) Über dieses Leben schrieb der US-Diplomat Edward Harper, der von 1979 bis 1986 als Leiter der Abteilung für Kultur, Information
und Presse an der US-Botschaft in Ost-Berlin und zuletzt an der US-Mission in West-Berlin Dienst tat: »Der Auswärtige Dienst gab uns eine erstklassige Villa im eleganten Vorort Dahlem (Gelfertstraße 43, d. Red.) ... Türkische Gärtner pflegten unseren großen Garten mit Rosenbeeten und Obstbäumen. Eine fröhliche Jugoslawin besorgte den Haushalt.
     Der Posten Berlin war für den Auswärtigen Dienst in vieler Hinsicht außergewöhnlich. Erstens, die Kosten der Amerikaner, Briten und Franzosen wurden von der westdeutschen Regierung bezahlt, die darauf bedacht war, die alliierte Präsenz in der belagerten Stadt zu erhalten. Diese Großzügigkeit wurde ungeheuer mißbraucht. Die von unserer Regierung bewilligten Bewirtungsspesen waren winzig, aber wir reichten unsere Rechnungen bei den Deutschen ein, die ohne Murren zahlten.
     Das Ergebnis war eine endlose Kette von opulenten Cocktailparties, Empfängen und Festdiners bei allen drei Schutzmächten. Eine Flotte von Botschaftswagen stand bereit, um uns zum Essen zu den teuersten und besten Restaurants der Stadt zu fahren. Jede Schutzmacht hatte eigene Einkaufszentren, wo uns teure Delikatessen zollfrei verkauft wurden ... Überall gab es für uns Tennisplätze, Turnhallen, Bäder. Wir hatten einen eigenen Golfplatz.
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   15   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Unsere Autos liefen mit steuerfreiem Benzin ... Die Berliner, gewitzte Leute, duldeten das alles in dem Wissen, ohne die Alliierten dem ostdeutschen Regime und den dahinter stehenden Russen ausgeliefert zu sein.«16)
     Hinzu kam, dass den Westalliierten ein »Einkaufsparadies« direkt vor der Nase lag. »Tag für Tag wiederholte sich im Zentrum von Ost-Berlin die gleiche Szene: Gegen Mittag fuhren am Alexanderplatz Militärbusse der in West-Berlin stationierten Streitkräfte vor. Dann schwärmten Amerikaner, Briten und Franzosen in die Kaufhäuser und Läden aus und sammelten ein, was die sozialistische Volkswirtschaft an attraktiven Waren zu bieten hatte ... Wenn die alliierten Einkäufer von ihrem Beutezug zu den geparkten Bussen zurückkehrten, waren die meisten von ihnen schwer beladen ... Für die GIs und die anderen Schutzmacht-Soldaten waren die Einkaufstouren in den Osten eine preisgünstige Schnäppchenjagd. Denn sie bezahlten mit Ost-Mark, die sie nicht nach offiziellem DDR-Kurs (eine DM-West gleiche eine Mark Ost) eintauschten, sondern sich in West-Berliner Wechselstuben billig geholt hatten.«17) Die Westalliierten lebten also auch auf Kosten der DDR-Bevölkerung.

Die Sowjets in Ost-Berlin

Die in der DDR und Ost-Berlin stationierten sowjetischen Truppen galten offiziell als Waffenbrüder, wurden in der Bevölkerung aber auch als teure Besatzer empfunden.

So wie das »Abkommen zwischen der DDR und der UdSSR über Fragen, die mit der zeitweiligen Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR zusammenhängen«, vom 12. März 1957 den Begriff »Besatzungskosten« unerwähnt ließ, gab es niemals eine Offenlegung dieses Postens im DDR-Haushaltsplan. Undenkbar auch, dass in der Volkskammer eine entsprechende Anfrage gestellt worden wäre.
     Im öffentlichen Bild Ost-Berlins traten die Sowjets wenig in Erscheinung und stärkten dadurch das Souveränitätsgefühl der DDR. Das sowjetische Wohnviertel in Karlshorst hatte schon Anfang der fünfziger Jahre seinen separierten Charakter mit giftgrün gestrichenen Holzzäunen, von roten Sowjetsternen gezierten Eingangspforten und bewachten Schlagbäumen verloren. Militärparaden fanden nicht statt - wohl eine Lehre des 17. Juni 1953.
     Hingegen stellte die Sowjetunion seit den siebziger Jahren ihre Verantwortlichkeiten und Tätigkeiten in West-Berlin, wie sie im Vierseitigen Abkommen bekräftigt worden waren, demonstrativ heraus. Dazu gehörten die Bewachung des Alliierten Kriegsverbrechergefängnisses in Spandau (bis 1987) und des Sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten, ständige Patrouillefahrten, die Einrichtung eines Generalkonsulats sowie von Agenturen des sowjetischen Außenhandels, von Intourist, Aeroflot, Sovexportfilm und der Nachrichtenagentur Nowosti.
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   16   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Wie die Made im Speck lebten die Sowjetoffiziere mit ihren Familien nicht. Es ging ihnen sicher besser als ihren Genossen in der UdSSR, weshalb eine Versetzung in die DDR begehrt war. Die Abschottung von der DDR-Bevölkerung war total. Die Wohnsiedlungen der Offiziere und erst recht die Kasernen der Soldaten waren separiert und militärisch gesichert. Nur in besonderen Fällen - etwa im Werk »Progress« bei Königs Wusterhausen - wurden deutsche Spezialisten mit strengen Sicherheitsauflagen beschäftigt. Als nach 1990 erstmals Einblicke in den Alltag der Sowjettruppen möglich wurden, reagierte die Öffentlichkeit erschreckt über die trostlosen Zustände. Am meisten schockierten der marode Zustand der Kasernen und die ungeheure Umweltbelastung der hinterlassenen Liegenschaften und Manövergelände.
     Schon in den ersten Nachkriegsjahren erfolgte eine strenge Absonderung der sowjetischen Besatzungstruppen von der ostdeutschen Bevölkerung, eine Reaktion auf die Ausschreitungen bei Kriegsende. Daran änderte sich auch in den späteren Zeiten der »Waffenbrüderschaft« wenig. Einen so freien Umgang, wie er in West-Berlin zwischen der Bevölkerung und ihren Besatzern üblich wurde, gab es in Ost-Berlin niemals. Abgesehen von organisierten Freundschaftstreffen begegnete man sich im Alltag kaum. Als die Russen 1994 abzogen, atmeten viele Ostberliner auf und reagierten mit Gleichgültigkeit.
Ende des Viermächtestatus 1990

Nach der Maueröffnung am 9. November 1989 vollzog sich der Zusammenbruch des SED-Staates in rapidem Tempo. Mit dem Hintergedanken, auf das Geschehen, insbesondere auf das künftige Schicksal Deutschlands, nicht den Einfluss zu verlieren, lud die Sowjetunion die Westmächte - erstmals seit 1971 - zu einem Konsultationstreffen am 11. Dezember 1989 ins Gebäude des früheren Alliierten Kontrollrates ein. Es gelang ihr nicht, einen Keil zwischen die Westmächte zu treiben, wenngleich Frankreich und Großbritannien zu diesem Zeitpunkt einer deutschen Wiedervereinigung skeptisch gegenüberstanden. Als die ersten freien Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 eine DDR-Regierung ohne SED-Beteiligung ans Ruder brachten, drängte nun der Westen zur Aufnahme von Verhandlungen über die deutsche Frage. Moskau nahm zur Kenntnis, dass ein Erhalt der DDR unmöglich geworden war, und lenkte ein. Am 5. Mai 1990 begannen die Zweiplus-Vier-Verhandlungen der Außenminister der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten. Gegenstand waren die Ablösung der Viermächterechte, die Zustimmung zur Souveränität des vereinigten Deutschland, die Grenzfrage und vor allem die Frage der Bündniszugehörigkeit. Der sowjetische Wunsch nach einem Friedensvertrag wurde abgewiesen, statt dessen kam es zu einer »endgültigen Regelung«, die die Deutschen zu gleichberechtigten Partnern machte.

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     Der »Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet und nach Hinterlegung der sowjetischen Ratifikationsurkunde am 15. März 1991 in Kraft gesetzt. Er sanktionierte die Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Konditionen im Rahmen der NATO. Der Westen erntete die Früchte der »friedlichen Revolution« in Osteuropa und der Beendigung des Kalten Krieges. Die Militärmacht der ohnehin geschwächten Sowjetunion - 1991 löste sie sich auf - in Deutschland wurde beseitigt.
     Die zweitrangige Rolle, die das Berlin-Problem während der Verhandlungen spielte, fand im Vertragstext ihren Niederschlag. Die Vier Mächte beendeten in Artikel 7 »ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.« Auf solch lapidare Weise war ein Schlussstrich unter einen Spannungsherd gezogen worden, der jahrzehntelang im Brennpunkt des Ost-West-Konflikts gestanden hatte. Breiteren Raum nahm in Artikel 4 und 5 der »Abzug der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins« ein, der bis Ende 1994 abzuschließen war.
Die Einzelheiten legte ein Truppenvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 12. Oktober 1990 fest. Die Drei Mächte »nahmen diese Erklärung zur Kenntnis«. »Auf deutschen Wunsch« sollten bis zum vollendeten Abzug der Russen westalliierte Streitkräfte in Berlin verbleiben.
     Am Vorabend des »Tages der Einheit«, am 2. Oktober 1990, verabschiedete das Abgeordnetenhaus von Berlin im Rathaus Schöneberg die Kommandanten und die Gesandten der Drei Mächte. Diese übergaben letztmals einen »Berlin Kommandatura Letter«: »Heute um Mitternacht ist die Aufgabe der Stadtkommandanten erfüllt. Wir drei Stadtkommandanten werden Berlin in Kürze verlassen und dabei Genugtuung empfinden, daß unsere gemeinschaftlichen Bestrebungen zum Erfolg geführt haben. Das Berlin, das wir zurücklassen, wird vereint und frei sein.«18)
     In aller Stille verschwanden Einrichtungen, wurden Kasernen geräumt und Fahnen eingeholt. Das Gebäude des Kammergerichts am Kleistpark, in dem von 1945 bis 1948 der Alliierte Kontrollrat gesessen hatte, wurde im Februar 1991 der Stadt zurückgegeben. In das Gebäude der Alliierten Kommandantur in Dahlem zogen Verwaltungen der Freien Universität ein. Die Alliierte Luftsicherheitszentrale im Kontrollratsgebäude stellte ihre Arbeit ein. Noch bis 31. August 1994 beanspruchten die Russen Flugsonderzonen.
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   18   Probleme/Projekte/Prozesse Vier Mächte in Berlin  Voriges BlattNächstes Blatt
Danach wurde das gesamte Luftstraßensystem über Ostdeutschland neu geordnet. Die Leitung übernahm ab 9. November 1994 das neue Flugkontrollzentrum auf dem Flughafen Berlin-Tempelhof.
     Mit dem schrittweisen Truppenabzug wurden Kasernen, Übungs- und Flugplätze, Dienstgebäude sowie Wohnungen - von den Westmächten über 6 000 und von den Russen etwa 1 000 - an den Bund und das Land Berlin zurückgegeben. So zog in die Andrews-Barracks in Steglitz ein Teil des Bundesarchivs. Im Juli 1994 stellten die Soldatensender AFN und BFBS ihre Sendungen ein. Am 18. Juni 1994 fand auf der Straße des 17. Juni zum letzten Mal die seit 1964 alljährlich abgehaltene »Allied Forces Day Parade« statt.
     Die russischen Streitkräfte führten am 25. Juni 1994 an der Wuhlheide in Köpenick erstmals eine Parade durch, mit der sie sich zugleich verabschiedeten.
     Den Schlusspunkt setzten Abschiedsfeiern. Am 31. August 1994 fand in Anwesenheit des russischen Präsidenten Boris Jelzin ein Festakt im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und ein militärisches Zeremoniell am Ehrenmal in Treptow statt. Am nächsten Tag verließ die Berlin-Brigade als letzte russische Einheit mit der Bahn Berlin. Eine Woche später, am 8. September 1994, kamen der französische Präsident François Mitterrand, der britische Premierminister
John Major und der USA-Vizepräsident Al Gore zur Verabschiedung ihrer Streitkräfte nach Berlin. Neben einer Gedenkfeier am Luftbrückendenkmal stand ein Festakt im Schauspielhaus auf dem Programm. Die Bundeswehr, die inzwischen mit 3 500 Soldaten und Zivilbediensteten den Standort Berlin übernommen hatte, spielte am Brandenburger Tor zum Großen Zapfenstreich auf.
     Vereinbarungsgemäß hatten seit dem 1. Januar 1991 546 200 Soldaten und Zivilangehörige der Westgruppe der ehemaligen Sowjetarmee mitsamt ihren Waffen und technischem Gerät Deutschland verlassen. Auch die Westmächte verringerten ihre Truppen und Stützpunkte in den alten Bundesländern erheblich. Am 1. Januar 1990 waren noch 5 800 Amerikaner, 2 500 Briten und 3 100 Franzosen in West-Berlin stationiert gewesen, die letzten Truppen zogen im Herbst 1994 ab.
     Wie es keine gemeinsame Verabschiedung der Vier Mächte gegeben hatte, so wird auch eine getrennte Erinnerung an die 48 Jahre nach Kriegsende bleiben. Das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst erinnert an die Kapitulation Hiter-Deutschlands in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945, und das neue Alliierten Museum im früheren amerikanischen Kino »Outpost« an der Clayallee in Zehlendorf an »Berlin Airlift« und »Checkpoint Charlie«.
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Die westalliierten Stadtkommandanten von 1962 bis 1990
Zwischen 1962 und 1990 fungierten in ihren jeweiligen Besatzungssektoren folgende Stadtkommandanten:
Frankreich (Sitz: Quartier Napoléon in Reinickendorf):
 General Edouard K. Toulouse1962-1964
 General François Binoche1965-1967
 General Bernard Huchet de Quénetain1967-1970
 General Maurice Routier1970-1973
 General Camille Metzler1973-1975
 General Jacques Mangin1975-1977
 General Bernard d´Astorg1977-1980
 General Jean P. Liron1980-1984
 General Oliver de Gabory1984-1985
 General Paul Cavarrot1985-1987
 General François Cann1987-1990
Großbritannien (Sitz: Hauptquartier am Olympiastadion):
 Generalmajor Claude I. DunbarMai 1962-Dezember 1962
 Generalmajor David Peel-YatesDezember 1962-Januar 1966
 Generalmajor Sir John NelsonFebruar 1966-Februar 1968
 Generalmajor F. J. C. Bowes-LyonMärz 1968-November 1970
 Generalmajor Earl of CathcartNovember 1970-Juli 1973
 Generalmajor D. W. Scott-BarrettAugust 1973-November 1975
 Generalmajor Roy M. F. RedgraveNovember 1975-Januar 1978
 Generalmajor Robert F. RichardsonJanuar 1978-September 1980
 Generalmajor J. D. F. MostynSeptember 1980-Oktober 1983
 Generalmajor Bernard C. Gordon-LennoxOktober 1983-Dezember 1985
 Generalmajor Patrick C. BrookingDezember 1985-Januar 1989
USA (Sitz: Clayallee, Dahlem):
 Generalmajor Albert Watson IIMai 1961-Januar 1963
 Generalmajor James K. PolkJanuar 1963-August 1964
 Generalmajor John F. Franklin Jr.September 1964-Juni 1967
 Generalmajor Robert G. FergussonJuni 1967-Februar 1970
 Generalmajor George M. Seignious IIFebruar 1970-Mai 1971
 Generalmajor William W. CobbMai 1971-Juni 1974
 Generalmajor Sam S. WalkerJuni 1974-August 1975
 Generalmajor Joseph C. McDonoughAugust 1975-Juni 1978
 Generalmajor Calvert P. BenedictJuni 1978-Juli 1981
 Generalmajor James G. BoatnerJuli 1981-Juni 1984
 Generalmajor John H. MitchellJuni 1984-Juni 1988
 Generalmajor Ramond E. HaddockJuni 1988-Oktober 1990
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Quellen:
1 Hermann Zolling/ Uwe Bahnsen, Kalter Winter im August. Die Berlin-Krise 1961/63. Ihre Hintergründe und Folgen, Oldenburg und Hamburg 1967, S. 80 f.
2 Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975, Hamburg 1976, S. 12
3 Ebenda, S. 22
4 Die Kontrollpunkte für den westalliierten Verkehr auf der Autobahn Helmstedt-Berlin hießen im US-Militärjargon »Allied Checkpoint Alpha« für Helmstedt und »Allied Checkpoint Bravo« für Dreilinden; nach dem 13. August 1961 erhielt der Grenzübergang für Ausländer und Diplomaten in der Berliner Friedrichstraße den Namen »Allied Checkpoint Charlie«
5 Kurt L. Shell, Bedrohung und Bewährung. Führung und Bevölkerung in der Berlin-Krise, Köln und Opladen 1965, S. 361
6 »Der Spiegel«, Hamburg, 5. September 1962, S. 25
7 Jean E. Smith, Der Weg ins Dilemma. Preisgabe und Verteidigung der Stadt Berlin, West-Berlin 1965, S. 280
8 Willy Brandt, Begegnungen mit Kennedy, München 1964, S. 88
9 Kurt L. Shell, a. a. O., S. 287
10Wortlaut in: Dokumente zur Berlin-Frage 1967-1986, München 1987, S. 190 ff.; hier auch die Fotokopie der amtlichen englischen Fassung des »Quadripartite Agreement«
11Klaus Hübner, Einsatz. Erinnerungen des Berliner Polizeipräsidenten 1969-1987, Berlin 1997, S. 115
12Vgl. Herbert J. Stern, Ein Richter für Berlin, München 1985
13»Volksblatt«, Berlin, 12. April 1984
14Zitiert in: Besatzungsrecht in Berlin (West). Hrsg. Fraktion der Alternativen Liste im Abgeordnetenhaus von Berlin, West-Berlin 1986, S. 56
15Klaus Hübner, a. a. O., S. 114
16Edward Harper, Unintended Consequences. A Twentieth Century Odyssey, Bethel, Connecticut, 1997, zitiert in: Berliner Illustrierte Zeitung. Das Wochenend-Magazin der Berliner Morgenpost, Nr. 37 vom 13./14. September 1997
17Peter Pragal/ Eckart D. Stratenschulte, Der Monolog der Lautsprecher und andere Geschichten aus dem geteilten Berlin, München 1999, S. 103 f.
18Zitiert in: Walter Momper, Grenzfall. Berlin im Brenpunkt deutscher Geschichte, München 1991, S. 431
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2001
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