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Guy Leclerc
Das Haus Verona-Blesson

Ein Jahrhundert italienisch-französischer Familiengeschichte im Haus Unter den Linden 17/18, heute: 43

Der Autor der folgenden Abhandlung, seit 35 Jahren als Arzt in Blois tätig und neben seinem beruflichen Engagement vielseitig an französischen kulturellen Verbindungen zu Deutschland und Italien interessiert, hat sich im Rahmen seiner Forschungen auch der Familiengeschichte seiner Ehefrau zugewandt, die eine direkte Nachkommin aus den mit der europäischen Kulturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts verwobenen Familien Sarti, Tassaert und Blesson ist. Seine Recherchen zu deren Verbindungen mit einem Grundstück im Geviert Unter den Linden/ Glinka-/ Behren- und Friedrichstraße werden im Folgenden vorgestellt.
     Kurt Wernicke

Die preußische Haupt- und Residenzstadt Berlin zog zu allen Zeiten Künstler im weitesten Sinne an, die als Meister ihres Fachs in der Metropole von deren - nicht unbedingt immer, aber doch zumeist - vorhandenen Offenheit gegenüber fremden Kulturträgern zu profitieren unternahmen.

Manche solcherart genährte Hoffnung mag im märkischen Sand verweht sein, aber eine erkleckliche Anzahl solcher Zuwanderer erwarb sich durch ihre Leistungen einen geachteten Platz in der Berliner Gesellschaft. Von zweien aus der Reihe solcher Familien soll im Folgenden als Ergebnis genealogischer Forschungen die Rede sein.

Goethe, Beethoven, Schiller und Heine

Die Prachtstraße Unter den Linden hatte schon im 18. Jahrhundert Besucher zur Bewunderung hingerissen. Zu ihren prominenten Gästen hatte u. a. Goethe (1749-1832) gezählt, der 1778 in der (nach der 1800 eingeführten Nummerierung) Nummer 23 im »Gasthof zur Sonne« Aufenthalt genommen hatte, Mozart (1756-1791) nahm 1789, Beethoven (1770-1827) 1797 dort Quartier, Jean Paul (1763-1825) beehrte die Straße 1802 mit seiner Anwesenheit und Schiller (1759-1805) im Jahre 1804.
     Ein geradezu schwärmerisches Loblied auf die Allee sang Heinrich Heine (1797-1856) in seinen »Briefen aus Berlin« 1822. Von 1836 bis 1844 wohnte in der Nr. 25 (dem Südwest-Eckhaus zur Friedrichstraße) Goethes schwärmerische Anbeterin Bettina von Arnim (1785-1859). Sie empfing dort u. a. Karl Varnhagen von Ense (1785-1858) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854). Letzterer wohnte von 1843 bis 1854 Unter den Linden 71.
     Die Straße Unter den Linden war ebenfalls der Sitz auswärtiger Gesandter.

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Die Straße Unter den Linden im Jahre 1820. In der Bildmitte das Haus Nr. 17/18
Hier und bis zum Tiergarten residierten, lebten und verkehrten Gesandte, Minister, Generale, Barone und Grafen, Bürger wie Ludwig Blesson (1790-1861) und dessen Buchdrucker L. S. Schlesinger († 1840), aber auch hohe Beamte. Im unweit gelegenen »Geheimratsviertel« am Tiergarten wohnte z. B. für etliche Jahre der Universitätsprofessor und Geheimrat Johann Heinrich Schmedding (1774-1846), ab 1820 Blessons Schwiegervater - einer jener juristischen Fachleute, die 1810 bei der Gründung der Berliner Universität von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) auf einen Lehrstuhl an der dortigen Juristischen Fakultät berufen wurden.      Die Bebauung der Straße Unter den Linden hatte ausgangs des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Entstehung der 1674 mit Stadtrecht ausgestatteten und später (ab 1681) Dorotheenstadt genannten Neustadt begonnen. Gebäude und Grundstück, die uns im Folgenden beschäftigen, gehen in Etwa auf die Zeit um 1680 zurück: Der aus der Vogelschau gezeichnete Plan der Schwesterstädte Berlin, Cölln, Friedrichwerder und Dorotheenstadt des Joachim Bernhard Schultz aus dem Jahre 1688, der eine exakte Wiedergabe auch der Bebauung der Lindenpromenade enthält, zeigt bereits Gebäude an der Stelle, die nach der ersten Umnummerierung der Straße im Jahre 1800 die Hausnummern 17 und 18 erhielt.
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     Einen starken Impuls erhielt die Avenue im 18. Jahrhundert durch Friedrich den Großen (1712-1786). Aber erst nach dessen Tod kaufte der Innenarchitekt und Theaterdekorateur Bartolomeo Verona (1744-1813) 1789 dort das erste seiner Häuser, die Nr. 20, von der Witwe des Geheimrats Septe, und zehn Jahre später, am 24. Oktober 1799, das Haus Nr. 21 von der Witwe des Hofmarschalls August von der Marwitz (1740-1793), Susanne Sophie Marie Louise († 1808). Die Grundstücke stießen mit ihrer Rückfront jeweils an die Nordseite der Behrenstraße und trugen dort damals die Nummern 14 und 15.
     Mit der Umnummerierung des Jahres 1800 erhielt das nunmehrige Doppelgrundstück an der Straße Unter den Linden die Nummern 17 und 18, während die rückwärtige Front an der Behrenstraße die Nummern 56 und 57 erhielt. Mit der neuen Nummerierung der Grundstücke, die die Prachtallee Unter den Linden und die Behrenstraße säumten, wurde ein aus der Zeit der Entstehung der Dorotheenstadt stammender Anachronismus beseitigt: Da die südliche Grenze der Dorotheenstadt bis 1681 mit der Nordseite der Promenade identisch gewesen war, gab es dort die dorotheenstädtische Nummerierung, während der südliche Promenadensaum zur kurfürstlichen sogenannten Kleinen Friedrichstadt (dieses Terrain zwischen der Promenade und den
die Stadtmauer ersetzenden Palisaden - »Hornwerk« - im Klartext: den Landstreifen von der Südseite Unter den Linden bis zur Nordseite der nach 1695 angelegten und ab 1706 so benannten Behrenstraße umfassend - war 1678 zur Bebauung frei gegeben worden) zählte und seine Grundstücksnummerierung unabhängig von der gegenüberliegenden Straßenseite nach dem separaten Gusto der kurfürstlichen Behörde erfolgt war: Nun begann die Zählung unmittelbar am Quarré (ab September 1814: Pariser Platz) auf der Südseite der Straße und ging dann bis zur Nr. 37 an der Ecke zum Opernplatz, um auf der Nordseite, mit der Nr. 38 (dem Akademiegebäude) beginnend, bis zur Nr. 78 (am Quarré endend) in Richtung Westen zurückzuführen.

Zwei große Toreinfahrten und verzierte Pilaster

Nachdem Verona die Grundstücke einige Jahre in Besitz hatte, entschloss er sich, das ganze Ensemble an der Berliner Prachtstraße zu modifizieren: Er überbaute beide Gebäude zur Straßenfront Unter den Linden hin mit einer einzigen, zwischen Spätbarock und Frühklassizismus angesiedelten Fassade, die sich an Karl Gotthard Langhans (d.Ä.) (1732-1808) und Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) anlehnte.

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Die ursprünglich vierstöckige Fassade wurde mit zwei großen Toreinfahrten eingerahmt und durch eine fünfte Etage ergänzt. Die vier Stockwerke hatten jeweils 16 Fenster, das hinzugefügte fünfte nur 14. Ein Balkon schmückte die erste Etage, während verzierte Pilaster die Fassade von oben nach unten unterbrachen.
     Im Frühjahr 1799, am 12. März, hatte Verona zusätzlich das Grundstück des ehemaligen Döbbelinschen Theaters, Behrenstra-ße 13 (ab 1800: 57), von Giuseppe Pinetti erworben - einem im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts auch an den Höfen Europas wohl gelittenen Entertainer, der unter geschickter Ausnutzung physikalischer Gesetze viel beachtete Taschenspielertricks vorführte und sich seit Auftritten in Versailles Chevalier Joseph Pinetti de la Mercy nannte.
     Verona übernahm die dort vorhandene Innenausstattung und zierte den großen Innengarten - dessen äußere Grenzen von Ställen für jeweils vier Pferde gebildet wurden - mit Statuen aus der Mythologie. Das nunmehr recht imposante Ensemble zwischen Unter den Linden und Behrenstraße verfügte nach dem Umbau über insgesamt 40 Wohnungen. Der nunmehrige Hauswirt Verona war 1772 mit seinem europaweit bekannten Onkel Bernardino Galliari (1707-1794) nach Berlin gekommen, der die Innengestaltung der St.-Hedwigs-Kirche übernommen und darüber hinaus als ein überaus hoch geschätzter
Theater-Dekorationsmaler und -szenarist Inszenierungen im Königlichen Opernhaus auszustatten hatte. Als Bernardino Galliari 1778 zum Professor der Malkunst an die Königlich-Sardinische Akademie zu Turin berufen wurde, verließ er Berlin und vererbte sein hiesiges Aufgabengebiet seinem Neffen Bartolomeo Verona. Der wurde als Hofmaler bei Friedrich dem Großen und dessen Nachfolger recht wohlhabend, wenngleich man ihm bei architektonischen Aufgaben doch Langhans d.Ä. vorgezogen hatte, so z. B. für den Umbau der Königlichen Oper im letzten Drittel der siebziger Jahre, bei dem sich Verona mit dem Auftrag für die neue Innenausstattung begnügen musste.
     Er heiratete Sophie Perrin, die ihm zwei Töchter schenkte - Wilhelmine und Caroline Constance. Wilhelmine heiratete in erster Ehe ihren Cousin, den Maler Pietro Galliari, und nach dessen Tod im Jahre 1814 in der Berliner St.-Hedwigs-Kirche den französischen Geiger Pierre Rode (1776-1830). Caroline Constance, geboren 1793, heiratete 1815, ebenfalls in der St.-Hedwigs-Kirche, den Ingenieur und späteren Bürgerwehrkommandeur Ludwig Urban (Louis Urbain) Blesson.
     Bartolomeo Verona starb 1813 - in der preußischen Metropole als Dekorationsmaler der königlichen Theater, Assessor im Senat der Akademie der Künste und Mitglied des Kirchenvorstands der Katholischen Gemeinde bei weitem kein Unbekannter.
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Er wurde im Gewölbe der St.-Hedwigs-Kirche, deren innere Ausgestaltung er nach 1778 als Nachfolger seines Onkels übernommen hatte, beigesetzt. Seine Tochter Caroline Constance folgte ihm bereits 1819: sie starb bei der Geburt ihrer Tochter Pauline, die sich später mit dem Doktor der Philosophie Otto Mühlmann in kinderloser Ehe zusammenfand.

 

Ludwig Urban Blesson (1790-1861), Gemälde von Cesare Mussini, ca. 1840

Der Witwer Blesson erwarb 1820 das Doppelhaus Unter den Linden 17/18 von der Witwe Sophie Verona, seiner Schwiegermutter. Diese lebte dann dort einige Jahre mit ihrer ersten Tochter Wilhelmine und deren Gatten Pierre Rode, ebenso wie auch andere Verwandte Louis Blessons - sein Vater Nicolas und seine Mutter Sophie Blesson, geborene Tassaert, sowie seine Schwester Annette und deren Mann, der praktische Arzt und Hofchirurg Dr. Friedrich Busse († 1861) und 1837 für ein Jahr auch der 1835 verwitwete Vater seiner zweiten Frau, Geheimrat Schmedding; seine Wohnung hatte dort auch der Gesandte der Niederlande, Baron Schimmelpenninck van der Oye, der ein Freund der Familie Blesson wurde. Der nicht gerade kleine Mietshauskomplex zählte auch etliche Handwerkerfamilien zu seinen Bewohnern.

Elf Kinder aus der Ehe mit Catherine Schmedding

Ludwig Blesson heiratete 1820 in der St.-Hedwigs-Kirche in zweiter Ehe Catherine Schmedding, Tochter des Geheimen Oberregierungsrates Johann Heinrich Schmedding - der im Vorjahr sein Lehramt an der Berliner Universität zugunsten einer Berufung in das Preußische Kultusministerium aufgegeben hatte.

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Catherine gebar ihrem Ehemann elf Kinder. Mehrere starben ziemlich jung, u. a. Zwillinge, ein Junge kam durch einen Unfall ums Leben, andere starben an Tuberkulose. Vier Töchter jedoch überlebten ihre 1862 gestorbene Mutter: Elise, Clara, Olga und Rosalie. Elise, geboren 1822, vermählte sich am 15. Juli 1840 in St. Hedwig mit dem Florentiner Maler Cesare Mussini (1804-1879), der kurioserweise 1804 in Berlin im selben Hause Verona geboren worden war, das sein Schwiegervater erst 1820 erworben hatte.
     Hier liegt die Vermutung nahe, dass sein Vater Natalis Mussini (1756-1837), ein Sohn Bergamos, mit seiner Lebensgefährtin Juliana Sarti wahrscheinlich von Verona aufgenommen wurde, als ersterer 1794 nach Preußen kam: Veronas Mutter, eine Schwester des berühmten Bernardino Galliari und dessen nicht minder berühmten beiden Brüdern, stammte nämlich - wie die ganze Familie Galliari - ebenfalls aus Bergamo. Die ausführlichen Lebenserinnerungen von Elise Blesson, die von ihrer Schwester Clara bestätigt werden, scheinen diese Annahme zu stützen.
     Natalis Mussini war 1794 nach Berlin gekommen, nachdem er sich 1789 bis 1792 im revolutionären Frankreich aufgehalten und die Bekanntschaft der damals bekannten und geschätzten Musiker Wilhelm Cramer (1745-1799), Nicola Mestrino (1748-1790) und Giovanni Battista Viotti (1753-1824) gemacht hatte.
Mit Letzterem emigrierte er nach England, nachdem beide nur knapp der »fatalen Laterne« (sprich: dem Lynchmord, sehr wahrscheinlich als verdächtige Ausländer) entkommen waren. In England trat er als Sänger mit seiner Partnerin Juliana Sarti auf. Dann ging er über Hamburg nach Preußen, wo er nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin für einige Zeit in Potsdam sesshaft wurde.
     Dort hielten sich natürlicherweise die meisten Musiker des - wie sein Vorgänger Friedrich der Große - zumeist in Potsdam residierenden Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) auf, u. a. Mussinis Kollegen, der Klarinettist Joseph Beer (1744-1811) und der Cellist Jean Louis Duport (1749-1819). Der König nahm Mussini als Sänger, Geiger und Gitarristen in seine Dienste. Als der König 1797 starb, ernannte ihn dessen Witwe Friederike (1751-1805) zu ihrem Kapellmeister - was, da Friederike sich schon zu Lebzeiten ihres königlichen Gemahls Schloss Monbijou zum Wohnsitz gewählt hatte, eine neue Übersiedlung nach Berlin bedeutete.
     Natalis Mussini beschloss 1818, in sein Heimatland Italien zurückzukehren. Er ging in die toskanische Hauptstadt Florenz, wo er bis zu seinem Tod 1837 im Palais Osmondi lebte. Er war so berühmt, dass er - wie später auch seine Frau Juliana - in der »Künstlerklause« der Kirche Santissima Annunziata bestattet wurde. Man kann dort heute noch seine marmorne Reliefbüste samt Wappen und Grabinschrift bewundern.
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Juliana Mussini war die älteste Tochter des Komponisten Giuseppe Sarti (1729-1802), Kapellmeister des Königs von Dänemark, später - 1779-1783 - des Mailänder Doms, wo er der Lehrmeister von Cherubini (1760-1842) wurde, und anschließend Kapellmeister der Zarin Katharina II. (1729-1796) von Rußland.
     Auch Sarti bekam Heimweh nach Italien und trat 1802 die Rückreise aus Rußland an, die ihn über Berlin führte. Dort wohnte er noch im selben Jahr in St. Hedwig der (endlichen!) Vermählung seiner Tochter mit Natalis Mussini bei. Das Schicksal gönnte ihm das Wiedersehen mit seiner Heimat allerdings nicht: Er verstarb 1802 in Berlin, Unter den Linden 16 - so jedenfalls benennt sein Cousin und erster Biograf Pasolini-Zanelli das Sterbehaus.
     Stimmt die Angabe, dann hatte er sein Domizil nicht bei der Familie Verona genommen, sondern bei deren Nachbarin, einer verwitweten Gräfin von Schmettau - möglich immerhin, aber nicht sehr wahrscheinlich. Sarti hinterließ seine Witwe Camilla, eine geborene Pasi (* 1757), die ihren Mann um mehr als ein Dutzend Jahre überlebte und ihm lt. Eintragung im Begräbnisregister der katholischen Gemeinde St. Hedwig erst zu Beginn des Jahres 1816 nachfolgte.
     Sartis Bestattung war vom - wie die meisten Hohenzollern - Musik liebenden König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) persönlich ausgerichtet worden.
Er fand seine letzte Ruhestätte im Gewölbe der St.-Hedwigs-Kirche, geziert mit einer Relief-Marmorbüste und Grabinschrift. Alles verschwand im März 1944 unter dem Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges, auch die Grabstätte von Verona, ebenso wie z. B. das Marmorrelief der Gräfin Thérèse von Blumenthal (1712-1782), geschaffen von Jean Pierre Antoine Tassaert (1727-1788), Großvater mütterlicherseits von Ludwig Blesson. Ihm verdankte man den größten Teil des ursprünglichen Grabschmucks der einst im Inneren von St. Hedwig befindlichen Grablegungen, zu denen übrigens auch Tassaerts eigene letzte Ruhestätte gehörte.

Tassaert kam auf Empfehlung d' Alemberts

Tassaert, der zunächst Bildhauer am Hof von Ludwig XV. (1710-1774) gewesen war, erhielt 1774 den Posten eines Königlich-Preußischen Hofbildhauers auf Empfehlung seines Freundes, des Philosophen d' Alembert (1717-1783). In seiner Werkstatt erhielt seit 1776 Johann Gottfried Schadow (1764-1850) seine Ausbildung, und Schadows erstes Meisterwerk, das jetzt in der Nationalgalerie befindliche Grabmal für den Grafen Friedrich von der Mark (1779-1787), geht dann auch auf einen Entwurf Tassaerts zurück.

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Das Haus Blesson, Unter den Linden 17/18; errichtet 1670, umgebaut 1772, zum Teil abgebrochen 1890, umnummeriert nach 1937 in Nr. 45 (Foto: A. Schwarz, 1888)
     Tassaert hatte in Berlin die Pastellmalerin Marie Edmée de Moreau († 1791) geheiratet, die im Kloster von Fontevraud zusammen mit den Töchtern von Ludwig XV. erzogen worden war. Sie schenkte ihm acht Kinder, die meisten wurden Künstler; so Jean Joseph François (1765-ca. 1835), Maler und Graveur; Félicité (1766-1818), Pastellmalerin; Antoinette († nach 1819) - zu ihrer Zeit eine geschätzte Miniaturistin - machte Tassaert durch ihre Trauung zum Schwiegervater des Klarinettisten Joseph Beer.
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   72   Im Detail Unter den Linden 17/18  Voriges BlattNächstes Blatt
     Schon 1791 war die Tochter Louise Gemahlin des Hofmusikers Jean Louis Dupont geworden, der bei Mozarts Besuch in Berlin im April 1789 erlebt hatte, dass der bewunderte Meister eine der Dupont'schen Variationen zu Gehör gebracht hatte. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sich Sophie Tassaert mit dem Koch Nicolas Blesson (1757-1842) vermählt. Dieser war in Lagny le Sec bei Paris geboren und wurde als begabter Meister seines Fachs in Preußen zunächst erster Küchenmeister, dann Maître d´hôtel von Friedrich dem Großen, um schließlich Generalintendant von dessen beiden Nachfolgern zu werden.
     Nicolas, den seine Zeitgenossen eine »lebende Enzyklopädie« nannten, wurde 1790 der Vater von Ludwig Urban (Louis Urbain) Blesson, dem späteren Ingenieur und von 1818 bis 1829 Lehrer an der Allgemeinen Kriegsschule des preußischen Heeres, zugleich - und auch nach seinem Ausscheiden als Dozent - ein auf Festungs- und Befestigungsbaukunde spezialisierter Militärschriftsteller, Pionier auf den Theorie-Gebieten Elektrizität, Eisenbahn, Dampfschifffahrt, Herausgeber von zwei Militärzeitschriften und über vier Jahrzehnte deren Redakteur, Gründer eines Versicherungsinstituts, und Vordenker des Sozialgesetzgebungswerks von Bismarck (1815-1898). In Berlin ist er allerdings hauptsächlich bekannt als der kurzzeitige
Kommandeur der Berliner Bürgerwehr, der die bürgerliche Schutztruppe im Mai/Juni 1848 befehligte und am Tage des sogenannten Zeughaussturms (14. Juni) sich mit seinen Befehlen nicht durchzusetzen vermochte - was angesichts der mangelhaften Organisationsstruktur der Berliner Bürgerwehr und der divergierenden Interessen der einzelnen Einheiten nicht verwundern konnte, der hohnlachenden und auf den Wiedereinzug der preußischen Garde fixierten Reaktion aber einen Sündenbock verschaffte, der folgerichtig seinen Rücktritt zu erklären hatte.

Roter Adlerorden für Vater und Sohn

Nicolas Blesson starb 85-jährig im Jahre 1842 und hatte noch die Ehre, seinen Jubiläumsgeburtstag in Gegenwart des damaligen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) begehen zu können, der ihm bei dieser Gelegenheit den Roten Adlerorden verlieh. Sein Sohn Ludwig Blesson, der nach seinem Abschied vom Militärdienst von 1829 bis 1842 dank des Vertrauens seiner Mitbürger als Berliner Stadtverordneter wirkte, war ebenfalls Träger dieser Auszeichnung. Er hatte sie 1832 für seine Leistungen als Stifter und Kollegiumsmitglied des »Vereins zur Unterstützung der in Folge der Cholera verwaisten Kinder« erhalten. Ludwig verschied im Jahre 1861.

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   73   Im Detail Unter den Linden 17/18  Voriges BlattNächstes Blatt

Auf dem Grundstück steht heute ein Appartementhaus, das auch Funktionsräume der Komischen Oper beherbergt
Feind Napoleons (1769-1821), hatte Ludwig auch die Gelegenheit erhalten, gegen diesen ins Feld zu ziehen -zunächst im Befreiungskrieg 1813, in dem sein jüngerer Bruder Johann (* wohl 1794) in der Schlacht bei Großgörschen am 2. Mai sein Leben gab. Ursprünglich als Freiwilliger in die Gardeinfanterie eingetreten, war Ludwig Blesson auf Anraten von Scharnhorst (1755-1813) zum Pionierkorps detachiert worden, wo er es im Laufe des Krieges bis zum Secondeleutnant brachte. 1815 hatte er dann im Feldzug in Flandern Anteil an der Verantwortlichkeit für die befestigten Schanzwerke vor den belagerten napoleontreuen Festungen Maubeuge, Philippeville, Rocroy und Givet. Für diesen Einsatz erhielt er aus den Händen von Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) das Eiserne Kreuz und die Feldzugs-Erinnerungsmedaille. Sein Freund, der Hofschauspieler Louis Schneider (1805-1878), schrieb 1861 seinen Nachruf. Ihm hatte Ludwig Blesson alles, was ihm an Erinnerungen von seinem Großvater Tassaert geblieben war, übergeben.
     Catherine Blesson, die Witwe, hätte leicht im gewohnten Hause bleiben können, denn ihre 1831 geborene Tochter Clara hatte (nachdem ihr erster Ehemann, der Leutnant Hugo von der Decken-Himmelreich, 1857 verstorben war) am 5. Juni 1860 den Oberförster Anton Tilmann (* 1828) geehelicht - natürlich in St. Hedwig, wo sie in der Staatskarosse des niederländischen Gesandten Baron Schimmelpenninck vorgefahren war - und das junge Ehepaar Tilmann, das seinen Wohnsitz notgedrungen im Dienstsitz des Gatten, der Oberförsterei Woltersdorf bei Luckenwalde, nahm, besaß nun das Haus.
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Catherine zog jedoch, vielleicht von dem milderen Klima gelockt, zu ihrer Tochter Elise und deren Mann Cesare Mussini nach Florenz. Dort starb sie ein Jahr später. Sie wurde in der schönen Kirche von San Mi-niato beigesetzt, wo vermutlich auch die sterblichen Überreste ihrer Tochter Elise Anfang des 20. Jahrhunderts hinzugekommen sind - wenn man den 1921 geschriebenen Erinnerungen des Dr. Lorenz Liertz Glauben schenken möchte, einem Urenkel der Bles-son-Tochter Rosalie, die - wie ihre Schwester Clara - ebenfalls einen Sprössling der österreichischen Adelsfamilie von der Decken-Himmelreich geheiratet hatte - Leo.

Der Eisenbahnkönig kauft das Haus

Das Haus Unter den Linden 17/18 wurde 1862 von dem erbenden Ehepaar Tilmann an einen Angehörigen der Berliner Jüdischen Gemeinde, den Kaufmann und Finanzagenten Selig Boehm - der 1876 gar zum Rittergutsbesitzer mutierte - verkauft. Der stieß es unter Beibehaltung seines Wohnrechts 1868 ab an den damaligen Berliner Krösus, den »Eisenbahnkönig« Bethel H. Strousberg (1823-1884), der es bis 1872 besaß.
     Umfangreiche bauliche Veränderungen wurden vorgenommen, es wurde auch - wenigstens in dem Bereich zur Behrenstraße hin - zum Teil abgerissen, um verschiedenen anderen Gebäuden Platz zu machen,

z. B. um 1870 für die Kaiserpassage und ab 1890 für das »Kleine Theater Unter den Linden«, das 1898 zum (ersten) Metropol-Theater mutierte. Ab 1872 besaß es die Aktiengesellschaft »Bau-Verein Unter den Linden«.
     Selig Boehm musste sich 1878 bohrende Fragen der Polizei gefallen lassen: Er hatte am 1. Januar 1878 einen Dr. Karl Nobiling (1848-1878) als Untermieter aufgenommen, der am 2. Juni aus seinem möblierten Zimmer im zweiten Geschoss der Nr. 18 zwei Schrotpatronen auf den in einer Kutsche vorüberfahrenden Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) abgefeuert und ihn erheblich verletzt hatte - bekanntlich der Anlass zu dem berüchtigten Sozialistengesetz. 1893 bis 1914 wies die Straßenfront Unter den Linden das »Hotel Westminster« aus und bot danach bis 1917 im Erdgeschoss dem Restaurant »Zum Schultheiß« Domizil - galt aber seit dem Verschwinden des »Westminster« durch die nun eingezogene Kunsthandlung »Lindengalerie« für Kunstfreunde als Topadresse.
     Ab 1920 war die Gesellschaft »Dorotheenstadt Baugesellschaft mbH« im Verein mit der »Deutsche Zündholzfabriken Aktiengesellschaft« Eigentümer. 1937 wurde die Straße Unter den Linden durch die Einbeziehung des Opernplatzes und des Platzes vor dem Zeughaus bis zur Schlossbrücke erweitert und in diesem Zusammenhang erneut gänzlich umnummeriert: So wurde nun aus der Nr. 17/18 die Nr. 45.
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   75   Im Detail Unter den Linden 17/18  Voriges BlattArtikelanfang
Aus den Verwüstungen des Bombenhagels 1943-1945 und der Schlacht um Berlin im April 1945 ruinenbedeckt hervorgegangen, entstand hinter ihrem südlichen Saum an der Behrenstraße schon 1947 auf Initiative von Kulturoffizieren der Sowjetischen Militäradministration die »Komische Oper«, die 1966/67 erheblich modernisiert und erweitert wurde; auf dem nördlichen Teil mit der Front Unter den Linden wurde im Zusammenhang mit der Erweiterung der »Komischen Oper« 1964-1966 ein Funktionsgebäude für das damals schon weltbekannte Musiktheater errichtet, in dem unter dem weithin vom Dach leuchtenden Logo der Kulturstätte auch Appartementwohnungen und ein Ladentrakt entstanden.
     In einem dieser Geschäftslokale - übrigens exakt an der Stelle, wo zu Goethes, Mozarts und Beethovens Zeiten der »Gasthof zur Sonne« gestanden hatte - fand seit Januar 1984 das Französische Kulturzentrum in der DDR sein Domizil, bis es nach der Wiedervereinigung Berlins (angesichts des traditionellen Maison de France, das seit 1950 am Kurfürstendamm angesiedelt war) den attraktiven Standort Unter den Linden aufgab.

Quellen:
     Panorama der Straße Unter den Linden, Hrsg. Winfried Löschburg, 1997
     Allgemeine Deutsche Biographie, Band 2, Seite 704 ff.
     Berliner Wohnungsanzeiger und Adreßbuch, 1799-1879
     Berliner Adreßkalender, 1829-1842
     Norddeutesche Allgemeine Zeitung, 6. 6. 1878

     Adolf Wolff, Berliner Revolutions-Chronik, Band 3, Berlin 1854
     Ingwelde Müller, Der Theaterdekorateur Bartolomeo Verona, Phil. Diss. Berlin, 20. 4. (!) 1945
     Lebenserinnerungen von Elise Blesson, verehelichte Mussini (im Besitz des Autors)
     Erinnerungen von Clara Blesson, verwitwete von der Decken-Himmelreich, verehelichte Tilmann (im Besitz des Autors)
     Lorenz Liertz, Lebenserinnerungen, Rheinbach 1921
     Dizionario biografico degli Italiani, vol. 51, Roma 1998
     P. Conti, Giuseppe Sarti, Musicista del secolo XVIII, Faenza 1923
     Rita Hofereiter, Der Bildhauer Jean Pierre Tassaert 1727-1788, Studien zum Berliner Werk. Magisterarbeit FU Berlin, 1996
     Thomas Besing, Studien zu Jean Pierre Antoine Tassaert, München 1996
     Louis Schneider, Nekrolog auf Louis Blesson, in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, Heft 3/1861

Bildquellen:
Besitz des Autors, Agentur Art + Work, Staatsbibliothek/ PK, Karten-Abtg.

Der Autor dankt der Agentur Art + Work Stefan Schmiedeknecht & Simon Neufeld und der Kartenabteilung der SBB/ PK für die freundliche Überlassung von Veröffentlichungsrechten

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2001
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