99   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Nächstes Blatt
Peter Spahn
»... nicht für Zuschauer geschrieben«?

»Die Maßnahme« von Bertolt Brecht und Hanns Eisler

Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine breite Bewegung, die in außergewöhnlichen Bühnenstücken die erzieherische Funktion der Kunst besonders hervorhob. Komponisten wie Hanns Eisler (1898-1962), Ottmar Gerster (1897-1969), Paul Hindemith (1895-1963) und Kurt Weill (1900-1950) waren daran ebenso beteiligt wie der Schriftsteller Bertolt Brecht (1898-1956), Regisseure wie Slatan Dudow (1903-1963) und Erwin Piscator (1893-1966). Vieles wurde für den Tag geschrieben, inszeniert und geriet schon bald in Vergessenheit.
     Von besonderer Bedeutung ist ein Werk von Brecht und Eisler, das 1930 in der alten Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße uraufgeführt wurde und als Hauptwerk ihrer Zusammenarbeit gilt: »Die Maßnahme«. Dieses Werk ist heute so gut wie vergessen, da es seit den Uraufführungstagen fast nie mehr gespielt wurde.

Es trägt den Nimbus des Geheimnisvollen, des Unerlaubten, des Verbotenen, das, wenn überhaupt, nur - wie Werner Mittenzwei in »Das Leben des Bertolt Brecht« treffend formulierte - »mit spitzen Fingern« angefasst wird. Brecht hat ein Aufführungsverbot erlassen, und Eisler schloss sich ihm an. Und obwohl der Text in der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Brecht-Ausgabe abgedruckt ist und es auch eine Einzelausgabe mit zwei Textfassungen gibt, waren die Aufführungsrechte daran nicht freigegeben. Das führte zu der kuriosen Situation, dass es zwar zahlreiche Publikationen über das Stück und seine Entstehungsgeschichte gibt, aber das Werk selbst nirgendwo gespielt wird! Dabei war dieses Lehrstück für Brecht eine Form des Theaters der Zukunft.
     Die Story selbst hat Brecht so zusammengefasst: »...vier kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngeren Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit der Maßnahme der Erschießung eines Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den verschiedenen politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, daß der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zuwenig seinen Verstand sprechen ließ, so daß er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde.«1)
BlattanfangNächstes Blatt

   100   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Voriges BlattNächstes Blatt
Vor dem Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit hat sich Brecht 1947 in Washington dann noch einmal zu dem Inhalt geäußert, weil ihm immer wieder die Legitimierung der Ermordung eines Genossen vorgeworfen wurde. »Nein, das ist wirklich nicht darin. Sie werden es feststellen, wenn Sie es sorgfältig lesen, ähnlich wie in dem alten japanischen Stück, wo es um andere Ideen ging, war dieser junge Mann, welcher starb, überzeugt, daß er dem Auftrag, an den er glaubte, Schaden zugefügt hätte, und er stimmte zu und war bereit zu sterben, um so nicht noch größeren Schaden anzurichten. Deshalb bittet er die Genossen, ihm zu helfen, und alle zusammen helfen ihm zu sterben. Er springt in einen Abgrund, und sie führen ihn zärtlich an diesen Abgrund. Das ist die Fabel.«2) So viel wie über den Text ist über die musikalische Ausformung des Stückes nicht debattiert worden.
     In Eislers Kompositionsliste fungiert es als Lehrstück für Tenor, drei Sprecher, gemischten Chor, Männerchor und Orchester opus 20. Der musikalischen Form nach ist es ein Oratorium. Ein für Eisler durchaus neuer Versuch. Den zuvor mit Erfolg praktizierten Stil des Kampfliedes band er hier erstmals in ein größeres Werk ein, wie er es später dann auch in »Kuhle Wampe« und »Die Mutter« weiterführte. Zu den bekanntesten Chören aus diesem Werk gehören »Lob der Partei«, »Lob der U.S.S.R.«, »Ändere die Welt, sie braucht es« und »Lob der illegalen Arbeit«.
     Die eingesetzten musikalischen Mittel grenzten sich zum einen ab von den sentimentalen und trivialen Melodien der Operettenseligkeit und aufkommenden Tonfilmschnulzen, zum anderen auch von der immer komplizierteren harmonischen und melodischen Struktur, wie sie Arnold Schönberg (1874-1951) und seine Meisterklasse an der Akademie der Künste erprobten. Der junge Hanns Eisler kam, als er mit 32 Jahren dieses größere geschlossene Werk schreibt, in voller Beherrschung der musikalischen Mittel, geübt in der Dodekafonie und im strengen Satz, in der Klanggestaltung und Instrumentation zu dem ihm eigenen Stil.
     Die musikalischen Stücke der Solisten und des Chores waren eigenwillig in Rhythmik und formaler Struktur. Elemente des Jazz wurden einbezogen, Improvisationen mit festem Ziel, das Gestische sollte betont werden, die Methode des Musizierens war der Funktion unterzuordnen, sodass bei Funktionswechseln auch Stilarten übergangslos wechselten. Die Chöre bildeten das musikalische Fundament des Werkes und gaben ihm seine typische Struktur. Wie wichtig es Eisler war, die für ihn und die Interpreten neuen Wege in seiner Musik deutlich zu machen, zeigt sich auch darin, dass er spezielle »Ratschläge zur Einstudierung der Maßnahme« veröffentlichte: »Vor allem muß man brechen mit einem für einen Gesangverein typischen >schönen Vortrag<.
BlattanfangNächstes Blatt

   101   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Voriges BlattNächstes Blatt
Das gefühlvolle Säuseln der Bässe, der lyrische Schmelz, man kann auch manchmal >Schmalz< sagen, der Tenöre ist für die >Maßnahme< absolut unzweckmäßig ... Anzustreben ist ein sehr straffes, rhythmisches, präzises Singen. Der Sänger soll sich bemühen, ausdruckslos zu singen, d. h. er soll sich nicht in die Musik einfühlen wie bei einem Liebeslied, sondern er soll seine Noten referierend bringen, wie ein Referat in einer Massenversammlung, also kalt, scharf und schneidend ... Der Text muß in jedem Moment von sämtlichen Zuhörern verstanden werden können. Am besten ist es, wenn der Chor, bevor er die Noten lernt, den Text im Rhythmus der Musik entsprechend übt.«3)
     Der Dirigent der Uraufführung, Eislers gleichaltriger Freund und Mitschüler bei Schönberg, der Österreicher Karl Rankl (1898-1968), charakterisierte Eislers Musik so: »Die hervorstechendsten Eigenschaften dieser Musik sind: lapidare Einfachheit der Gesamtorganisation der musikalischen Form und des Kompositionsdetails, völliger Verzicht auf die altgewohnten berauschenden Wirkungen, völliger Verzicht auf jegliches Melodisieren im romantischen Sinne und auf das >Ach, so schöne Singen.<4)
     So zeigt sich Eislers Musik drängend, rufend, mahnend, agitierend oder Betroffenheit auslösend. Dieser neue Musikstil, der in der »Maßnahme« erstmals in einem größeren geschlossenen Musikwerk vorgestellt wird, ist nicht traditionslos.
Die Art, wie sich Eisler an anderer Musik bildete, sie kritisch beobachtete und in seine Überlegungen einbezog, ohne ihr zu verfallen, ist typisch für ihn. Er schloss sich nie einer Schule an, schuf aber auch, obwohl er zahlreiche Schüler hatte, im eigentlichen Sinne keine. Dieser Stil war überzeugend nur ihm möglich.
     Viel ist über Eislers Lehrzeit bei Arnold Schönberg geschrieben worden; Eisler selbst hat sich immer dazu bekannt. Hinzu kommt das Aufgreifen der Volksliedtraditionen in der Verbindung mit den Lied- und Chortraditionen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Gerade aus dieser vielfältigen vokalen Tradition rührt letztlich die Prägnanz des eingängigen melodischen Einfalls, die für die Eislersche Musik von so entscheidender Bedeutung ist. In der »Maßnahme« führten sie zu Eislers bis dahin kühnster kompositorischer Leistung.
     Es ist ein oratorisches Werk von cirka 60 Minuten. Das musikalische Geschehen wird aus Motivkernen oftmals kanonisch oder in anderer polyfoner Weise entwickelt beziehungsweise in gezielter vereinfachter Linienführung zur parallelen Zweistimmigkeit in Variationsform geführt. Häufige Taktwechsel, aggressive Rhythmik, fasslicher Chorsatz, dessen Sangbarkeit auch für Laiensängerinnen ihm besonders wichtig war, ein lapidarer Chorstil, der durch das Weglassen der Terz oftmals auch vage in der Tonalität blieb, unterstützten die suggestive Wirkung der Musik.
BlattanfangNächstes Blatt

   102   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Voriges BlattNächstes Blatt
Hinzu kommt der Wechsel zwischen freiem und rhythmischem sprechen. Ob stützender Bläserakkord oder das Solo der Trompete, ob Solo- oder Chorgesang oder scharf akzentuierende Zwischenrufe - die Musik nimmt Stellung, kommentiert den Text, fügt emotional Neues hinzu, schafft außerordentliche Klangeindrücke. Insofern wies das Stück für Eisler künstlerisch einen neuen Weg, auch wenn er offenbar in dieser Weise von anderen nicht weiter begangen wurde.

Erfolg ohne Folgen?

Die Uraufführung fand um Mitternacht vom 13. zum 14. Dezember 1930 in der damaligen Philharmonie statt. Drei leistungsstarke Laienchöre wurden aufgeboten: der Berliner SchubertChor, der Gemischte Chor GroßBerlin und der Gemischte Chor Fichte. Als solistisch tätige Agitatoren wirkten Helene Weigel (1900-1971), Ernst Busch (1900-1980), Alexander Granach (1880-1949) als Sprecher und der österreichische Tenor Anton Maria Topitz (1889-?) mit, der 1919 am Deutschen Theater in Brünn als Lohengrin debütierte hatte. Hanns Eisler selbst stand inmitten der Chöre, sang mit und machte die Ansage. Hinzu kam ein aus zwei F-Hörnern, drei B-Trompeten, zwei Posaunen, Klavier und einem umfangreichen Schlagwerk (Pauken, große und kleine Trommel, Rührtrommel, Becken, Tamtam) bestehendes Instrumentalensemble.

Die Regie hatte Slatan Dudow, der ebenso wie Eisler in den Monaten vorher eng mit Brecht und Elisabeth Hauptmann (1897-1973) bei der Schaffung des Textes zusammengearbeitet hatte. An der Vorbereitung der Aufführung, insbesondere bei den Proben der Laienchöre, waren auch Ernst Hermann Meyer (1905-1988) und Karl Vollmer beteiligt. Der Dirigent des Abends, Karl Rankl, war zu dieser Zeit bereits seit mehreren Jahren Assistent von Otto Klemperer (1885-1973) an der Berliner Krolloper und auch in der Berliner Chorbewegung aktiv.
     Die Uraufführung der »Maßnahme« war ein großer Erfolg. Die renommierten Musikkritiker der Tages- und Fachpresse äußerten sich in umfangreichen Artikeln zum Anliegen des Werkes und seiner künstlerischen Umsetzung. Wenn auch ein breites Spektrum unterschiedlicher Auffassungen zu verzeichnen war, so waren sich doch nahezu alle Rezensenten darin einig, dass hier ein neuartiges Bühnenwerk von weit reichender Bedeutung zur Uraufführung gekommen war.
     Weitere Aufführungen folgten, zu denen - typisch für Brecht - weiter an dem Text gearbeitet wurde, sodass schließlich mindestens fünf verschiedene Textfassungen existierten: am 18. Januar 1931 im Berliner Großen Schauspielhaus nahe der Weidendammer Brücke, dann in Düsseldorf u. a. mit Wolfgang Langhoff (1901-1966) und örtlichen Arbeitergesangvereinen, im Konzerthaus in Wien, Leipzig, Chemnitz, Frankfurt/M. und Köln.
BlattanfangNächstes Blatt

   103   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Voriges BlattNächstes Blatt
Eine Aufführung in Erfurt wurde verboten, es wurden Polizeiakten angelegt, die an Umfang, wenn auch nicht an Sachkunde, die Rezensionen bald übertrafen.
     In den dreißiger Jahren folgten ca. zehn Aufführungen unter der Leitung des englischen Komponisten Alan Bush (1900-1996) in England. Die erste fand am 8. März 1936 im Londoner Westminster Theatre statt. Aufführungen in den USA waren beabsichtigt. Es kam aber nur zur Aufführung einzelner Chöre aus diesem Opus. So sollte es auch später sein. Zu einer konzertanten Aufführung, die alle Chöre und Lieder einbezog, kam es in Berlin im Rahmen der »DDR-Musiktage« am 19. Februar 1982 im Apollosaal der Staatsoper Unter den Linden durch den Rundfunkchor Berlin und Mitglieder des Rundfunksinfonieorchesters unter der Leitung von Dietrich Knothe (1929-2000). Im Jahre 1987 war London Schauplatz einer groß angelegten und künstlerisch ambitionierten Aufführung der »Maßnahme« in englischer Sprache. In der Union Chapel und in den Medien fand diese erste Londoner Aufführung nach über 50 Jahren nicht nur großes öffentliches Interesse, sondern auch einhelligen Beifall. Eine theatergemäße Rezeption steht allerdings bis heute weiterhin aus. Denn: Dass Brecht und Eisler dieses Stück für die Bühnenpraxis geschrieben haben -
allerdings für eine veränderte, sich entwickelnde -, scheint überzeugender zu sein, als die These, Brecht habe das kurze, knapp gefasste Stück nicht für das öffentliche Theater bzw. nur als »ÜbungsVorlage« für Schauspieler geschrieben.5)
     Allerdings stand Brecht noch vier Monate vor seinem Tode zu dem Aufführungsverbot. Am 21. April 1956 schrieb er in einem Brief an Paul Patera, der ihn um die Erlaubnis einer Aufführung im Kammartheater Uppsala ersucht hatte: » >Die Maßnahme< ist nicht für Zuschauer geschrieben worden, sondern für die Belehrung der Ausführenden. Aufführungen vor Publikum rufen erfahrungsgemäß nichts als moralische Affekte für gewöhnlich minderer Art beim Publikum hervor. Ich gebe daher das Stück seit langem nicht für Aufführungen frei.« Die Aufführung fand allerdings dann doch am 26. April 1956 statt!
     Es ist offenkundig, dass die fehlende Einwilligung zu einer öffentlichen Aufführung der »Maßnahme« nach dem Zweiten Weltkrieg dem Kalten Krieg geschuldet war. Er hatte erfahren, dass es illegale Aufführungen gegeben hatte, die zum Teil Brechts und Eislers Anliegen diffamieren, noch antikommunistischer Propaganda dienen sollten - die Aufführung in Uppsala kann wohl dazu gezählt werden.
BlattanfangNächstes Blatt

   104   Geschichte und Geschichten »Die Maßnahme«  Voriges BlattArtikelanfang
     Gleichwohl hatte für Brecht die »Maßnahme« bis zu seinem Tode exemplarische Bedeutung. Im Oktober 1953 besprach er mit Eisler in Wien einen Plan, im Stil der »Maßnahme« oder der »Mutter« ein Stück über die neue Arbeitswelt in der DDR und über den 17. Juni zu schreiben. Und noch kurz vor seinem Tode äußerte er in einem Gespräch mit Manfred Wekwerth (geb. 1929), dass er gerade in Stücken vom Typus der »Maßnahme« die Zukunft des Theaters sehe. Insofern stellt sich die Frage, ob seine Bedenken in einer grundlegend veränderten Zeit heute noch gelten können.
     Seit den 100. Geburtstagen von Brecht und Eisler 1998 ist das Aufführungsverbot nun aufgehoben. So gibt es erste Versuche, sich diesem Stück neu zu nähern. 1999 legte ein Autorenkollektiv des Frankfurter TAT in der Berliner Schaubühne die Handlung in das Jahr 2030 in Inguschetien. Im Oktober 2000 sah eine gemeinsame Produktion des Dresdener Staatsschauspiels und der Semperoper die Möglichkeit, mit der »Maßnahme« Gewalt, Stress und Demokratiemangel an den Schulen zu thematisieren. Die »Maßnahme« wird immer eine singuläre Erscheinung auch unter den Lehrstücken sein. Und vielleicht bleibt das Stück stets Antrieb für vielfältige und sehr gegensätzliche Interpretationen. Dem ständigen Veränderer Brecht wäre das wohl nicht unsympathisch.
Quellen:
1 Bertolt Brecht, Die Maßnahme, Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt/M. 1972, S. 237
2 Zit. nach Werner Hecht, Brecht im Gespräch. Diskussionen und Dialoge, Berlin 1977, S. 44
3 Zit. nach Kampfmusik (Berlin), 2. Jg., Nr. 3, 1932 S. 6
4 Ebenda, Nr. 4, 1932, Karl Rankl: Über den musikalischen Vortrag unserer neuen Chormusik
5 Kindlers neues Literatur-Lexikon, Bd. 3, S. 104, München 1996
BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2001
www.berlinische-monatsschrift.de