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Bernhard Meyer
Von Deutschland nach Deutschland

Zur »Republikflucht« der Mediziner von 1949-1961

Noch zehn Jahre nach dem Ende der DDR werden in Rede und Schrift unterschiedliche Begriffe für den Tatbestand verwendet, dass Menschen der DDR den Rücken kehrten und in die Bundesrepublik gingen. Man hört und liest von Republikflucht mit und ohne Anführungsstriche, illegales Verlassen, Übersiedlung, Ausreise, Abwanderung, Abwerbung, Weggang, Exodus, und im amtlichen Sprachgebrauch der DDR findet man Republikfluchtgeschehen und -zahlen, während umgangssprachlich »abgehauen« und »rüber gegangen« von jedem verstanden werden. Die Wahl des Begriffes hängt natürlich von der jeweiligen politischen, juristischen und völkerrechtlichen Beurteilung dieses Vorganges ab. Und die war selbst in der offiziellen DDR zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich, wenngleich Republikflucht in offiziellen Verlautbarungen zunehmend mehr die gewünschte Beurteilung des Vorgangs ausdrückte.
     Wenn die DDR als völkerrechtliches Subjekt im Sinne der UN-Charta mit souveränen Rechten galt, dann dürfte die staatlich nicht genehmigte Absicht zum Verlassen des Landes die Bezeichnung illegal durchaus rechtfertigen.

Tabelle 1:

»Republikflucht« von Ärzten und Zahnärzten in Ost-Berlin 1959 und 1960

JahrÄrzteZahnärzte
19591017
1960 (1)116 (2)24 (3)

(1) bis November
(2) 5,9% der Gesamtzahl der Ärzte Berlins
(3) 4,0 % der Gesamtzahl der Zahnärzte Berlins

Quelle: Angaben von der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Zit. in: Horst Spaar: Der Einfluß ... a. a. O., S. 19

Aber es geht in diesem Beitrag nicht um die Erörterung eines zu verwendenden Begriffs für die Tatsache, dass neben zigtausenden Bürgern namentlich Ärzte und Zahnärzte (Apotheker werden in dieser Betrachtung ausgeklammert) die DDR verlassen haben, um sich in der Bundesrepublik auf Dauer anzusiedeln. Es existieren bislang keine gesicherten Zahlen für jedes einzelne der 41 DDR- Jahre, aber Schätzungen beziffern das Verlassen der DDR bis zur oberen Grenze von 20 000 Ärzten und Zahnärzten, die offiziell zusammen mit den Apothekern als Medizinische Intelligenz galten.

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Nach diesen Schätzungen wären vor und nach dem Bau der Mauer jährlich rund 500 Mediziner gegangen. Das scheint vor allem für die 28 Jahre des Bestehens der Mauer eine beträchtliche Anzahl zu sein. Zu bedenken wäre allerdings, dass sich das DDR- Verlassen stets wellenartig vollzog und sich Phasen relativer Ruhe mit solchen einer Häufung immer wieder abwechselten. Höhepunkte stellten die Jahre 1958, 1960/61 und 1989 dar, wobei die Groß- und Kreisstädte, die südlichen Bezirke sowie Ost-Berlin besonders betroffen waren. (Siehe Tabelle 1)
     Für den Zeitraum von 1949-1961 liegen keine durchgängig auf die einzelnen Jahre bezogenen Zahlen vor. 1954 verließen 201 Ärzte und Zahnärzte die DDR, während 1957 ein Anstieg auf 478 und 1961 auf 834 erfolgte.1) Aus den nur lückenhaft vorliegenden Zahlen ergibt sich nach meinen Berechnungen, dass cirka 5 700 Ärzte und Zahnärzte übergesiedelt sind. Da der Anteil der Zahnärzte an der Gesamtzahl der medizinischen Übersiedler etwa 30 % beträgt, waren etwa 3 990 Ärzte und 1 710 Zahnärzte nicht mehr für die medizinische Betreuung der Bevölkerung verfügbar. Bei kontinuierlicher Steigerung der Immatrikulationszahlen für das Medizinstudium, merkwürdigerweise nicht aber für das Stomatologiestudium, wurde in dem betrachteten Zeitraum nach Abzug aller Abgänge ein Zuwachs von 1 370 Ärzten erzielt, während sich die Zahl der Zahnärzte um 967 verringerte.2)
Kurz nach dem 13. August 1961 verfügte das Gesundheitswesen der DDR über 14 592 Ärzte und 6 133 Zahnärzte (siehe Tabelle 2). Damit stieg der Versorgungsgrad von 1946 an gerechnet zwar um 1,3 Ärzte, verschlechterte sich aber bei Zahnärzten um 1,4 und lag somit in beiden Berufsgruppen deutlich unter dem der Bundesrepublik (siehe Tabelle 3).

Tabelle 2:

Ärzte und Zahnärzte 1939-1961

JahrÄrzteÄrzte
(1)
Zahn-
ärzte
Zahn-
ärzte(1)
1939103156,469384,2 (2)
1946133157,269225,0 (2)
1952137407,572904,0
1958138488,067923,9
1961145928,561333,6

(1) je 10 000 der Bevölkerung
(2) berechnet für das Gebiet der späteren DDR

Quelle: Das Gesundheitswesen der DDR 1965. Hrg. Institut für Planung und Organisation des Gesundheitswesens. Berlin 1966. S. 255

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Tabelle 3:

Ärzte und Zahnärzte auf 1 000 Einwohner
1960 in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland

DDRBRD
Ärzte8,514,0
Zahnärzte3,76,0

Quelle: Das Gesundheitswesen. Jahresgesundheitsbericht 1989 für das Gebiet der ehemaligen DDR. Berlin 1990. S. 440

Die Übersiedlung von Medizinern stellte für die SED und ihre Gesundheitspolitiker ein ständiges, letztlich unlösbares Dauerthema dar: »Der illegale Weggang von Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und anderen Mitarbeitern blieb bis zur Öffnung der Staatsgrenze im Jahre 1989 eines der ernstesten Probleme, das die Glaubwürdigkeit einer humanistischen und sozialen Gesundheitspolitik sowohl gegenüber der Bevölkerung als auch im internationalen Maßstab ständig belastet hat.«3) Abwanderungsgedanken hegten sowohl die stationär wie die ambulant tätigen Ärzte, die überwiegend in eigener privater Niederlassung tätig waren.
     Gegensätzliche Auffassungen entzündeten sich vor allem am Widerspruch zwischen dem strategischen Ziel der SED, Polikliniken, Ambulatorien, Betriebspolikliniken und

Landambulatorien mit staatlich angestellten Ärzten und Zahnärzten zur dominierenden Form der ambulanten Betreuung zu entwickeln und der Auffassung der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte, die traditionell in Deutschland gewachsene private ärztliche Praxis im Sinne eines freien Unternehmertums beizubehalten. Die gesundheitspolitische Absicht der SED war in Anbetracht der fest verwachsenen Auffassung vom freien ärztlichen Beruf und ihres Anteils von 53,3 % (1949) und immer noch 32,1 % (1958) an der Gesamtzahl der Ärzte gewaltig (siehe Tabelle 4). Die divergierenden Auffassungen von SED und einem Großteil der Mediziner über das Angestelltenverhältnis oder die Tätigkeit als Freiberufler mit ausgeprägtem Besitz- und Anspruchsverständnis konnten grundsätzlich in keiner Phase der DDR zufriedenstellend geklärt werden. Daraus resultierte fortwährendes gegenseitiges Mißtrauen und Unsicherheit über die Verlässlichkeit auf beiden Seiten. Der Staat benötigte die Mediziner dringend für die Gewährleistung der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung. Ärzte waren im Gegensatz zu Lehrern, Juristen und anderen Hochschulberufen kurzfristig durch keine andere Berufsgruppe zu ersetzen. Sie verfügten über ein nicht von Partei und Staat zu beherrschendes Monopol an spezifischem Wissen und unverzichtbaren Leistungen. Dessen waren sich die Mediziner voll bewusst, darauf gründeten sich ihre Wünsche und Forderungen. Als Druckmittel besaßen sie den Verweis auf die in der Bundesrepublik fortgeführte private Niederlassung und als Drohung das Verlassen der DDR.
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Zwischen 1949 und 1961 blieb die Gesamtzahl der Ärzte etwa zwischen 13 000 und 14 000 stets in etwa konstant. Obwohl sich die Immatrikulationszahlen erhöhten, haben Überalterung infolge des Fehlens der Kriegsjahrgänge und die Abwanderung ihre Spuren hinterlassen. In den 50er Jahren wurde zunehmend spürbar, dass ca. 5 Studiengänge von 1941-1946 weitgehend fehlten. Aderlass an Ärzten im Osten gab es weiterhin, weil sich ein Teil von ihnen als faschistisch belastet betrachtete und sich deshalb in den Westzonen sicherer vor der Entnazifizierung fühlte als in der sowjetisch besetzten Zone.
     Im ersten Fünfjahrplan 1951 wurde verkündet, bis 1955 in jedem der etwa 250 Kreise mindestens eine Poliklinik zu eröffnen. Bei schwindenden Chancen für eine Wiedervereinigung erblickten die niedergelassenen Ärzte darin nicht zu Unrecht eine Kampfansage an die private Niederlassung. Obwohl durch die verstärkte Gründung von Polikliniken und Ambulatorien mit staatlicher Anstellung von Ärzten an den Grundfesten der niedergelassenen Ärzte kräftig gerüttelt wurde, erbrachten sie die 50er Jahre hindurch und auch noch 1960 über 50 % aller ambulanten medizinischen und zahnmedizinischen Leistungen. Festgelegt und eingehalten wurde die Zusage der Behörden, dass kein niedergelassener Arzt oder Zahnarzt seine Praxis zugunsten der Poliklinik aufgeben müsse. Es existierte sogar die Zusicherung der Weitergabe der Niederlassung an die eigenen Kinder, wenn diese Arzt oder Zahnarzt waren. Bei jungen Absolventen der Medizin hielt sich das Streben nach einer eigenen Praxis in Grenzen, wobei die Bereitschaft, in ein Angestelltenverhältnis zu gehen, angesichts der finanziellen und besonders der materiellen
Schwierigkeiten bei der Einrichtung einer Praxis als ausgeprägt bezeichnet werden kann. Dieser Trend bestand, obwohl die niedergelassenen Ärzte monatlich durchschnittlich 2 500 bis 3 000 Mark verdienten, während ein Arzt im Angestelltenverhältnis auf ca. 800 Mark kam (1953).

Tabelle 4:

Ärzte und Zahnärzte in privater Niederlassung 1949-1961

JahrÄrzteZahnärzte
1949 (2)70475959
1952 (2)52105504
1955 (1)50485552
1958 (3)45004000
1961 (1)32534010

Quelle:
(1) Das Gesundheitswesen der DDR 1972. S. 191
(2) Dokumentation zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR. Teil II: Das Gesundheitswesen zwischen Gründung der DDR und erster Gesellschaftskrise (1949-1953). Veröffentlichung Nr. 5 der Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e.V. Berlin 1996. S. 30
(3) Angaben von der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Zit. in: S. 3 Dokumentation zur Geschichte ... Teil III. a. a. O.

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Niedergelassenen Ärzten wurde freigestellt, gegen Honorar zusätzlich Sprechstunden in den staatlichen Einrichtungen abzuhalten. Einige Jahre galt sogar das Angebot für Interessenten, in Polikliniken eine private Niederlassung zu eröffnen, wovon allerdings kein Gebrauch gemacht wurde. Hoffnungen zum Ausgleich für eingetretene Verluste setzte das Ministerium für Gesundheitswesen auf die Übersiedlung von Ärzten und Zahnärzten aus der Bundesrepublik in die DDR. Das Ziel bestand darin, jährlich cirka 700 Ärzte und Zahnärzte anzuwerben. Obwohl einige Hundert gekommen sind, schlugen sie insgesamt kaum zu Buche. 1956 begann das Ministerium, Mediziner aus den Volksdemokratien für eine geregelte dreijährige Tätigkeit in der DDR zu gewinnen. In der Folgezeit kamen vor allem Bulgaren dem personell angeschlagenen Gesundheitswesen der DDR zu Hilfe.
      Trotz aller Umwerbung fühlten sich die niedergelassenen Ärzte auf Dauer in ihrem Status bedroht. Als Handicap zur Vertretung ihrer Interessen empfanden sie die wiederholte Ablehnung ihrer Forderung, eine Standesvertretung in eigener Regie zur Wahrnehmung ihrer Interessen zu gründen. Vielmehr wurde seitens der SED schon frühzeitig der Schachzug realisiert, die Honorarabrechnung über die Gewerkschaft (IG 15 Gesundheitswesen) vornehmen zu lassen. Dadurch waren die niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte zu 100 % gezwungen,
Mitglieder des FDGB zu werden. Ihre Unzufriedenheit wurde permanent durch weitere Handhabungen genährt: ungenügende Bereitstellung von Autos bzw. Autoersatzteilen, vermehrte Ablehnung ihrer Kinder für die Oberschule und zum Studium durch Bevorzugung der Arbeiter- und Bauernkinder, örtlich z. T. rigoroses Vorgehen der Behörden, hohe Arbeitsbelastung durch Fehlen von Ärzten und Abbau des traditionellen Ansehens der Ärzte in der Gesellschaft.
      Von dieser Atmosphäre blieben natürlich auch die Krankenhausärzte nicht verschont. Sie bemerkten zunehmend, dass ihr Aufstieg zum Oberarzt, Chefarzt oder Ärztlichen Direktor von einem Bekenntnis, mindestens jedoch von einer loyalen Haltung gegenüber dem politischen Wollen des Staates, besser noch von einem Parteibuch der SED abhängig gemacht wurde. Dennoch blieb die Zahl der SED- Mitglieder unter den Ärzten in den 50er Jahren im Vergleich zu anderen Intelligenzberufen relativ gering: 1951 waren es nur 10,6 % und 1960 11,7 %.4) Berechtigt oder unberechtigt glaubte mancher Arzt, die fachliche Qualifikation träte hinter dem politischen Bekenntnis zurück. Anlass zu Unmutbezeugungen der Krankenhausärzte wurde ihr Gefühl, politisch und ideologisch über die Gewerkschaft gegängelt zu werden. Der Gewerkschaft gehörten etwa 65 % von ihnen an.
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Viele wollten es nicht ertragen, in einer Gewerkschaftsgruppe neben der Schwester, dem Hausmeister oder der Köchin zu sitzen und an der Wettbewerbsbewegung in Form von Aktivistenplänen teilzunehmen. Schiffbruch erlitt der Versuch der SED, die Ärzteschaft über Propagierung der Physiologie des russischen Nobelpreisträgers von 1904 Iwan Petrowitsch Pawlow (1849-1936) an die Medizin der UdSSR heranzuführen. Die 1953 mit viel Aufwand in Leipzig durchgeführte »Pawlow- Konferenz« konnte die DDR- Mediziner nicht von der traditionellen Orientierung auf die westliche Medizin abbringen.
     Das auf soziale Gleichheit und Zugängigkeit für jedermann ausgerichtete Gesundheitswesen der DDR stand dem sich mehr und mehr an marktwirtschaftlichen Kriterien orientierenden Gesundheitssystem der Bundesrepublik und West-Berlins konträr gegenüber. Eine nicht geringe Zahl von Ärzten und Zahnärzten respektierte dieses Anliegen der DDR, eine ebenso nicht geringe Anzahl machte Vorbehalte geltend, deren offensichtlichster Ausdruck im Verlassen der DDR gipfelte. Die 50er Jahre im Gesundheitswesen werden nur verständlich, wenn stets die zahlreichen persönlichen und institutionellen Verbindungen und Kontakte zu Medizinern in der Bundesrepublik sowie frei zugängliche Informationen über dortige gesundheitspolitische Entwicklungen in Rechnung gestellt werden.
So bestanden weitgehend noch einheitliche medizinisch- wissenschaftliche Gesellschaften mit entsprechenden Fachzeitschriften, die über standespolitische Entwicklungen und freie Stellen in Krankenhäusern oder offene Niederlassungen berichteten. Die Bonner Regierung mit ihrem offiziellen Apparat wusste um die Angreifbarkeit der DDR, wenn über die Abwerbung von Ärzten und Schwestern Unruhe in der Bevölkerung über die Zustände im Gesundheitswesen erzeugt wird. Und es gab Fragen der Patienten, ob denn die Politik gegenüber den Ärzten richtig sei, wenn der einzige Augenarzt des Kreises oder der angesehene Chefarzt einer Klinik des Bezirkskrankenhauses über Nacht seinen Arbeitsplatz verließ. Andererseits handelten diese Ärzte oder Zahnärzte aus egoistischen Interessen, ohne auf Belange der ihnen vertrauenden Patienten Rücksicht zu nehmen und den von ihnen geleisteten hippokratischen Eid einzuhalten. Alle in die Bundesrepublik übergewechselten Mediziner erhielten dort den Status »politischer Flüchtling« mit den dafür vorgesehenen materiellen Vergünstigungen. Als Anreiz zum Verlassen der DDR starteten ärztliche Verbände Ende der 50er Jahre eine anhaltende Kampagne mit dem Appell »Ärzte helfen Ärzten«.
      Von 1958 bis 1961 war der Aderlass für das Gesundheitswesen der DDR und die Bevölkerung am größten.
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Eingeleitet wurde diese Phase durch das Passgesetz vom September 1957, mit dem die Mediziner ihre letzten Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung endgültig ad acta legten. Für die staatlich angestellten Ärzte und Zahnärzte bestand nun ohne Einwilligung der Vorgesetzten keine Möglichkeit mehr, an Tagungen oder Kongressen im Westen teilzunehmen. Niedergelassene Ärzte und Zahnärzte witterten angesichts der Überführung von Privatbetrieben in halbstaatliche Betriebe und die Gründung von handwerklichen Genossenschaften (PGH) sowie der verstärkten Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) neue, schwerwiegende Gefahren für ihre freie Berufstätigkeit. Unsicherheit und Nervosität waren nicht unbegründet, da in diesem Zeitraum auch die ersten staatlichen Arzt- und Zahnarztpraxen entstanden. Bis 1961 entstanden 787 staatliche Arztpraxen und 465 staatliche Zahnarztpraxen.5) Auf die verstärkte Abwanderung reagierte die SED mit zwei Ärztekommuniqués vom September 1958 und Dezember 1960 und der Weimarer Gesundheitskonferenz vom Februar 1960, deren Aussage an die Adresse der frei praktizierenden Ärzte lautete: Am bisherigen Status der Niederlassung wird nicht gerüttelt, die materiellen Voraussetzungen werden verbessert, die Honorare angehoben und die soziale Absicherung (Alters- und Hinterbliebenenversorgung, Ferienplätze usw.) erweitert. Überraschend dann seit September 1960 die Vorbereitung eines Ärztebundes, der am 9. August 1961 der Aufruf folgte, dem zu gründenden »Bund Deutscher Ärzte, Zahnärzte und Apotheker« beizutreten. Dieses plötzliche Umschwenken auf die jahrelang von Medizinern erhobene Forderung muss als der deutlichste Ausdruck der ausweglosen personellen Situation angesehen werden. Allerdings erledigte sich aus dem Blickwinkel der SED die Gründung durch die vier Tage später eingetretenen Ereignisse ...

Quellen:
1 Angaben von der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv. Zit. in: Dokumentation zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR. Teil III: Das Gesundheitswesen zwischen neuem Kurs und der Schließung der Staatsgrenze (1953-1961). Hrg. Horst Spaar. Veröffentlichung Nr. 17/18 der Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e.V. Berlin 1998. S. 32
2 Statistisches Jahrbuch der DDR 1986. Berlin 1986. S. 335. Vgl. auch: Das Gesundheitswesen der DDR 1980. Berlin 1980. S. 280
3 Horst Spaar, Der Einfluss der personellen Verluste, insbesondere von Ärzten, auf die Gesundheitspolitik der SED und die Entwicklung des Gesundheitswesens, in: Das Gesundheitswesen der DDR - zwischen Konzept und Realität. Berlin o. J. (1995). S. 8
4 Mitteilung der Abteilung Parteiorgane des ZK der SED vom 22. August 1973 (im Besitz des Autors)
5 Das Gesundheitswesen der DDR 1972, S. 191

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2001
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