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Gerhard Keiderling
Notstandsprogramm gegen Arbeitslosigkeit

Beschäftigung und Lebenslage in West-Berlin zu Beginn der fünfziger Jahre

Die prekäre Wirtschaftssituation West-Berlins nach durchstandener Blockade von 1948/49 ist hier schon mehrfach betrachtet worden (BM 10 und 11/2000). In ihrem Zehnjahresbericht von 1955 schrieb die Industrie- und Handelskammer Berlin: »Westberlin hatte mit Hilfe der Luftbrücke unter bedeutenden Opfern seine Freiheit bewahrt. Nun standen die Stadt und ihre Wirtschaft vor der gewaltigen Aufgabe, mit den vielfältigen Strukturwandlungen fertig zu werden. Die Rückkehr zur Ordnung und zum guten Gelde offenbarte die Verarmung und die geringe wirtschaftliche Kraft. Bis Ende 1949 stieg der Produktionsindex der Westberliner Industrie nur auf 25 (1936 = 100), während er in Westdeutschland bereits 95 erreichen konnte. Obgleich die Betriebe während der Blockade bestrebt waren, ihre Belegschaften soweit wie möglich zu halten, konnte nicht verhindert werden, daß die Zahl der Arbeitslosen bis zum Ende der Blockade auf rund 164 000 stieg. (...)

Bis Ende 1949 erhöhte sich die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft auf fast 279 000 und erreichte Anfang 1950 mit über 300 000 ihren höchsten Stand. Außerdem erhielten 56 000 Arbeitnehmer Kurzarbeiterunterstützung.«1)

Nur jeder Vierte hatte Arbeit

Die hohe Arbeitslosenquote stellte ein Politikum sondergleichen dar. Als »Leuchtturm der Freiheit hinter dem Eisernen Vorhang« konnte West-Berlin nur strahlen, wenn es zugleich ein attraktives »Schaufenster des Westens« war. Besorgt schrieb der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Dr. Otto Lenz (1903-1957), am 23. September 1949 an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser (1888-1961): »Wenn Berlin jetzt nicht geholfen wird, besteht die Gefahr, daß es den Russen doch noch anheimfällt. Der Zustand, daß fast nur noch jeder vierte Mann Arbeit hat, ist auf die Dauer unhaltbar.«2)
     Aus der schwierigen Lage konnte es nur einen Ausweg geben: mittels Marshall- Plan und Bundeshilfe so schnell wie möglich das Wachstum der Wirtschaft und die Verbesserung des Lebensstandards in West-Berlin voranzutreiben. Allen Hilfsprogrammen lag zuvorderst die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zugrunde.

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Als der Währungs- und Wirtschaftsexperte Fritz Federau im März 1950 vom HICOG- Direktor Howard P. Jones um eine Enquete über die Wirtschaftslage der Stadt gebeten wurde, stellte er an die Spitze seiner Überlegungen die Aufgabe: »Beseitigung der Arbeitslosigkeit unter gleichzeitigem Einbau der Westberliner Wirtschaft in das wirtschaftliche Gefüge Westdeutschlands, da eine Orientierung auch nach östlicher Richtung angesichts der politischen und währungspolitischen Konstellation aussichtslos erschien.
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war somit nicht nur eine sozialpolitische Aufgabe von größter Wichtigkeit, sondern darüber hinaus auch eine konkret- nüchtern- wirtschaftspolitische Aufgabe, deren Lösung jedoch nur im engsten Einvernehmen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin möglich war.«3)

Notstandsprogramm wird beschlossen

Der Berliner Beratende ERP- Ausschuß, der die Marshall- Plan- Gelder verteilte, prüfte gleichfalls die Lage.

Auf einer Tagung am 28. März 1950 im Gebäude des US- Hochkommissars in Berlin- Dahlem wurde in Anwesenheit der Bundesminister für Wirtschaft und für den Marshall- Plan, Ludwig Erhard (1897-1977) und Franz Blücher (1896-1959), sowie des Oberbürgermeisters Ernst Reuter (1889-1953) ein Notstandsprogramm beschlossen. Unter der Bedingung, dass in den nächsten vier Monaten mindestens 50 000 Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten beschäftigt werden, wurden monatlich 20 Millionen DM aus US-Mitteln bereitgestellt. Eine Verlängerung des Arbeitsbeschaffungs- Programms wurde in Aussicht gestellt.
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Der DGB urteilte: »Bei Beschränkung der Mittel auf monatlich 20 Millionen DM war es klar, daß bei normalen Stundenverdiensten und Gewinnspannen nur wenige Menschen neu beschäftigt werden konnten. Andererseits war es nicht möglich, wesentlich unter das normale Tarifniveau herunterzugehen, da das Lohnniveau in Berlin ohnehin nur gerade über dem Existenzminimum lag, und die sowjetzonalen Verhältnisse nicht als Maßstab herangezogen werden konnten und sollten.«4)
     Das Notstandsprogramm, als »soziales Hilfswerk« proklamiert, lief am 17. April 1950 an. Arbeitslose wurden zumeist für Arbeiten eingesetzt, die - wie es amtlich hieß - ohne Beschaffung kostspieliger Produktionsmittel »im öffentlichen Interesse unumgänglich erforderlich« waren. Es zählten dazu die Enttrümmerung (BM 3/99), die Wiederaufforstung des Grunewalds und des Tiergartens, die Herrichtung von Grünanlagen und Sportplätzen und der Wiederaufbau von öffentlichen Gebäuden. Diese »manuellen« Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden flankiert von einem »Angestelltenprogramm«, einem »Künstler- Notprogramm« und von einem »Jugendbeschäftigungsprogramm.«

Junge und Ältere besonders betroffen

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dienten in erster Linie einem politisch- psychologischen Effekt. Arbeitslose wurden mit einer knapp über dem Arbeitslosengeld liegenden Bezahlung

(im Mai 1953 lag der durchschnittliche Bruttostundenverdienst bei 1,42 DM) von der Straße weggeholt, wo sie der vermeintlichen Gefahr kommunistischer Infiltration ausgesetzt waren. Die Annahme, die West- Berliner Wirtschaft wäre dank der anlaufenden Förderungen durch ERP und Bund bald in der Lage, monatlich 10 000 Arbeitskräfte fest einzustellen, erwies sich als irrig. Viele Notstandsbeschäftigte fielen nach Ablauf ihrer Maßnahme wieder in die Arbeitslosigkeit zurück. Man nannte sie daher »Arbeitslose auf Urlaub«. Da auch damals schon für Arbeitslose im Alter von 45 bis 65 Jahren (das waren rund 50 Prozent aller Arbeitslosen in West-Berlin) wenig Aussichten bestanden, jemals wieder einen festen Arbeitsplatz zu erhalten, wurden viele vorzeitig »auf Rente gesetzt«.
     Besonders hart traf es Jugendliche. Von damals 260 000 jungen Menschen, die als Erwerbspersonen geführt wurden, waren 71 000 ohne Arbeit. Mit jedem weiteren Schulabgangsjahr stieg die Zahl der Schulentlassenen ohne Lehrverhältnis. Im Rahmen des »Jugendnoteinsatzes« wurde ein Teil von ihnen im sogenannten »handschaffenden Jahr« in Bauhöfen beschäftigt, was aber keine normale Lehre darstellte und kaum Aufstiegschancen brachte. Einen anderen Teil der arbeitslosen Jugendlichen steckte man in »Arbeitslosen- Berufsschulen«, die sie bis zum vollendeten 18. Lebensjahr bei einer täglichen »Stütze« vom Jugendamt in Höhe von 1,25 DM zu besuchen hatten.
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Am 31. Mai 1951 kam der Beratende ERP- Ausschuß erneut im Gebäude des US- Hochkommissars in Berlin- Dahlem zusammen. Wenngleich das Notstandsprogramm die Erwartungen nicht voll erfüllt hatte, wurde mit weiteren 45 Millionen DM aus US-Fonds eine Verlängerung bis 30. September 1951 beschlossen. Auf der anschließenden Pressekonferenz wies man auf die »politische Zwecksetzung« des Programms hin: »Die Insellage (West-Berlins) mit ihren psychologischen und wirtschaftlichen Folgen würde die Tendenz der Masse der Arbeitslosen, sich als eine besondere und vernachlässigte Klasse zu fühlen, fördern und auf die Dauer eine politische Anfälligkeit der Gesamtheit bewirken. Für die Fortsetzung des Notstandsprogramms galten daher die gleichen Gründe wie die, die im Jahre 1950 zu seiner Konstituierung führten. In der Pressekonferenz wurde erklärt: »Jeder Arbeitslose ist eine Gefahr, jeder Neubeschäftigte ein Baustein für die Sicherheit.«5)

Vom Westen im Stich gelassen

Die Unzufriedenheit mit der Effizienz des Notstandsprogramms veranlasste Geldgeber und Organisatoren zu einer Drosselung der Maßnahme. Der bis März 1951 monatlich bereitgestellte Betrag von 20 Millionen DM wurde in der Folge auf 15 Millionen DM abgesenkt.

Die Zahl der Notstandsarbeiter verringerte sich von 47 000 im September 1951 auf 19 000 im Juli 1952, was keineswegs eine Überführung in ein festes Beschäftigtenverhältnis bedeutete. Der »Tagesspiegel« vom 17. Januar 1952 schlug vor, die Notstandsarbeiter »aus sozialen Gründen« von Zeit zu Zeit gegen andere Arbeitslose auszutauschen und kommentierte: »Die Hunderttausende, die noch stempeln gehen, wollen eben auch einmal auf einige Zeit zur Arbeit beurlaubt werden.« Prof. Dr. Rudolf Meimberg von der Berliner Zentralbank erwog sogar, »ob nicht der billigste und auch politisch beste Weg für eine Stabilisierung der Verhältnisse in Westberlin darin bestünde, 100 000 bis 200 000 Arbeitslose mit ihren Familien nach dem Westen umzusiedeln.« Das wurde jedoch verworfen, weil eine solche Umsiedlung »eine Preisgabe oder doch empfindliche Schwächung der Politik der Behauptung West-Berlins« bedeutete.6) Andererseits verbreitete sich unter den Betroffenen ein latentes Gefühl des Alleingelassenseins. Die Zürcher Zeitung »Die Tat« schrieb am 11. März 1953: »In Westberlin herrscht Arbeitslosigkeit. Die Fabriken mit neuestem Maschinenmaterial stehen leer. Ein Arbeitslosenheer muß unterhalten werden. Während Westdeutschland die Bestellungen des Auslandes z. T. kaum bewältigen kann, mit Überstunden arbeitet und die Lieferungsfristen dehnen muß, dreht der Berliner die Daumen und wartet. Er fühlt sich vom Westen in Stich gelassen.«
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Arbeitslose als Zielgruppe

Die anhaltende Arbeitslosigkeit stürzte viele Familien in große Nöte. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes hatten 1952/53 rund 400 000 West- Berliner (über 50 Prozent der unselbständig Beschäftigten) ein monatliches Bruttoeinkommen unter 250 DM, was amtlich als Existenzminimum bezeichnet wurde. Im Mai 1952 lagen etwa 80 Prozent der Renten unter 100 DM. Der Einzelhandel verspürte das durch geringere Umsätze. Das Ratenzahlungsgeschäft wuchs von 1950 bis 1953 um das sechsfache; gleichzeitig stieg die Zahl derer, die Pfandleihen aufsuchten, um mehr als 80 Prozent. Nur unter Ausnutzung des Ost-West- Währungsgefälles konnten viele diese Notzeit überstehen. Eine West- Berlinerin erinnerte sich: »Wenn wir nämlich unser Westgeld 1:5 eintauschten, dann konnten wir drüben kaufen wie die Weltmeister.«7)
     Die Notlage der Arbeitslosen und der Minderbemittelten in West-Berlin suchte die SED für ihre politischen Ziele zu nutzen, indem sie einer Trostlosigkeit im Westen die goldene Perspektive im Osten gegenüberstellte. Neben der alltäglichen Propaganda der Ost- Berliner Medien trat man gezielt mit Flugblättern, Traktaten und Agitationstrupps (»Westeinsätze«) an die Arbeitslosen und Notstandsarbeiter heran. Über persönliche Kontakte wurden Einladungen zu Besuchen in Volkseigenen Betrieben oder kostenlose

Teilnahmen an Kinderferienlagern in der DDR ausgesprochen. Trotz großen Aufwandes waren die Erfolge nicht der Rede wert. Auch wer Ostangebote zum eigenen Vorteil wahrnahm, wurde deshalb kein Freund der DDR. Der Antikommunismus und die prinzipielle Ablehnung des östlichen Sozialismusmodells saßen tief in den Köpfen der West- Berliner, zumal nach der eben durchstandenen Blockade ihrer Stadt.
     Auch die Bemühungen, die Arbeitslosenbewegung in einen organisierten Griff zu bekommen, fruchteten nicht.
     Der Zentrale Arbeitslosen- Ausschuss West-Berlin trat mit Denkschriften, Protestaktionen und Veranstaltungen auf, ohne auf große Resonanz zu stoßen. Die SED vermochte weder das West- Berliner Arbeitslosenheer zu instrumentalisieren, noch auf die Lohnkämpfe und Streiks - erwähnt seien die großen Streiks der Rohrleger 1954 und der Putzer 1955 - entscheidenden Einfluss zu nehmen.
     Schließlich waren es die inneren Wirtschafts- und Versorgungsprobleme, die die SED zwangen, ab 1952 die Losung »Der kluge Berliner kauft in der HO« zurückzunehmen und gegen West- Berliner, die über die Wechselstuben weiterhin billige Einkäufe in Ost-Berlin tätigten, mit restriktiven Maßnahmen vorzugehen. Damit verscherzte sie sich bei ihren West- Berliner Zielgruppen das letzte Wohlwollen.
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Was in der amtlichen Statistik fehlte

Der Abbau der Massenarbeitslosigkeit in West-Berlin zog sich analog zur verlangsamten Wirtschaftsentwicklung bis Ende der fünfziger Jahre hin. Erstmals 1956 wurde die 100 000- Grenze unterschritten; 1961 war man bei einem Normalstand von 17 500 angelangt. Lange Zeit schwankten die Zahlen, denn wie üblich tauchten aus »kosmetischen Gründen« viele »unangemeldete« oder aus irgendwelchen Gründen herausgenommene Arbeitslose in der amtlichen Statistik nicht auf. Während Vollarbeitsfähige mit Fachausbildung den Schritt zu einem Dauerarbeitsplatz schafften, blieben viele andere »auf der Strecke«. Dazu zählten bis zuletzt ungelernte Arbeiter und ehemalige Angestellte im vorgerückten Lebensalter über 45 Jahre sowie Frauen und Jugendliche ohne Lehrausbildung. Erschwerend kam hinzu, dass sich das Arbeitslosenheer ständig erneuerte durch ruinierte Selbständige und durch Flüchtlinge aus der DDR, die ohne Arbeit in den Flüchtlingslagern saßen. Anfang der fünfziger Jahre waren Tausende von »Ostgrenzgängern« hinzugekommen, die von DDR- Behörden aus politischen Gründen gekündigt worden waren. Bis zum Mauerbau 1961 stellten auch die rund 60 000 »Westgrenzgänger«, also Beschäftigte aus Ost-Berlin und den umliegenden DDR- Bezirken, eine starke Belastung des West- Berliner Arbeitsmarktes dar.

Quellen und Anmerkungen:
1 Die Wirtschaft Westberlins 1945 bis 1955. Hrsg. Industrie- und Handelskammer zu Berlin e. V., Berlin (West) 1955, S. 21
2 Bundesarchiv Koblenz, NL 18, Nr. 176, Bl. 64 RS
3 Fritz Federau: Von Versailles nach Moskau. Politik und Wirtschaft in Deutschland 1919 bis 1970. Ein Dokumentar- Bericht unter Verwendung von vertraulichem, internem und ehemals geheimem Material, Berlin (West) 1971, S. 186
4 Berliner Gewerkschaftsgeschichte von 1945 bis 1950. Hrsg. DGB, Landesbezirk Berlin, Berlin (West) 1971, S. 275 f
5 Karl Olaf Steinbring: Organisation und Durchführung des Berliner Notstandsprogramms 1950-1956, Freie Universität Berlin, Diss. rer. pol., Berlin (West) 1956, S. 22
6 Karl C. Thalheim: Die Wirtschaft Berlins zwischen Ost und West. In: Verhandlungen auf der Sondertagung des Vereins für Sozialpolitik in Berlin, 18./19.April 1952, Berlin (West) 1952, S. 33 f
7 Reichstrümmerstadt. Leben in Berlin 1945-1961. In Berichten und Bildern erzählt von Sylvia Conradt und Kirsten Heckmann-Janz, Darmstadt und Neuwied 1987, S. 91
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001
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