55   Porträt Anna Siemsen  Nächstes Blatt
Cornelia Carstens
Für Freiheit, Wahrheit und Glück

Die Pädagogin und Politikerin Anna Siemsen (1882-1951)

Anna Siemsen war »eine der drei klügsten Frauen Europas« (Tucholsky), eine bedeutende Pädagogin und Bildungspolitikerin in der Weimarer Republik. Schon 1918 hatte sie ihre reformpädagogischen Prinzipien in einem Artikel der »Tat« formuliert: »Unsere Schulen sind - wie alle Schulen es sein müssen - ein getreues Spiegelbild heutigen Lebens überhaupt: sie bewerten die Begabung und den Erfolg. Sie stacheln die Kinder durch äußere Mittel, durch Zeugnisse über ihre Leistungen künstlich zur Arbeit an und setzen sie in einen Wettbewerb mit den Kameraden, der Eifersucht, Ehrgeiz und Neid, alle antisozialen Triebe, erregt und stärkt: sie scheiden schon die Kinder nach Stand und Vermögen, verhindern das gegenseitige Kennen- und Verstehenlernen.« Anna Siemens wollte eine unbürokratische Schule, ohne Prüfungen und Zeugnisse, mehr Freiheiten für die Lehrer und Lehrerinnen und größeres Mitspracherecht für Eltern, Kinder und Berufsorganisationen.


Anna Siemsen

»Ich bin überzeugt, daß das, was man so allgemeine Bildung nennt, beträchtlich zurückgehen würde. Ob es irgendein Mensch betrauern wird, dies Konversationslexikonwissen, das unsere Examina jetzt feststellen? Wir würden etwas anderes erhalten. Mehr Freiheit menschlicher Entwicklung, mehr Wahrheit und Selbstbescheidung. Und mehr Glück bei Lehrern und Kindern. Vielleicht werden wir sogar das erhalten, was jetzt unsere Reformsysteme so häufig und selbstverständlich voraussetzen, und was unsere Schulen, wo es einmal auftaucht, so schnell ersticken und zerbrechen: die Persönlichkeit und damit das seltene Wunder: den Erzieher von Gottes Gnaden.«

BlattanfangNächstes Blatt

   56   Porträt Anna Siemsen  Voriges BlattNächstes Blatt
Der »Kasernencharakter« großer Schulen behagte ihr nicht. »Massenerziehung löst jede Gemeinschaft (...) sie verwandelt unsere Kinder in Schülermaterial, das man nach vorgeschriebenen Regeln gleichmacherisch formt, statt von innen heraus sie wachsen und sich bilden zu lassen«.

Eine der ersten Studentinnen

Anna Siemens wurde am 18. Januar 1882 im westfälischen Mark als zweitältestes von fünf Kindern einer Pfarrersfamilie geboren. August Siemsen (1884-1958), selbst Pädagoge und Politiker, beschrieb seine Schwester Anna als schüchternes, zurückgezogenes und lesebegieriges Kind. Sie litt seit ihrer Geburt unter einem verkürzten Bein und häufig an Migräne. »Wer sein Kind lieb hat, der hält es unter der Rute«, nach dieser Devise habe der Vater gehandelt.
     Nach der Dorfschule besuchte Anna Siemsen eine Höhere Mädchenschule in Hamm und absolvierte 1901, nach privater Vorbereitung, das Lehrerinnenexamen in Münster. Sie durfte damit an Grundschulen und Höheren Mädchenschulen unterrichten. Anschließend arbeitete Anna Siemsen als Privatlehrerin, bis sie 1905 das externe Abitur in Hameln ablegte. Noch im gleichen Jahr begann sie das Studium der Germanistik, Philosophie und Altphilologie in München, Münster und Bonn. Das Frauenstudium war gerade erst zugelassen und Anna Siemsen somit eine der ersten Studentinnen.

In Bonn promovierte sie 1909 über die Verstechnik Hartmann von Aues und legte 1910 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. Auch hier zählte sie zu den Pionierinnen, denn gerade erst hatte die Lehrerinnenbewegung in Deutschland den Zugang der Frauen in das Höhere Lehramt für Gymnasien ebenso erkämpft wie reguläre Abiturklassen für Mädchen. In Göttingen legte Anna Siemsen 1912 noch eine Ergänzungsprüfung in Religion ab. In Detmold, Bremen und schließlich 1915 an der Städtischen Luisenschule in Düsseldorf wurde sie als Oberlehrerin [entspricht der heutigen Studienrätin] angestellt.

Ihr Wirken in Düsseldorf und Berlin

Noch während des Ersten Weltkrieges trat Anna Siemsen dem Bund Neues Vaterland, der späteren Liga für Menschenrechte, bei, wurde Pazifistin und Sozialistin. Zusammen mit ihrem Bruder August trat sie 1917 der USPD bei. Mit der Revolution hatten die Frauen 1918 das aktive und passive Wahlrecht erkämpft; Anna Siemsen wurde Stadtverordnete in Düsseldorf. Zur Gründungsversammlung des Vereins sozialistischer Lehrer und Lehrerinnen fuhr sie Pfingsten 1919 nach Berlin und war hier auch von Herbst 1919 bis März 1920 zur Vorbereitung der Reichsschulkonferenz für ein halbes Jahr im preussischen Kultusministerium tätig. 1920 wirkte Anna Siemsen als Kommunalbeamtin für das Fach- und Berufsschulwesen in Düsseldorf.

BlattanfangNächstes Blatt

   57   Porträt Anna Siemsen  Voriges BlattNächstes Blatt
Bereits im November 1921 wurde sie als Oberschulrätin nach Berlin berufen, ebenfalls zuständig für städtische Fach- und Berufsschulen. Da sie inzwischen als sozialistische Pädagogin sehr bekannt war, versuchte eine Bürgerinitiative, ihre Berufung in Berlin zu verhindern. Der Widerstand der Initiative richtete sich gegen Anna Siemsen als Sozialistin, als Frau in einer Leitungsfunktion und gegen ihre pädagogischen Ansichten.

Der Umzug nach Jena

Parallel zu ihrer Lehrtätigkeit hatte Anna Siemsen zu schreiben begonnen. Über 500 politische, pädagogische, aber auch literarische Artikel und Aufsätze sowie mehr als 40 selbständige Publikationen verfasste sie im Laufe ihres Lebens nach ihrer Maxime, dass »jedes unpolitische Buch entweder überflüssig oder ganz und gar schlecht« sei. Mehr und mehr widmete sie sich darüber hinaus der Partei-, Gremien- und Vereinsarbeit. Sie wechselte 1922 mit der Rest- USPD zur SPD, gehörte seit 1922 dem Bund entschiedener Schulreformer und von 1921 bis 1925 dem Vorstand des eher konservativen Deutschen Fröbel- Verbands an, der maßgeblich an der Professionalisierung (sozial-) pädagogischer Berufe mitgearbeitet hat.
     Im Oktober 1923 wurde Anna Siemsen vom thüringischen Volksbildungsminister Max Greil (1877-1939) nach Jena gerufen.

Sie sollte als Oberschulrätin für das mittlere Schulwesen und Leiterin des Jenaer Lyzeums tätig sein. Zusätzlich erhielt sie eine Honorarprofessur für Pädagogik an der Universität Jena, wohin auch Mathilde Vaerting (1884-1977), die erste ordentliche Professorin der Universität Jena, berufen worden war. Anna Siemsen holte ihre Mutter nach, mit der sie, so weit wie möglich, immer zusammenlebte. Ihr Bruder August war ebenfalls nach Jena gerufen worden. In Jena hatte Anna Siemsen für zehn Jahre ihre ständige Wohnung, eine Ruhepause nach den vielen Ortswechseln der Vergangenheit. Beruflich gönnte sie sich keine Pause, arbeitete oft bis zur Erschöpfung und musste aus Gesundheitsgründen Zwangspausen einlegen.
     Schon im Herbst 1924 hatten sich die politischen Verhältnisse in Thüringen geändert, Anna Siemsen wurde von der neuen konservativen Regierung beurlaubt und »in den Wartestand« versetzt. Die Lehrtätigkeit an der Universität blieb ihr jedoch erhalten. Zusätzlich war sie als Kultur- und Bildungsreferentin vor allem im sozialistischen Jugendbildungsbereich tätig. Frauenbefreiung war für sie ein Thema unter vielen, aber dennoch ein wichtiges. 1924 war sie Delegierte auf der Frauenkonferenz der SPD. Im gleichen Jahr hielt sie an der Heimvolksschule Tinz den ersten Frauenkurs, zusammen mit der Pädagogin Olga Essig.
BlattanfangNächstes Blatt

   58   Porträt Anna Siemsen  Voriges BlattNächstes Blatt
Politisches Handeln nach dem Gewissen

Im Mai 1928 kandidierte Anna Siemsen an prominenter Stelle auf der SPD-Liste des Wahlkreises Leipzig für den Deutschen Reichstag, dem sie bis 1930 eine Wahlperiode lang angehörte. Hier war sie als Frau nicht so sehr eine Ausnahme wie als Professorin in Jena. 29 Frauen zogen mit ihr in den Reichstag ein, von denen 19 der SPD- Fraktion angehörten.
     1931 stimmten neun sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete gegen den Wehretat und widersetzten sich offen der geforderten Fraktionsdisziplin. Anna Siemsen verteidigte in einer Broschüre »Parteidisziplin und sozialistische Überzeugung« die Handlung nach dem Gewissen, notfalls auch gegen das Votum der Führung der Partei. Unbeabsichtigt verschärfte ihre Publikation die innerparteilichen Konflikte. Als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Notverordnungen der Regierung Brüning zustimmte, gründeten ehemalige Linksoppositionelle der SPD die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Anna Siemsen war sofort dabei. Sie wurde schnell eines der führenden Mitglieder, und sammelte um sich die pazifistische »Anna-Siemsen- Gruppe«. Ihre frühere Parteikollegin Käte Frankenthal (1883-1976), eine prominente Berliner Kommunalpolitikerin, kam im Dezember 1931 dazu. Die neue Partei wurde allerdings eine Enttäuschung, Anna Siemsen sah auch hier keine Chance für ihre Anliegen und verließ die SAP nach etwa einem Jahr.

Emigration in die Schweiz

Im September 1932 wurde ihr mit dem Entzug ihrer Lehrberechtigung an der Universität Jena gedroht. Sie hatte sich als einzige der Jenaer ProfessorInnen mit dem aus politischen Gründen entlassenen Heidelberger Professor Emil Gumbel (1891-1966) solidarisiert. Die Machtübernahme der Nazis im Januar 1933, der Reichstagsbrand Ende Februar und die anschließende Verfolgungswelle trieben sie zum schnellen Handeln. Am 15. März 1933 emigrierte Anna Siemsen in die Schweiz, wo sie seit einigen Jahren ein Grundstück am Genfer See besaß. Durch eine Scheinehe mit dem homosexuellen Walter Vollenweider geschützt, konnte sie politisch arbeiten.
     Sie engagierte sich im Bildungsbereich der sozialdemokratischen Partei und übernahm 1938 die Redaktion der sozialdemokratischen Frauenzeitung »Die Frau in Leben und Arbeit«. Wo es nur möglich war, beteiligte sie sich an der antifaschistischen Arbeit und an bildungspolitischen Vorbereitungen für die Nachkriegszeit in Deutschland. Im Herbst 1934 bezog sie ein Haus in Chexbres, wo sie in Irene Forbes-Mosse (1864-1946) und deren Lebensgefährtin Bertie Moser enge Freundinnen fand. Hier entstand ihr Hauptwerk »Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung«, das 1948 in Hamburg publiziert wurde.

BlattanfangNächstes Blatt

   59   Porträt Anna Siemsen  Voriges BlattArtikelanfang
Die Rückkehr nach Deutschland

Schon im Dezember 1946 kehrte die 64jährige Anna Siemsen nach Deutschland zurück und engagierte sich in Hamburg in der Lehrerausbildung. Zusätzlich hielt sie Lehrveranstaltungen an der Universität über europäische Literatur. Angebote, an die Universität in Jena zurüchzukehren, schlug sie aus politischen Gründen aus. Ihre Wiedereinsetzung in das Beamtenverhältnis erreichte sie nicht und konnte lediglich eine kleine Pension erkämpfen. Sie wurde Vorsitzende im Kuratorium der Friedensgesellschaft und in der deutschen Sektion der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa.
     Anna Siemsen, die ihr ganzes Leben lang mutig, konsequent und unermüdlich für eine demokratische und pazifistische Erziehung eingetreten war, starb am 22. Januar 1951 in Hamburg. Der Berliner Bezirk Neukölln ehrt die berühmte Pädagogin durch die Anna-Siemsen- Oberschule und den Anna-Siemsen- Weg in Buckow.

Literatur:

Inge Hansen-Schaberg, Anna Siemsen (1882-1951): Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin. In: Die Töchter der Alma mater Jenensis, neunzig Jahre Frauenstudium an der Universität von Jena, hrsg.von Gisela Horn, Hain-Verlag Rudolstadt, 1999; S.113-136

Ralf Schmölders, Anna Siemsen - sozialistische Pädagogin in der Weimarer Republik. In: Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, Band 1, hrsg.von Ilse Brehmer, Pfaffenweiler, Cebtaurus, 1990; S. 110-124

BlattanfangArtikelanfang

© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001
www.berlinische-monatsschrift.de