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Wolfgang W. Timmler
Napoleons Kontinentalsperre brachte viel Garn

Die Maschinenspinnereien der Gebrüder Bernhard in Berlin und in Sachsen

»Der Engländer ist Meister, das Entdeckte gleich zu nutzen, bis er wieder zu neuer Entdeckung und frischer Tat führt. Man frage nun, warum sie uns überall voraus sind?«, heißt es an einer Stelle in Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden«. Es war eine unzeitgemäße Betrachtung, das Kokettieren mit einem Vorurteil, das im Jahre 1829, als der Roman erschien, nur noch eingeschränkt galt, wie der Autor auch aus eigener Anschauung wußte. Zehn Jahre zuvor hatte der preußische Fabriken- Kommissions- Rat Heinrich Weber in seinem »Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten der Residenz Berlin« (1819/1820) kritisiert, dass unter den Deutschen weniger von dem gesprochen und geschrieben werde, was die heimische Industrie leiste, als von dem, was andere Länder hervorbrachten. Weber wurde im Jahre 1772 in Berlin geboren und war als Mitglied der technischen Gewerbe- Deputation im preußischen Handelsministerium für die Manufakturen und Fabriken zuständig. Er starb im Jahre 1831 in Berlin.

In Preußen hatte Friedrich Wilhelm I. die Einfuhr und Verarbeitung von Baumwolle strikt untersagt, um die einheimischen Leinen- und Wollwebereien vor dem ausländischen Konkurrenzprodukt zu schützen. Mit dem Regierungsantritt von Friedrich II. im Jahre 1740 wurde das Einfuhrverbot für Rohbaumwolle aufgehoben und die Verarbeitung von Baumwollwaren erlaubt. Im Jahre 1741 eröffnete Johann Peter Duplantier in Berlin eine kleine Kattundruckerei, in der zunächst nur Importware, später dann auch Kattune aus heimischer Produktion veredelt wurden, die sich aber in bezug auf Feinheit, Güte und Schönheit mit den ausländischen nicht messen konnten. Die Erfindung der Spinnmaschine (»spinning jenny«) durch den Engländer James Hargreaves im Jahre 1764 veränderte die Technik der Baumwollverarbeitung grundlegend. Durch den Einsatz von Maschinen wurde es nun möglich, Garne von guter Qualität in großen Mengen herzustellen. Die Arbeit am Spinnrad, wie sie Goethe in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« beschreibt, hatte keine Zukunft mehr und hörte nach und nach auf. Die Unternehmer stellten auf die billigen englischen Maschinen- Garne um. In Berlin wurde die Baumwollweberei zur Hauptarbeit der Manufakturen. Gleichzeitig entwickelte sich die Kattundruckerei zu einem der bedeutendsten Gewerbezweige.
     Am Stadtgraben unweit des Hackeschen Markts befand sich einst die königliche Garn- Manufaktur.
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Die Baumwollspinnerei wurde im Jahre 1791 auf königliche Rechnung in den Räumen der ehemaligen Seidenmühle eingerichtet. Weil sich die staatliche Verwaltung des Betriebs in kaufmännischer Hinsicht nicht bewährte, übernahmen im Jahre 1803 die Gebrüder Carl Friedrich und Ludwig Carl Philipp Bernhard die Leitung der Fabrik. Carl Friedrich Bernhard stammte aus Grünstadt bei Ludwigshafen. Als junger Textilkaufmann war er nach England gegangen und hatte in Manchester eine Spinnerei geleitet. Er interessierte sich für Maschinenbau, und wie John Lombe, der im Jahre 1719 in Piémont die Konstruktion eines Seidenwebstuhls aufgezeichnet hatte, um ihn in England nachbauen zu lassen, kehrte Bernhard mit den Konstruktionszeichnungen einer Mulemaschine nach Deutschland zurück. Im Jahre 1797 erwarb der Kaufmann in dem damals südlich von Chemnitz gelegenen Kirchdorf Harthau (heute eingemeindet) einige Grundstücke, um eine Maschinenspinnerei nach englischem Vorbild zu errichten. Im Jahre 1798 verlieh der sächsische Kurfürst ihm das Privilegium exclusivum auf zehn Jahre für die Herstellung von Muletwist. Bernhards Fabrik war die erste Maschinenspinnerei in Kursachsen. Carl Friedrich Bernhard führte die Geschäfte anfangs allein. Im Jahre 1801 trat sein Bruder Ludwig Carl Philipp in die Fabrik ein. Im Jahre 1807 übernahmen die Gebrüder Bernhard auch die technische Leitung der Spinnerei, um nicht länger von ausländischen Fachkräften abhängig zu sein. Die Maschinenarbeiter waren zur Wahrung des Fabrikgeheimnisses eidlich verpflichtet. Fremde durften das Werk nur in Begleitung des Amtsvorstehers betreten. Im Jahre 1810 besichtigte Johann Wolfgang Goethe eine mechanische Baumwollspinnerei in der näheren Umgebung von Chemnitz, entweder die Bernhardsche Fabrik in Harthau oder die 1799 gegründete Fabrik von Wöhler & Lange in Furth, aber welche von beiden ist nicht bekannt.
     Im Jahre 1805 erweiterten die Gebrüder Bernhard mit staatlichen Zuschüssen die königliche Garn- Manufaktur in Berlin und vereinigten sie mit der Baumwollspinnerei des Kaufmanns Cohen, der im Jahr zuvor seine Insolvenz hatte erklären müssen. Die Bernhardschen Fabriken entwickelten sich gut und profitierten insbesondere von der Kontinentalsperre, die Napoleon I. in einem von Berlin aus erlassenem Dekret am 21. November 1806 gegen England verfügt hatte. Die Handelsblockade schützte die Textilindustrie auf dem Kontinent wirksam vor der englischen Konkurrenz, aber sie verzerrte auch den europäischen Handel mit Manufaktur- und Fabrikware.
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Chemnitz- Harthau, Klaffenbacher Straße - Verwaltungsgebäude der ehemaligen VEB Kammgarnspinnereien, sogenannte »Obere Spinnerei«, Nachfolgebetrieb der 1798 gegründeten Bernhardschen Spinnmühle
Seit 1810 führten die Gebrüder Carl Christian Jakob und Johann Christian Carl Bernhard die beiden Maschinenspinnereien in Preußen und Sachsen. »Die Unternehmer verstanden es jedoch nicht die großen Vortheile, welche die günstigen Zeitumstände ihnen gewährten, zu Rathe zu halten«, berichtet der Fabrikenkommissarius Heinrich Weber. »Sie hatten damit so schlecht gewirthschaftet, dass sie nicht im Stande waren, die widrigen Konjunkturen in den Jahren 1815 und 1816 zu ertragen.«
     Im Jahre 1815 mußte die Bernhardsche Fabrik in Harthau Konkurs anmelden und kam unter staatliche Verwaltung. Im Jahr darauf stellte auch die königliche GarnManufaktur in Berlin den Betrieb ein und wurde aufgelöst, ein Schicksal,
welches der Fabrik in Sachsen erspart blieb. Im Jahre 1849 erwarb der Kaufmann Carl Friedrich Solbrig die Gebäude und richtete in Harthau eine Kammgarnspinnerei ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg firmierte die Textilfabrik unter dem Namen VEB Kammgarnspinnereien. Im Jahre 1990 machte dann die deutsche Vereinigung dem volkseigenen Betrieb den Garaus. Während von den Gebäuden der königlichen Garn- Manufaktur in Berlin nichts mehr erhalten ist, stehen in Chemmnitz- Harthau noch einzelne Fabrikgebäude, darunter das Spinnereigebäude aus dem Jahre 1804, das Comptoir- und Wohngebäude aus dem Jahre 1807, ein Meisterwohnhaus und die alte Fabrikschule, in der Karl May im Jahre 1816 als Lehrer tätig gewesen sein soll.
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Literatur und Quellen:

- Ernst Beutler (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Band 8: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Zürich 1949.
- Dieter Bock: Furth. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins 66 (1996), S. 83-90.
- Bräuer, Helmut und Gabriele Viertel: Chemnitz. Sechste Auflage. Berlin o. J. (1990).
- Rudolf Forberger: Die Industrielle Revolution in Sachsen 1800-1861. Band 1. Zweiter Halbband: Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1800-1830. Übersichten zur Fabrikentwicklung. Zusammengestellt von Ursula Forberger. Berlin 1982.
- Hildebrandt, Werner, Lemburg, Peter und Jörg Wewel: Historische Bauwerke der Berliner Industrie. Berlin 1988 (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin, Heft 1).
- Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, II. Hauptabteilung Generaldirektorium, Manufaktur- und Kommerzkollegium, Tit. CLXXXXIV, Nr. 93: Vereinigung der Bernhard-Cohenschen mit der königlichen Garn- Manufaktur 1802-1805.
- Rachel, Hugo und Wallich, Paul: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten. Dritter Band: Übergangszeit zum Hochkapitalismus 1806-1856. Neu herausgegeben, ergänzt und bibliographisch erweitert von Johannes Schultze, Henry C. Wallich und Gerd Heinrich. Berlin 1967 (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg Band 34 / Neudrucke Band 3).
- Birgit Schubert: Harthau. In: Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins 66 (1996), S. 164-171.

- Helga Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, Wirtschaftsgeschichte Europas 1500-1800. Frankfurt a. M. 1997 (Reihe: Europäische Geschichte, Herausgegeben von Wolfgang Benz).
- August Schumann: Vollständiges Staats-Post- und Zeitungs- Lexikon von Sachsen, enthaltend eine richtige und ausführliche geographische, topographische und historische Darstellung aller Städte, Flecken, Dörfer, Schlösser, Höfe, Gebirge, Wälder, Seen, Flüsse etc. gesammter Königl. und Fürstl. Sächsischer Lande, mit Einschluß des Fürstenthums Schwarzburg, des Erfurtschen Gebietes, so wie der Reußischen und Schönburgischen Besitzungen. Dritter Band: Friedrichwalde bis Herlachsgrün. Zwickau 1816.
- Rolf Straubel: Bemerkungen zum Verhältnis von Lokalbehörde und Wirtschaftsentwicklung. Das Berliner Seiden- und Baumwollgewerbe in der 2. Hälfte des 18. Jh. In: Jahrbuch für Geschichte 35 (1987), Seite 119-149.
- Heinrich Weber: Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten der Residenz Berlin. Berlin 1987 (Reprint des Ausgabe: Heinrich Weber: Der Vaterländische Gewerbsfreund. Ein Leitfaden zur Kenntniß der industriellen Geschäftigkeit im Preußischen Staate. Erster Theil: Wegweiser durch die wichtigsten technischen Werkstätten der Residenz Berlin. Erstes und zweites Heft. Berlin und Leipzig 1819-1820).

Foto: Timmler

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001
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