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Bernhard Bremberger
Das Standesamt und die Erforschung der Zwangsarbeit Viele ehemalige Zwangsarbeiter suchen heute noch verzweifelt Nachweise für ihre erzwungene Arbeit in Deutschland. Anlässlich der Ausstellung »Der erste Schrei oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt« im Heimatmuseum Neukölln begann ich der Frage nachzugehen, was wir über Kinder von Zwangsarbeiterinnen wissen. Frau Kiel, Leiterin des Standesamtes Neukölln, hat Einblicke in die Geburten- und Sterbebücher ermöglicht, wofür ich ihr danke.
Erfahrungen aus Neukölln 1. Im Jahre 1944 war jeder zehnte in Neukölln registrierte Säugling das Kind einer Zwangsarbeiterin, im Januar des Jahres jeder sechste, im Juni jeder fünfte. Dies lässt auf |
den Anteil der Zwangsarbeiter an der Gesamtbevölkerung schließen.
2. Die Geburten- und Sterbebücher des Standesamtes enthalten weit über 1 000 Namen von Zwangsarbeitern und ihren Kindern - heute überlebensnotwendige Nachweise. Über 500 in Neukölln geborene Kinder von »Ausländerinnen« sind darin verzeichnet. Die Überlebenden finden hierin einen Beleg - und wie viele von ihnen gibt es noch heute, die nur wissen, dass sie in oder bei Berlin geboren sind. 3. Über 250 Lagerstandorte sind in den Büchern des Standesamtes Neukölln enthalten: 50 Lager in Neukölln, mindestens 170 Lager in ganz Berlin und fast 30 weitere Lager außerhalb der Stadt, vor allem in der Provinz Brandenburg. Etwa die Hälfte dieser Lageradressen waren bisher nicht veröffentlicht und damit der Forschung unbekannt. Selbst für Neukölln waren uns die wenigsten Lager bisher ein Begriff. Die Lagerstandorte sind unter der Internetadresse www.zwangsarbeiterlager.de veröffentlicht. 4. Durch die Lageradressen werden weitere Recherchen am jeweiligen Standort möglich. Einige Adressen benennen Firmen, die wohl - in welcher Weise auch immer - mit dem Lager zu tun hatten. Die Vermutung liegt nahe, dass sie dort »ihre« Zwangsarbeiter wohnen ließen. 5. Die Bücher des Standesamtes erlauben detaillierte Aussagen zu einzelnen Lagern: Herkunft der Gefangenen, »Freizügigkeit«, Lagerhierarchie und -personal etc. |
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6. Auch auf die Frage, wie Kinder von Zwangsarbeiterinnen behandelt wurden, finden sich erste Antworten: Im Sommer 1944 verstarben überdurchschnittlich viele Kinder im Säuglings- und Mütterheim Neukölln, meist an »Ernährungsstörung«. Diese Spur muss weiter verfolgt werden, denn aus zahlreichen anderen Orten ist bekannt, dass die Kinder in speziellen Heimen zu Tode gepflegt wurden. Es gibt auch eine Spur, die nach Berlin- Buch führt.
7. Anonymisierte Dokumente aus den Sterbeurkunden erlauben es, dieses Thema erstmalig in Berlin in einer Ausstellung zur Sprache zu bringen. (Heimatmuseum Neukölln: »Der erste Schrei, oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt«; die Ausstellung ist noch bis April 2001 zu sehen.) 8. Durch Forschung im Standesamt war es möglich, sowohl der Evangelischen Kirche in Berlin- Brandenburg als auch der Firma Eternit AG Unterlagen zu Zwangsarbeit zukommen zu lassen. Dadurch sahen sie sich zu weiteren Recherchen veranlasst und haben mittlerweile auch entsprechende Informationen aus ihren Archiven bekannt gegeben. Die Dokumente der Standesämter waren bisher in der Regel der Forschung nicht zugänglich. Das Standesamt Neukölln hat einen Einblick ermöglicht und damit eine Bresche für weitere Forschungen geschlagen. Zu Vergleichsstudien erhielt ich auch die |
Gelegenheit, die Geburtenbücher des Standesamtes Tempelhof von Anfang 1943 bis Mitte 1945 einzusehen. Ich danke der Leiterin des Standesamtes, Frau Aßmann, für die Erlaubnis zur Recherche und zur Veröffentlichung erster Resultate:
Die Geburtenbücher von Tempelhof 1. Zwischen Januar 1943 und Kriegsende wurden über 180 Kinder von Ausländerinnen in Tempelhof geboren, 130 von ihnen in Tempelhofer Lagern. Wir können davon ausgehen, dass die meisten damals hier lebenden Ausländer Zwangsarbeiter waren. Sie sind zwar nicht so bezeichnet, doch wurden beispielsweise viele von ihnen in den Büchern des Standesamtes »Ostarbeiter« genannt.
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Im Januar 1945 sind 43 Geburten registriert, davon vier Kinder von »Ostarbeitern« (3 Ehepaare) drei von Französinnen und das Kind einer Polin. Alle diese Kinder kamen in Lagern zur Welt bzw. in einer Ostarbeiterbaracke.
Also: Von 1943 bis Kriegsende war mindestens jeder sechste in Tempelhof registrierte Säugling das Kind einer Zwangsarbeiterin. 4. Französinnen, Belgierinnen und Frauen aus dem Balkan (Serbien/Kroatien) hatten die Chance, zur Entbindung in das St.-Joseph- Krankenhaus zu kommen. Die Trennung in weniger schlecht behandelte »Westarbeiterinnen« und in »Ostarbeiterinnen«, die auf der tiefsten Stufe der Skala angesiedelt wurden, funktionierte auch im Krankenhaus: »Ostarbeiterinnen« und Polinnen wurden dort in der Regel nicht zur Geburt aufgenommen, ebenso wenig die Internierten aus Tempelhofer Lagern. Ob die Entbindungen innerhalb der Lager in speziellen Entbindungsbaracken stattfanden, muss im übrigen noch geklärt werden. 5. Auch die Betreuung und weitere Pflege der Kinder nach der Geburt ist noch nicht geklärt. Bei mindestens fünf der Kinder ist vermerkt, dass sie kurz nach der Geburt verstarben. Dies lässt aber noch keine allgemeinen Aussagen über das Schicksal der Zwangsarbeiterkinder in Tempelhofer Lagern zu, weitere Forschungen sind nötig. |
6. Die Geburtenbücher benennen 26 Lager in Tempelhof. Dabei ist - und das sei hier extra betont - bei der Adresse ausdrücklich »Lager« vermerkt. In der Regel sind die Lager nach Firmen benannt. Eine Auswertung der Bauakten dürfte diesbezüglich nähere Kenntnisse bringen. Über die Hälfte dieser 26 Lagerstandorte sind bisher noch nicht publiziert worden, sie sind der Wissenschaft also neu! Die verstreuten Informationen zu den einzelnen Lagern sind im Anschluss zusammengefasst.
7. Ferner wurden im St.-Joseph- Krankenhaus schwangere »Westarbeiterinnen« aus folgenden Lagern aufgenommen: Alt- Moabit, Lager, Siemensschule Charlottenburg, Wilmersdorfer Str., Franzosenlager Großbeeren (Teltow), Bahnhofsgebäude sowie eine Schwangere aus Guben (Niederlausitz), Gemeinschaftslager Königspark. Zumindest die beiden Berliner Lagerstandorte waren bisher noch nicht veröffentlicht. 8. Schließlich brachten auch Ausländerinnen aus anderen Berliner Bezirken, bei denen ganz »normale« Wohnadressen angegeben sind, in diesem Krankenhaus ihre Kinder zur Welt - insbesondere »Westarbeiterinnen« bzw. Italienerinnen. Auch bei deren Anschriften kann es sich möglicherweise - das ist im einzelnen zu recherchieren - um Lager oder Ausländer- Sammelunterkünfte handeln. |
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Frau Titunina mit ihrer Tochter Margarita. Das Kind war November 1943 geboren, und zwar im Lager der Norddeutschen Kabelwerke, Neukölln, Am Oberhafen 5-9.
Eine Deutsche, die in Britz oder Buckow wohnte, half Frau Titunina, mit dem Kind den Krieg und das Lager zu überleben. Sie strickte Kleidung und versorgte sie auch mit Lebensmitteln. Andere Deutsche, die dem Lager gegenüber wohnten, überließen ihr unter konspirativen Umständen einen Kinderwagen. Zurück in der Sowjetunion, verschwieg die Mutter den Geburtsort Berlin, um das Kind vor Sanktionen zu bewahren. Im November 2000 besuchte Margarita auf Einladung des Heimatmuseums Neukölln erstmals ihren Geburtsort. | |
So lebten in der Kreuzbergstr. 30 beispielsweise mindestens drei Italienerinnen, die 1944 und 1945 im St.-Joseph- Krankenhaus Kinder bekamen. Im Tempelhofer Geburtenbuch ist diese Adresse nicht als »Lager« bezeichnet, wohl aber fand sich bei weiteren Recherchen die Bestätigung dafür, dass es sich hier um ein solches handelte. |
Lagerstandorte aus den Geburtenbüchern des Standesamtes Tempelhof 1943 bis 1945
-- Marienfelde, Albanstr., Lager D 9 der Firma Daimler Benz, Werk 90
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-- Marienfelde, Buckower Chaussee, Ostarbeiterlager der Fa. Daimler Benz AG
1944 und 1945 sind hier mindestens 17 Kinder von »Ostarbeiterinnen« geboren. Gelegentlich waren die Mütter mit ihren Ehemännern zusammen im Lager interniert. Die Verwaltung des Lagers scheint ihre Besonderheiten zu haben: Im Juni 1944 wurden alleine elf Geburten aus dem gesamten vergangenen Jahr gemeldet. Ausdrücklich ist dabei vermerkt, daß die Meldung durch die Werkschwester »mit Genehmigung der unteren Verwaltungsbehörde« erfolgte - eine Notiz, die ich sonst in Büchern aus Standesämtern nicht gesehen habe und die mir bisher unerklärlich ist. Wenige Tage vor Kriegsende wurden wiederum sechs Geburten gemeldet; alle lagen maximal vier Wochen zurück. Dies lässt den Schluss zu, dass wahrscheinlich in anderen Monaten ähnlich viele Kinder zur Welt kamen, die aus welchen Gründen auch immer dem Standesamt nicht gemeldet wurden. Vielleicht blieben die Informationen bei ebendiesen unteren Verwaltungsbehörden liegen. Die Zahl der Tempelhofer Zwangsarbeiterkinder dürfte demnach wohl noch wesentlich höher liegen. -- Buckower Str. 4, Lager der Firma Fritz Werner AG
-- Chausseestr. 232, Gemeinschaftslager Krebs
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-- Berliner Str., Unterkunftslager 2, Weser- Flugzeugbau
Eine Holländerin aus diesem Lager durfte im Frühjahr 1944 im St.-Joseph- Krankenhaus ein Kind zur Welt bringen. Da wenig vorher ebenfalls eine »Westarbeiterin« dort ihr Kind gebar und als deren Adresse Berliner Str., Weser- Flugzeugwerke angegeben ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich vielleicht um das gleiche Lager handeln dürfte. -- Columbiastr., Gemeinschaftslager »Weserflug» (vermutlich identisch mit dem Ostarbeiterlager der »Weser« Flugzeugbau in der Columbiastr.)
-- Gemeinschaftslager »Lilienthal» der Deutschen Lufthansa, Alter Flughafen (vermutlich identisch mit Columbiastr., Gemeinschaftslager Lufthansa, Alter Flughafen und Lilienthallager)
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Aus dem Sterbebuch des Standesamtes Neukölln.
Bemerkenswert ist zum einen, daß bei vielen Adressen ausdrücklich »Lager« angegeben ist, und zum anderen, daß der Lagerführer keine Angaben über die Eltern dieses Kindes machen konnte, das mit viereinhalb Monaten in seinem Lager verhungerte (so ist die Diagnose »Ernährungsstörung« zu lesen). Zahlreiche solcher Sterbedokumente von Kindern sind in der Ausstellung des Heimatmuseums Neukölln zu sehen damit ist dieses Thema erstmals ausführlich auf diese Weise dargestellt. (Bis April 2001, Mi-Fr 13-18 Uhr, Sa, So 12-18 Uhr) |
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-- Columbiastr., Tor 9, Gemeinschaftslager »Richthofen«
Eine Frau aus Schitomir bekam Ende 1943 im Lager ein Kind; dem Standesamt gemeldet wurde dies von einer im Lager lebenden Hebamme. -- Daimlerstr. 111, Ostarbeiterlager der Firma Fritz Werner AG
-- Gottlieb-Dunkel- Str. 50/52, Gemeinschaftslager der Fa. Krupp- Druckenmüller GmbH
-- Kurfürstenstr. 54, Ostarbeiterlager der Deutschen Reichsbahn
-- Lichtenrade, Marienfelder Str. 5, Gemeinschaftslager der Deutschen Reichsbahn
-- Oberlandstr. 36/40, Ostarbeiterlager der Fa. Elektrolux
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-- Mariendorf, Ringstr., Lager I der Askania- Werke
1944 und 1945 wurden in diesem Lager 20 Kinder geboren, alle von »Ostarbeiterinnen«, meist lebten beide Eltern im Lager, mindestens 3 Ehepaare hatten 1943 im Lager geheiratet. -- Mariendorf, Rathausstr. 33, Lager III der Askania- Werke
-- Ringbahnstr. 32/34, Lager der Firma Paul Linke
-- Säntisstr., Ecke Königsgraben, Lager D 4 Ost der Firma Daimler Benz
-- Rennbahnstr., Lager D 4 Süd der Firma Daimler Benz (andere Schreibweisen: An der Rennbahn, Lager D 4 Süd oder nur Lager D 4 Süd Daimler Benz)
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-- Lichtenrade, Steinstr. 4, Gemeinschaftslager der Reichspostdirektion
-- Mariendorf, Str. 78, Gemeinschaftslager der Firma Stock & Co.
-- Mariendorf, Chausseestr. 32, Lager der Fa. Stock & Co.
-- Lichtenrade, Hilbertstr., Reichsbahnlager
-- Marienfelde, Wilhelm- von-Siemens- Str. 50, Lager S.A. VII/1 der Firma Siemens Apparate und Maschinen GmbH
-- Fritz-Werner- Str., Gemeinschaftslager
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-- Zastrowstr. 163, Gemeinschaftslager der Fa. Ormig AG
Im Juni 1943 bekam ein ukrainisches Ehepaar im Lager ein Kind -- Marienfelde, Lichterfelder Ring, O.T. Baracke, Gärtnerei Hempel
Da die Einsichtnahme in die Tempelhofer Bücher lediglich einen Vergleich zu andernorts gewonnenen Ergebnissen bringen sollte, war sie entsprechend knapp. (Die Sammelakten sind noch nicht ausgewertet.) Doch erbrachte bereits der erste Blick in die Geburtenbücher des Standesamtes sehr umfangreiche Informationen über die Geschichte der Zwangsarbeit in Tempelhof und über das Lagersystem innerhalb des Bezirks. Auch in anderen Unterlagen der Bezirke - so ist zu vermuten - dürfte sich umfangreiches Material finden, welches einerseits dazu hilft, die Geschichte der Zwangsarbeit zu erforschen, und welches andererseits möglicherweise noch unmittelbar den Überlebenden zu Gute kommen und zu ihrem Recht verhelfen kann. Bildquellen: Heimatmuseum Neukölln |
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2001
www.berlinische-monatsschrift.de