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Gerhard Keiderling
Schlussakt in der Rheinsteinstraße

Die Wehrmacht kapituliert vor den Alliierten

Am 1. Mai 1945, um 21.25 Uhr, meldete der Sender Hamburg:
     »Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.«1)
     Das »Großdeutsche Reich« trat mit einer letzten Lüge von der Bühne der Geschichte ab. Hitler (1889-1945), ein blutbesudelter Diktator, hatte schon am Nachmittag des 30. April im Bunker unter der Reichskanzlei seinem Leben durch Gift ein Ende gesetzt.
     In Berlin selbst konnten nur wenige diese Meldung hören. Im Regierungsviertel und auf Ausfallstraßen nach Westen tobten die letzten Kämpfe. Die Stromversorgung war ausgefallen, und in den von der Sowjetarmee eroberten Stadtgebieten lieferten die Berliner befehlsgemäß ihre »Goebbelsschnauzen« als Kriegsbeute ab.
     Sowjetische Lautsprecherwagen verkündeten am 2. Mai nachmittags überall in der Stadt die Kapitulation der in Berlin kämpfenden deutschen Truppen.

In die Freude über das Ende des Krieges mischten sich Furcht und Entsetzen. Der Siegestaumel der Rotarmisten brachten vielen Berlinern schreckliche Erlebnisse. Hinzu traten die Nöte des Überlebens. Dennoch obsiegte das Gefühl, die Schrecken des Krieges seien endlich vorbei.
     Generaloberst N. E. Bersarin (1904-1945), gerade als Stadtkommandant eingesetzt, teilte durch Plakatanschläge mit, dass unverzüglich mit Aufräumungsarbeiten und der Normalisierung des Lebens in der Stadt zu beginnen sei.
     Konstantin Simonow (1915-1979), Frontberichterstatter und später vielgelesener Schriftsteller, hielt seine Eindrücke fest:
     »Der 3. Mai. Ein staubiger Sonnentag. Mehrere unserer Armeen, die Berlin eingenommen haben, ziehen aus verschiedenen Richtungen durch die Stadt und wirbeln Staubwolken auf. ... Verwirrt und deprimiert schauen die Einwohner auf den zertrümmerten Straßen, an den Straßenkreuzungen und aus den Häusern auf diese sich bewegenden, ratternden, schier endlosen Züge mit den unwahrscheinlich vielen Menschen. Selbst ich hab' das Gefühl, daß nicht einfach Divisionen und Korps in Berlin einziehen, sondern daß ganz Russland die Stadt in allen Richtungen durchzieht. Und diesen Zügen entgegen, alle Wege verstopfend, schleppen sich nicht enden wollende Kolonnen Kriegsgefangener.«2)
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Berlin hatte kapituliert!
     An anderen Fronten, besonders im Osten, gingen die Kämpfe mit unverminderter Härte weiter. Hitlers Nachfolger, Großadmiral Karl Dönitz (1891-1980), gab am 2. Mai einen »Tagesbefehl an die deutsche Wehrmacht« über den Sender Flensburg heraus:
     »Deutsche Wehrmacht! Meine Kameraden! [...] Ich übernehme den Oberbefehl über alle Teile der deutschen Wehrmacht mit dem Willen, den Kampf gegen den Bolschewismus so lange fortzusetzen, bis die kämpfenden Truppen und die Tausenden Familien des deutschen Ostraumes vor der Vernichtung und Versklavung gerettet sind. Mit den Engländern und Amerikanern muss ich den Kampf so weit und so lange fortsetzen, wie sie mich in der Durchführung des Kampfes gegen die Bolschewisten hindern. ... Ich verlange Disziplin und Gehorsam.«3)
     Die Niederlage war nicht länger aufzuhalten. In Eile bereitete die Dönitz- Regierung Teilkapitulationen im Westen vor.

Das Titelblatt des US- Nachrichtenmagazins »Time« Nr. 20/1945 vom 14. Mai 1945
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Am 3. Mai um 11.30 Uhr traf Generaladmiral Hans v. Friedeburg (1895-1945) im Hauptquartier des Oberbefehlshabers der britischen 21. Armeegruppe, Feldmarschall Sir Bernhard L. Montgomery (1887-1976), in der Lüneburger Heide ein. Montgomery fragte eisig. »Was wollen Sie?« Friedeburg verlas einen Brief von Generalfeldmarschall Keitel, in dem dieser die Übergabe dreier deutscher Armeen anbot, die sich zwischen Berlin und Rostock vor den Russen zurückzögen. Nach einigem Hin und Her willigte Montgomery ein, sofern die deutschen Truppen in seinem Frontbereich kapitulierten. Am 4. Mai um 18.30 Uhr wurde die Urkunde im britischen Hauptquartier in der Lüneburger Heide signiert. Unter Birken stand ein Armeezelt, darin auf Böcken eine Tischplatte mit Tintenfass und Federhalter sowie zwei Mikrofone von BBC London. Das Zelt war an zwei Seiten aufgerollt, damit anwesende Soldaten, Kriegsberichterstatter und Fotografen den Akt beobachten konnten. Stehend unterschrieb Generaladmiral v. Friedeburg, sitzend Feldmarschall Montgomery. Am 5. Mai, 8.00 Uhr deutscher Sommerzeit, trat die Waffenruhe gegenüber den britischen Armeen in Nordwestdeutschland und Dänemark ein.
     Zur gleichen Zeit nahm die Dönitz- Regierung Kontakte zu den US- Armeen auf, die in Nord- und Mitteldeutschland operierten.
Am 6. Mai landete Generaloberst Alfred Jodl (1890-1946) mit einem Flugzeug in Reims, wo General Dwight D. Eisenhower (1890-1969), zugleich Oberbefehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Europa, residierte. Jodl erreichte, dass die Einstellung der Feindseligkeiten erst zum 9. Mai ein Uhr Sommerzeit erfolgen sollte. Es verblieb somit Zeit, große Teile der Wehrmacht in Mittel- und Süddeutschland vor sowjetischer Gefangennahme hinter die westallierten Linien zu bringen. Die Unterzeichnung der Urkunde fand am 7. Mai in Reims statt. Der Vertreter des sowjetischen Oberkommandos beim Alliierten Expeditionskorps, Generalmajor I. Susloparow. und der Vertreter der französischen Streitkräfte, Generalmajor François Sevez, unterschrieben gleichfalls. Über die politische Tragweite dieser Handlung war sich General Eisenhower im Klaren. Er nahm am Akt nicht teil, sondern ließ sich durch seinen Stellvertreter, Generalleutnant Walter Bedell Smith (1895-1961), vertreten.
     Am späten Nachmittag des 7. Mai ging in Moskau ein Telefonat aus Washington ein. Präsident Harry S. Truman (1884-1972) bat Marschall J. W. Stalin (1879-1953), bis zum Mittag des nächsten Tages die Kapitulation Deutschlands bekanntzugeben. Am späten Abend kamen die Spitzen des Generalstabs und der Sowjetregierung in den Kreml.
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Stalin ging in seinem Arbeitszimmer langsam auf und ab und analysierte, vor sich hinsprechend, die Lage. Alles sei darauf angelegt, als erfolge vor der Sowjetunion keine Kapitulation. Stalin fuhr fort: »Das Abkommen in Reims kann man weder ungeschehen machen noch anerkennen.
     Als überragendes historisches Ereignis darf die Kapitulation aber nicht auf dem Territorium der Sieger erfolgen, sondern muss dort, von wo die faschistische Aggression ausging, in Berlin, entgegengenommen werden, und zwar nicht einseitig, sondern von den Oberkommandos aller Länder der Antihitlerkoalition.«4) Noch in der Nacht wurden Washington und London unterrichtet. In Anbetracht der Waffenerfolge der Sowjetarmee machten die Alliierten keine Einwände.
     Am Morgen des 8. Mai landete auf dem Flughafen Tempelhof eine Maschine aus Moskau mit dem stellvertretenden Außenminister A. J. Wyschinski (1883-1954) und anderen Regierungsvertretern. Kurz darauf kam eine »Douglas«. Ihr entstieg, mit militärischen Ehren empfangen, die Delegation des alliierten Kommandos. Eisenhower und Montgomery hatten Stellvertreter geschickt, um die Bedeutung des Aktes herunterzuspielen. Unterdessen landete abseits noch eine »Douglas«. Die Briten brachten aus Flensburg die deutsche Delegation, die - von den Korrespondenten kaum zur Kenntnis genommen - gleich zu einem Auto geführt wurde.
Wenig später setzte sich eine lange Wagenkolonne in Bewegung. Durch aufgeräumte Straßen, von einem gespenstischen Ruinenwald gesäumt, ging es durch die noch menschenleere Stadt hinaus nach Karlshorst. Unter einem Triumphbogen mit der Aufschrift »Ruhm der Roten Armee!« hindurch fuhr man am Kasino der Heerespionierschule an der Rheinsteinstraße vor. Jetzt war hier der Sitz des sowjetischen Oberkommandos. Marschall G. K. Shukow (1896-1974) empfing die Alliierten. Die Beratungen zur Abfassung der Kapitulationsurkunde nahmen den ganzen Tag in Anspruch. Inzwischen trafen weitere Journalisten und Fotoreporter ein.
     Punkt 24.00 Uhr (nach Moskauer Zeit - d. i. 23.00 Uhr Mitteleuropäische Sommerzeit) betrat Shukow mit den Alliierten den Saal und führte sie zum langen Präsidiumstisch, wo die Fahnen der vier Siegermächte hingen. Senkrecht dazu standen zwei Tische; hier saßen schon die sowjetischen und alliierten Generale und Offiziere, die dem Akt beiwohnten, und die Presseleute. Shukow eröffnete die Sitzung. Dann wurden die Deutschen, die den ganzen Tag in einem Nebengebäude gewartet hatten, hereingerufen. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel (1882-1946) hob theatralisch seinen Marschallstab, überreichte eine von Dönitz unterzeichnete Bevollmächtigung und nahm mit seiner Begleitung an einem kleinen abseits stehenden Tisch Platz.
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Die Prozedur der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde begann. Sie dauerte ziemlich lange, denn es mussten fünf Dokumente unterzeichnet werden. Als erster unterschrieb Marschall Shukow für das Oberkommando der Sowjetarmee, der britische Luftmarschall Sir Arthur Tedder (1890-1969) für die alliierten Expeditionsstreitkräfte in Europa sowie als Zeugen der französische General Jean de Lattre-Tassigny (1889-1952) und der US- General Carl Spaatz (1891-1974). Schließlich mussten Generalfeldmarschall Keitel, Generaladmiral v. Friedeburg und Generaloberst Stumpff (1889-1969) an die Schmalseite des Präsidiumstisches herantreten und für das Oberkommando der Wehrmacht unterschreiben. Marschall Shukow beschloss diesen Tag mit den Worten: » Die deutsche Delegation kann gehen.« Es war nach der am 28. April vom Stadtkommandanten Bersarin in Berlin eingeführten Moskauer Zeit 0.43 Uhr am 9. Mai 1945. Deutschland hatte bedingungslos kapituliert.
     »Die ganze Spannung, die sich im Saal gespeichert hat«, so erinnerte sich Simonow später, »entlädt sich plötzlich. Es ist, als hätten alle lange Zeit die Luft angehalten und atmeten jetzt zu gleicher Zeit aus. Ein allgemeiner leichter Seufzer der Erleichterung. Die Kapitulation ist unterzeichnet. Der Krieg ist zu Ende!«5)
     Der 9. Mai 1945 ist seitdem »Victory- Day«. In Berlin- Karlshorst war ein Schlusspunkt unter die NS- Diktatur und den von ihr angezettelten Weltkrieg gesetzt worden.
Ein neuer Anfang, wenn auch unter schwierigen Bedingungen, konnte gemacht werden.

Anmerkungen
1 Walter Lüdde-Neurath: Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, Göttingen 1950, S. 127
2 Konstantin Simonow: Kriegstagebuch 1941-1945, Berlin (Ost) 1965, S. 114
3 Lüdde-Neurath, Regierung Dönitz, S. 138
4 S. M. Schtemenko: Im Generalstab, Bd. 2, Berlin (Ost) 1973, S. 493
5 Simonow: Kriegstagebuch, S. 122 f.

Bildquelle: Archiv Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/2000
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