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Gerhard Keiderling
Wilhelm Pieck - erster Ehrenbürger nach 1945

Der Magistrat der Stadt Berlin beschloss auf seiner Sitzung vom 30. Dezember 1945, Wilhelm Pieck, den Vorsitzenden der KPD, aus Anlass seines 70. Geburtstages am 3. Januar 1946 zum Ehrenbürger der Stadt Berlin zu ernennen. Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner begründete dies mit den Worten: »Herr Pieck ist einer der bedeutendsten und beliebtesten Führer der deutschen und besonders der Berliner Arbeiterbewegung. ... Wilhelm Pieck steht heute mit jugendlichem Eifer wegweisend an der Spitze des Aufbaues eines neuen Deutschlands. Seine Verdienste um die Befreiung und den Wiederaufbau Berlins sollen ihren Ausdruck finden durch seine Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Berlin.« 1)
     Das Kollegium des Magistrats fasste den Beschluss einstimmig und ohne Diskussion. Lediglich die Frage, wie die Urkunde aussehen solle und welche Privilegien damit verbunden seien, wurde kurz angesprochen.
     Über die Vorgeschichte teilen die Archivalien nichts mit. Man darf davon ausgehen, dass die kommunistischen Stadträte

(so war Sohn Arthur Pieck Stadtrat für Personalfragen und Verwaltung) die Sache kurzfristig anschoben. Am 20./21. Dezember 1945 hatten in Berlin je dreißig Spitzenfunktionäre von KPD und SPD auf der so genannten 60er- Konferenz den organisatorischen Zusammenschluss ihrer Parteien beschlossen. Sofort startete die KPD- Führung eine Kampagne, in die sie die Vorbereitung des 70. Geburtstages ihres Parteivorsitzenden unter dem Motto »Schmied der Einheit« einband.
     Von der Sache her war eine Nominierung des Jubilars für eine hohe kommunale Ehrung durchaus gerechtfertigt. Wilhelm Piecks Leben und Schaffen war eng mit Berlin verbunden gewesen. Geboren 1876 als Sohn eines Kutschers und einer Wäscherin in Guben, begann er eine Tischlerlehre. Während seiner Wanderschaft urch Deutschland trat er 1894 dem Deutschen Holzarbeiter- Verband und 1985 der Sozialdemokratischen Partei bei. Bald schon wurde er hauptamtlicher Gewerkschafts- und arteifunktionär. Nach Berlin kam er erstmals 1907/08 als Kursant der Reichsparteischule der SPD in der Lindenstraße 3, wo er Vorlesungen von Rosa Luxemburg und Franz Mehring hörte. Der SPD- Vorstand berief ihn im April 1910 als 2. Sekretär des Zentralen Bildungsausschusses der Partei nach Berlin. Pieck siedelte mit seiner Familie von Bremen an die Spree über; zunächst wohnte er in der Hardenbergstraße Nr. 2 und von 1914 bis 1933 in der Schadenrute 2 in Steglitz.
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In den damaligen Richtungskämpfen um Programmatik und Politik der SPD bezog Pieck eine linke Position und war Mitbegründer der Gruppe »Internationale« (Spartakusgruppe), die sich am 1. Januar 1916 im Rechtsanwaltbüro von Karl Liebknecht in der Chausseestraße 121 konstituierte. Gemeinsam mit Karl Liebknecht und Ernst Meyer vertrat er ab Oktober 1918 die Spartakusgruppe im Vollzugsausschuss der revolutionären Obleute in Berlin und war somit maßgeblich an der Vorbereitung der Novemberrevolution in der Reichshauptstadt beteiligt. Auf dem Gründungsparteitag der KPD vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919 im Preußischen Abgeordnetenhaus (heute Abgeordnetenhaus von Berlin) wurde er in die Parteizentrale (später Zentralkomitee) gewählt, der er ununterbrochen bis zur Gründung der SED im April 1946 angehörte.
     Am 15. Januar 1919 wurde Wilhelm Pieck zusammen mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in deren illegalem Quartier in der Wilmersdorfer Mannheimer Str. 43 verhaftet und in das von der Garde- Kavallerieschützen- Division besetzte Eden-Hotel, Budapester Straße, verschleppt. Durch einen glücklichen Umstand gelang ihm die Flucht.

Die Ehrenbürgerurkunde für Wilhelm Pieck vom 3. Januar 1946
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Es folgte Monaten der Illegalität in Berlin. Nach einer Verhaftung im Juli 1919 konnte er im November 1919 erneut fliehen.
     In der Weimarer Republik war Wilhelm Pieck von 1921 bis 1928 und noch einmal von April 1932 bis März 1933 Mitglied des Preußischen Landtags. Als ein Vertreter der Bezirke Steglitz, Tempelhof und Zehlendorf gehörte er vom 17. November 1929 bis 12. Januar 1933 der Berliner Stadtverordnetenversammlung an. In der Arbeiterschaft war er als Organisator von Massenaktionen und als Redner auf Großkundgebungen im Lustgarten, im Sportpalast, in den Pharus- Sälen in Wedding, im Saalbau Friedrichshain, in den Sophiensälen, in der »Neuen Welt« in der Hasenheide und in anderen Versammlungslokalen bekannt. Von 1926 bis 1929 leitete er den mitgliederstärksten KPD- Bezirk Berlin- Brandenburg- Lausitz- Grenzmark.
     Als nach 1925 im Auftrage Stalins die »Bolschewisierung« der KPD vorangetrieben wurde, verfocht Pieck an der Seite des Parteivorsitzenden Ernst Thälmann konsequent die Moskauer Linie. Während der Emigration in der Sowjetunion - im Mai 1933 verließ er Hitler- Deutschland - agierte Pieck, inzwischen mit dem Vorsitz der KPD anstelle des im März 1933 von Gestapo verhafteten Thälmann betraut - als »internationalistischer Kader«, für den die Loyalität gegenüber der KPdSU oberste Priorität hatte. Als 1936 auf Geheiß Stalins die »Säuberungen« begannen, schloss die Moskauer Exilführung der KPD über 400 Mitglieder im sowjetischen Exil als »Volksfeinde« aus.
Sie waren zuvor schon vom NKWD verhaftet, in Arbeitslager verschleppt oder hingerichtet worden. Piecks Bemühungen, in Einzelfällen unschuldige Genossen zu retten, blieben wegen ihrer Zaghaftigkeit meist erfolglos. Ab 1944 bereitete er die Moskauer Kader auf den politischen Einsatz an der Seite der Sowjetarmee im befreiten Deutschland vor.
     Am 1. Juli 1945 kehrte Wilhelm Pieck im Flugzeug aus Moskau nach Berlin zurück. Auf der ersten Großkundgebung der KPD nach dem Kriege am 19. Juli 1945 in der »Neuen Welt«, Hasenheide, in Neukölln sprach er zum Thema »Der Weg zum Wiederaufbau«. Hier begegnete er erstmals Otto Grotewohl, Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD. Sein Eintreten für eine Einheitsfront der Antifaschisten und Demokraten fand breite Zustimmung. Viele Sozialdemokraten sahen in ihm einen Garanten für einen gleichberechtigten Zusammenschluss beider Arbeiterparteien und für einen »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus«. Seine verbindliche Art im »Block« der vier Parteien wurde auch von bürgerlichen Politikern geschätzt.
     Am Vormittag des 3. Januar 1946 hatte sich vor dem Gebäude der ZK der KPD, Wallstr. 76-79, eine große Menschenmenge versammelt, um dem Jubilar zu huldigen. Die »Deutsche Volkszeitung«, das Zentralorgan der KPD, erschien an diesem Tag in großer Aufmachung über Leben und Werk des Parteivorsitzenden. Das Zentralkomitee verlieh ihm in einem schwülstigen Glückwunschschreiben den Ehrentitel: »Ein Sohn des Volkes«.
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Am Nachmittag fand in der Deutschen Staatsoper (Admiralspalast) am Bahnhof Friedrichstraße eine vierstündige Festveranstaltung statt. An den offiziellen Teil der Ehrungen schloss sich ein künstlerisches Programm an.
     Den Verlauf der Feierlichkeiten schilderte Dr. Wilhelm Külz, Vorsitzender der LDP in der Ostzone, in seinem Tagebuch:
     »Der 70. Geburtstag des Kommunistenführers Pieck wurde zum Anlass einer großangelegten kommunistischen Werbeveranstaltung gemacht. Im Admiralspalast, der jetzigen Unterkunftsstätte der Staatsoper, fand am frühen Nachmittag des Geburtstages selbst eine festliche Kundgebung statt, zu der alles, was in Berlin irgendetwas ist oder zu sein glaubt, eingeladen war. Vor allem waren auch sämtliche Besatzungsmächte mit ihren Propagandaoffizieren vertreten. Von den Sowjets war der Kommandant von Berlin Smirnow persönlich erschienen. Die Parteiführer waren ebenfalls sämtlich anwesend. Über den Berliner Rahmen hinaus waren auch alle Präsidenten der Verwaltungen in der Sowjetzone angetreten. Der äußere Rahmen der Kundgebung war stilvoll. Orchestervorträge umrahmten den mit Ansprachen ausgefüllten ersten Teil der Veranstaltungen, während ein zweiter Teil rein künstlerisch gehalten war.
Die Hauptansprache auf den Jubilar hielt der Kommunistenführer Ulbricht. Er sprach nicht unglücklich. Von den Begrüßenden sprach Grotewohl von der SPD, dann kam Külz von der LDPD und schließlich Kaiser vom Zentrum.2) Es folgten dann noch der Landespräsident von Sachsen und einige kommunistische Vertreter aus der Provinz. Der Höhepunkt der Kundgebung bestand darin, daß Oberbürgermeister Dr. Werner dem Jubilar den Ehrenbürgerbrief für Berlin überreichte, also den ersten, den die neue Stadt Berlin einer Persönlichkeit widmet. Pieck selbst antwortete in schlichter und wohltuend berührender Weise auf die Huldigungen, wobei er seine Person dabei stark in den Hintergrund treten ließ. ...
     Abends 8 Uhr fand dann im Schloss zu Niederschönhausen3) ein großes Festessen zu etwa 300 Gedecken statt, und zwar an kleinen Tischen, lediglich für das sogenannte Präsidium von 12 Personen war eine geschlossene Tafel gedeckt. ...
     Das Festessen wurde eingeleitet durch ein ungeheures Brillantfeuerwerk, was unter großem Getöse und Gekrache die Sowjets für ihren Freund Pieck in Szene setzten. Ich habe selten ein so wirkungsvolles Feuerwerk mit Schlachtendonner und Kanonenblitzen gesehen wie dieses.
     Das Essen selbst war erfreulicherweise im einfachsten Stil gehalten.
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Es gab eine Suppe und einen Gang und damit Schluss und einen einfachen Wein. Für mich bot der Abend willkommene Gelegenheit, einige persönliche Bekanntschaften zu machen, die mir noch fehlten. ...
     Die Presse nahm in großer Aufmachung vom Geburtstag und von den festlichen Feiern Notiz. Ich habe im >Morgen<4) absichtlich nur in bescheidenem Umfange von der Sache gesprochen.«5)
     Im weiteren Verlauf der Zwangsvereinigung wie auch der Entwicklung in der SBZ zeigte sich, dass Wilhelm Pieck voll hinter dem Kurs der Stalinisierung stand. Er büßte daher viel an dem Respekt und an den Erwartungen, die ihm nicht nur die Sozialdemokraten anfangs entgegengebracht hatten, ein. Am 11. Oktober 1949 wurde Pieck von der Provisorischen Volkskammer der DDR zum Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustandes nahm er bald nur noch protokollarische Anlässe wahr. Die Führung von Partei und Staat geriet immer mehr in die Hände Walter Ulbrichts. Am 7. September 1960 verstarb Wilhelm Pieck nach langer Krankheit in seinem Wohnhaus in Berlin- Niederschönhausen, Majakowskiring 29. Die Urne mit den sterblichen Überresten wurde in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin- Friedrichsfelde beigesetzt.
     Am 16. Dezember 1948 beschloss die Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin, die seit September 1948 in West-Berlin tagte, auf Antrag der SPD- und LDP- Fraktion die Streichung Wilhelm Piecks aus der Liste der Ehrenbürger, übrigens in einem Zuge mit Adolf Hitler, Hermann Göring, Joseph Goebbels und Wilhelm Frick.
In Ost-Berlin führte Wilhelm Pieck die dortige Ehrenbürgerliste weiterhin an. Nach der Wiederherstellung der Einheit Berlins wurde er in die neue Ehrenbürgerliste, die Senat und Abgeordnetenhaus im Herbst 1992 beschlossen, nicht aufgenommen.

Anmerkungen
1 Zitiert in: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945 (46, T. I 1945, Berlin 1995, S. 752
2 Mit »Zentrum« war die am 26. Juni 1945 in Berlin gegründete CDU gemeint
3 Schloss Niederschönhausen war von 1949 bis 1990 Amtssitz des Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, und bis 1989 Gästehaus der Regierung der DDR
4 »Der Morgen« war das Parteiorgan der LDPD
5 Archiv des Deutschen Liberalismus in der Friedrich-Naumann- Stiftung, Gummersbach, Dr. Külz, Tagebuch, Eintrag zum 3. 1. 1946

Bildquelle: Repro LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 12/2000
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