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Dietrich Nummert
Buddha oder Der volle Ernst Der Kriminalist Ernst Gennat (1880-1939) Wie Kommissar Gennat hinter seinem Rücken - freundlich oder hämisch - genannt wurde, hat ihn zeitlebens wenig geschert. Da die Spitznamen fast ausschließlich seine Körperfülle ironisierten, überhörte er es, wenn von ihm als der Dicke, Buddha oder der volle Ernst die Rede war. Er machte seine Arbeit, tat sie während dreier Regimes mehr als dreißig Jahre lang als einer der begabtesten und erfolgreichsten Kriminalisten Berlins, ja Deutschlands.
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Ernst Gennat, gezeichnet von Wolf Beil nach einer Karikatur aus den zwanziger Jahren |
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Nach der Volksschule lernte Ernst am Königlichen Luisen- Gymnasium in der Turmstraße 87, wo Herr Georg Kern als Direktor wirkte. Wir kennen auch die Namen seiner Lehrer - wie er sich fühlte, welches Fach ihm Spaß machte und welches ihm zuwider war, ahnen wir nicht. Andererseits ist überliefert, dass von den 697 Schülern 604 evangelischen, 23 katholischen und 68 jüdischen Glaubens waren, zwei zählten zu den »Diss.« (Dissidenten), standen also außerhalb einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Mit wem Ernst befreundet war - auch diese Frage bleibt offen wie viele andere.
Am 13. September 1898 schwitzte er in den Abiturprüfungen unter Aufsicht des Provinzschulrats Dr. Pilger. Bei Fremdsprachen standen Latein (u. a. Ciceros Philippische Reden), Griechisch (neben Homer Sophokles' Antigone), des weiteren Französisch, Englisch und Hebräisch, Mathematik und Physik sowie der Anforderungen stellende Aufsatz auf dem Programm. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, was Gennat nach erfolgreich bestandener Reifeprüfung bis zur Immatrikulation am 18. Oktober 1901 tat, während eines Zeitraumes von immerhin drei Jahren. Begründet ist die Annahme, er habe in der kaiserlichen Armee gedient. Ihm als Preußen war die Wehrpflicht gewiss selbstverständlich, zum anderen hatte er in die Universitäts- Matrikel unter Nummer 37, Rubrik »Künftiger Beruf«, bündig vermerkt: Militär. |
An der Berliner Friedrich-Wilhelms- Universität studierte Gennat acht Semester Jura . Am 12. Juli 1905 ließ er sich aus der Matrikel streichen - vor dem Semesterende am 15. August. Der Angestellte, der die Prozedur vornahm, vermerkte in der Spalte für den Grund der Beendigung des Studiums: »wg. Unfl.« In Langschrift hieß das »wegen Unfleiß«. Diese Formel besagte jedoch keineswegs, Gennat sei faul gewesen, sondern lediglich, dass er ohne Abschlusszeugnis die Universität verließ.
Welchen Grund hatte er, vorzeitig das Studium zu beenden? Obwohl kein Beleg dafür vorliegt, können wir ein Angebot der Kriminalpolizei voraussetzen. Regina Stürikow, Verfasserin der lesenswerten Gennat- Biografie »Der Kommissar vom Alexanderplatz«, schrieb, er sei »1904 in den Polizeidienst eingetreten. Am 30. Mai 1905 legte der Kriminalanwärter seine Prüfung zum Kommissar ab, wurde zwei Tage später zum Hilfskommissar ernannt und am 1. August zum Kriminalkommissar.« Gleiche Angaben machen Wirth und Strauch, Autoren eines gründlichen Aufsatzes in der Zeitschrift Kriminalistik (8/1999). Das gibt Rätsel auf. Trat Gennat 1904 als Noch- Student in den Polizeidienst? Das Gebäude des Berliner Polizeipräsidiums beherbergte eine Armee uniformierter und ziviler Beamter. In dem Klinkerbau, den Döblin »das finstere rote Polizeipräsidium« nannte, begann Ernst Gennat seine Laufbahn als Spezialist bei der Aufklärung von Kapitalverbrechen - |
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Kommissar, Kriminalrat, Regierungsrat, Leiter Kriminalgruppe M, Ständiger Vertreter des Leiters der Berliner Kriminalpolizei.
Sein Metier lernte er unter anderem bei Hans von Tresckow, der als geistreich, erfahren und erfolgreich galt. Dessen Erinnerungen »Von Fürsten und anderen Sterblichen« erschienen 1922 als Buch. Gennat lernte zu einer Zeit, als das Kaiserreich in Blüte stand. Jubelfeiern und Paraden lösten einander ab. Wilhelm II. schoss in der Schorfheide seinen 1 000. Hirsch, hielt blumige Reden oder brütete über der Idee von der Zukunft Deutschlands auf dem Wasser. Eine Zeit, in der auch folgende Bekanntmachung erscheint. Es wird das »Recht auf die Straße« verkündet: Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.
Verbrecher aller Kaliber hielten die Berliner Kripo in Atem. Pfingsten 1912 etwa, als der Sexualmord an dem Botenjungen Otto Klähn (12) zu hitzigen Debatten Anlass bot. Ernst Gennat klärte den Fall.
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Wenig später löste er den Fall um den gewaltsamen Tod von Martha Franzke (33). Hierbei zeigte sich eine Seite seiner Persönlichkeit deutlich. Boulevardblätter hatten anhand einigen Beweismaterials eine junge Frau als Mörderin ausgemacht, die Öffentlichkeit wollte sie nun hängen sehen. Gennat aber erkannte Widersprüche und ermittelte so lange gründlich weiter, bis er beweisen konnte, wer die wirklichen Mörderinnen waren.
Der Erste Weltkrieg forderte auch im Lande immer mehr Opfer, die Not wuchs. Und da Betrüger sich immer und überall jeder Situation anpassen, fanden sie auch damals in Berlin ihr Feld - Wilhelm Blume (44) etwa. Er plante, die Gelder eines Geldbriefträgers zu »kassieren. Im September 1918 schnitt er Marie Rühle (67) die Kehle durch, ebenso verfuhr er mit dem Geldbriefträger Albert Weber (51). Die Ermittlungen der Kommissare Gennat und Thiele zogen sich hin. Das muss schon seltsam gewesen sein in jenem November 1918 - die Revolution hatte Berlin erreicht, durch die Straßen zogen Soldaten, Matrosen, Arbeiter, rote Armbinden, Schleifchen an den Mützen. Der Aufruhr drang in die geheiligten Räume von Behörden, am 4. Januar 1919 sogar in das Polizeipräsidium. Und in den Räumen der Kripo ging man, vielleicht nicht wie eh und je, aber doch seiner Arbeit nach. Gennat und die Männer um ihn verfolgten immer noch Spuren, die zu dem Mörder und anderen Tätern führen könnten. |
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Indessen plante Blume einen neuen Coup, der sollte im Nobelhotel Adlon steigen. Diesmal hieß der Geldbriefträger Oskar Lange (58). Auch er wehrte sich, als er aufgefordert wurde: »Gib das Geld her!«, auch ihn brachte Blume kaltblütig um. Bei diesem Mord hatte Gennat den jungen Kriminalanwärter Otto Trettin an seiner Seite. Und erneut blieb der Täter verschwunden.
Gennat unterzog Misserfolge längst einer genauen Analyse, formulierte bündige Lehren. Eine, die bis heute gilt, lautete: Am Tatort wird nicht angeordnet, sondern bereits Angeordnetes ausgeführt. Als Konsequenz wurden exakte Richtlinien ausgearbeitet, wer am Tatort was und in welcher Abfolge zu tun hat. Der Menschenkenner und »geniale Beobachter« Gennat hatte auch bemerkt, dass »jedem Täter eine verhängnisvolle Zufälligkeit wie ein treuer Hund nachlaufe«. Diese Erfahrung ließ ihn nun keineswegs auf »Kommissar Zufall« warten, der irgendwann jeden Verbrecher in die Arme der Polizei treibe, wohl aber war sie Anlass, mit diesem treuen Burschen Bündnisse zu schließen. Bei Blume allerdings half tatsächlich erst der Zufall. 1922 wollte er in Dresden erneut einen Geldbriefträger überfallen. Einwohner fanden Blume verdächtig, riefen die Polizei, ein Wachtmeister kam, um seine Papiere zu überprüfen. Blume, in Panik, schoss. |
Die Maschinerie der Kripo kam auf Touren. Man stieß auf die in Berlin verübten Morde. Gennat, Kriminalrat Rudolf Tegtmeyer (1879-1932) und der damalige Empfangschef des Adlon reisten nach Sachsen - und die lange andauernde Ermittlung konnte erfolgreich beendet werden.
Es ließen sich zahlreiche weitere unter Leitung von Ernst Gennat aufgeklärte Morde beschreiben. Vornehmlich während der so genannten Goldenen Zwanziger, die, bei genauerem Hinsehen, viel Schwarz trugen, hatte Ernst Gennat seine große Zeit. Als er 1925, nach zwanzigjährigem Dienst, endlich zum Kriminalrat befördert wurde, konnte er seine eigene Inspektion organisieren, am 1. Januar 1926 nahm die »Inspektion M« ihre Arbeit auf. Warum eigentlich zog sich seine Beförderung so lange hin? Mitarbeiter meinten, er sei »demokratisch bis auf die Knochen,« was seinerzeit in manchen Behörden noch befremdlich wirkte. Er ließ jeglichen Ehrgeiz vermissen, was ebenfalls auffiel in einem Amt, wo Karriereleitern zu den beliebtesten Sportgeräten gehörten. Er vertrat die - in Polizeikreisen - seltene Auffassung, dass »seine« Verbrecher schließlich auch bloß Menschen seien. Er lehnte Mitarbeit zur Aufklärung politischer Straftaten für sich und seine Leute ab. Schließlich sprach er offen über skandalöse Zustände, was bestimmte Kreise nicht nur mit Naserümpfen quittierten. |
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Beispielsweise nannte er den laxen Umgang mit dem Massenmörder Großmann, der immer wieder freigelassen wurde und weiter morden konnte, »behördliche Beihilfe zum Mord«.
Nun verwirklichte er den Grundgedanken, dass jegliche Organisation kriminalpolizeilicher Arbeit mit den sich ständig verändernden Anforderungen in Einklang gebracht werden muss. Die Mordkommissionen (eine ständig aktive und zwei Reservekommissionen) erhielten eine der Praxis besser angepasste Struktur. Die Tätigkeiten am Tatort folgten in sieben Schritten einem bis ins Letzte durchdachten Plan. Das »Mordauto« wurde eingerichtet, ein Fahrzeug, in dem alle Werkzeuge und Materialien untergebracht waren, die am Tatort benötigt wurden. Integraler Bestandteil der Inspektion wurde das Leichenschauhaus, die Vermisstenzentrale, die so genannte Todesermittlungskartei, die bei der Aufklärung von Kapitalverbrechen eine stetig wachsende Bedeutung erhielt. Gennat zeigte sich nicht nur in Beurteilung von Tätern als fähiger Psychologe, er legte großen Wert darauf, die richtigen Mitarbeiter in die Inspektion aufzunehmen. Er vertrat die Ansicht, ein Kriminalkommissar müsse für seinen Beruf »nicht nur Eignung, sondern auch Neigung besitzen«. Leute, die gewissermaßen Dienst nach Vorschrift tun, wollte er in seiner Truppe nicht sehen. |
Genauso streng achtete er darauf, dass seine Mitarbeiter »über ein scharf ausgeprägtes Verantwortungsgefühl verfügen und in der Lage (sind), die eigene Arbeit ständig mit kritischem Blick zu überprüfen«.
Auf die Todesermittlungskartei, »Gennats persönliche Schöpfung«, war er mit Recht stolz. In diesem Verzeichnis wurden Todesfälle aus Berlin und Umgebung, aus ganz Deutschland, selbst aus dem Ausland dokumentiert. Entnommen wurden sie Gerichts- und Polizeiakten, Fahndungslisten, Zeitungen und Zeitschriften, amtlichen Veröffentlichungen, Plakaten. Zu den registrierten Todesfällen gehörten neben Kapitalverbrechen auch Selbsttötungen mit Angaben über die Motive. In Gennats Umgebung sprach man hochachtungsvoll von seiner »unbestechlichen Spürnase«, von seiner »geradezu unheimlichen Kenntnis von Mörderpsychologie«, man bewunderte seine außerordentliche Ausdauer, sein phänomenales Gedächtnis. Er konnte längst vergessene Fälle rekapitulieren, daraus Anhaltspunkte entnehmen für die Lösung aktueller Verbrechen. Immer wieder legte er seinen Mitarbeitern nahe, in einem Täter immer auch das Opfer zu begreifen. Er sprach von den »gefährlichen Klippen, die jeder Kriminalist zu umschiffen habe: einerseits eine Tat nicht aufzuklären, andererseits einen Unschuldigen zu beschuldigen«. |
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Polizeipräsidium am Alexanderplatz; Postkarte um 1908 | ||
Und er war sich bewusst: »Unzählige Kapitalverbrechen werden gar nicht erst als solche erkannt.« Er zitierte, was ein Untersuchungsrichter gesagt haben soll: Wenn auf den Gräbern all derer, die eigentlich ermordet worden sind, Lichter brennen würden, dann wären unserer Friedhöfe nachts heller erleuchtet als der Kurfürstendamm.«
Indessen leuchtete in Berlin Gennats Licht. Seine Mordinspektion konnte, wie Stürikow schreibt, im Jahr 1931 »von 114 Tötungsdelikten 108 aufklären« - über 94 Prozent! | Dann kam das Jahr 1933 und mit ihm die faschistische Diktatur. Gennat blieb auf seinem Posten. Erstaunlicherweise blieb die Säuberung im Bereich der Kripo oberflächlich. Aber vielleicht waren sich die neuen Machthaber einfach der Loyalität der Beamten gegenüber jeglichem Staat sicher. Links eingestellte Mitarbeiter hatten natürlich keine Chance, genauso wenig etwa der Vizepräsident der Berliner Polizei Weiß, denn er war Jude. Da nützte ihm gar nichts, dass er während der Weimarer Zeit als Chef der Politischen Polizei auch rechtsstaatlich umstrittene Aktionen angeordnet und geleitet hatte. |
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Ernst Gennat jedenfalls arbeitete weiter. Ermittlungen führte er nur noch von seinem Dienstzimmer aus. Das Gehen fiel ihm schwer, weil er selbst zu schwer wog. Der starke Esser, der unermüdliche Vertilger von Riesenportionen sowohl fetter wie süßer kalorienreicher Nahrung litt. Und blieb doch der Alte. Er kümmerte sich um den Nachwuchs, plante Ermittlungen präzis wie eh und je, verhörte Beschuldigte und Zeugen, fand nach wie vor mit schlafwandlerischer Sicherheit die Fehler bei Ermittlungen, hielt Vorträge und schrieb Aufsätze wie etwa die bekannte Artikelserie »Die Bearbeitung von Mord- (Todesermittlungs)- Sachen«. Bemerkenswert in den schriftlichen Arbeiten ist die Wortwahl, die exakte Beschreibung von Sachverhalten. Erscheint ihm das gewählte Wort als nicht deutlich genug, fügt er ein zweites erklärendes an. Auffällig auch, dass er in allen seinen nach 1933 verfassten Artikeln niemals Begriffe oder Floskeln der neuen Machthaber verwendet, einmal nur benutzt er das Wort »Machtübernahme«. Und so belegt wohl auch Ernst Gennat, dass der Lauf der Geschichte eines Landes nirgendwo immer identisch ist mit dem Lebenslauf eines Einzelnen. |
Der geniale Kriminalist Gennat jedenfalls, dieser nie die Ruhe verlierende, gutmütige, menschenfreundliche, stets schlampig gekleidete Herr, der völlig ohne den Dünkel vieler Polizisten war und den fast alle als eingefleischten Junggesellen charakterisierten, heiratete - völlig überraschend - die Kriminalkommissarin Elfriede Dinger. Da dieses kurz vor seinem Tod geschah, er starb an Darmkrebs, verbreitete sich die Legende, er sei diesen Schritt deshalb gegangen, um der jungen Frau als Erbe die beachtliche Witwenrente zu vermachen. Belegt ist diese Absicht nicht; aber sie würde zu ihm passen.
Bildquelle: Archiv Autor |
© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 10/2000
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