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Bernhard Meyer
26 Jahre auf dem Psychiatrie- Lehrstuhl

Der Arzt Karl Bonhoeffer (1868-1948)

Der Name Bonhoeffer verbindet sich mit dem bekannten deutschen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), dem »international hoch geachteten deutschen Widerstandskämpfer«.1) Sein Vater Karl Bonhoeffer lebte als Psychiater gemeinsam mit seiner Frau Paula (geb. von Hase, 1874-1951) den acht Kindern Tugenden ärztlicher Ethik und humanistischer Einstellung vor. Diese im häuslichen und medizinischen Alltag der Familie Bonhoeffer stets gegenwärtige Achtung vor dem Leben befähigte die Kinder, jenen Prinzipien auch unter kompliziertesten Bedingungen zu folgen und ihr eigenes Leben dafür einzusetzen.

So lange im Amt, wie kein Fachkollege vor ihm

Als Karl Bonhoeffer im 70. Lebensjahr stehend 1938 emeritiert wurde, galt er unter den deutschen Psychiatern und Neurologen als der Nestor. Immerhin verwaltete er 26 Jahre das Ordinariat für Psychiatrie und Neurologie an der Charité, solange wie kein Fachkollege vor ihm.


Karl Bonhoeffer

 
In seinen wissenschaftlichen und in seinen ethischen Intentionen stand Bonhoeffer bewusst in der Nachfolge von Wilhelm Griesinger (1817-1868), der den Berliner Lehrstuhl in den 1860er Jahren in die moderne Medizin geführt hatte.
     Bonhoeffer erhielt den Ruf für das hauptstädtische Ordinariat 1912, nachdem er 1904 die Breslauer Universitätsklinik als Direktor übernommen hatte.

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In Breslau begann 1892 seine ärztliche Tätigkeit nachdem er das Medizinstudium in Tübingen und Berlin mit Examen und Promotion sowie anschließender Militärzeit absolviert hatte. Er nahm eine Assistentenstelle in der Psychiatrie an, die er mit Eifer und Umsicht ausfüllte. Bereits 1897 legte er eine Habilitationsarbeit zum Alkoholdelirium vor. Die Thematik rührte aus der Betreuung von Patienten, die als Alkoholiker, Prostituierte, Bettler, Vagabunden, Strafgefangene und Paralytiker von der Gesellschaft geächtet und selbst von der Psychiatrie nur am Rande wahrgenommen wurden. Fünf Jahre leitete Bonhoeffer die psychiatrische Abteilung im neuerbauten Gefängnis von Breslau. In dieser Zeit bereicherte er sein Fachgebiet mit Erkenntnissen zur Abgrenzung akuter exogener Reaktionstypen und Degenerationspsychosen, womit er sich einen Namen machte. So wurde die Königsberger Universität auf ihn aufmerksam und bot ihm 1903 das Direktorat an, das jedoch der wachsenden Bedeutung seines Fachgebiets nicht mehr entsprach und deshalb von ihm nach kurzer Erprobung abgelehnt wurde.
     In Breslau harrte der Württemberger Bonhoeffer aus, bis die Charité ihn 1912 rief. Da stand der am 30. März 1868 in Neresheim als Sohn eines späteren Landgerichtspräsidenten geborene mit 44 Jahren im besten Leistungsalter.
Die Familie Bonhoeffer siedelte seit 1513 im Württembergischen, nachdem sie aus dem niederländischen Nymwegen eingewandert war. Seine Vorfahren gehörten als Ratsherrn, Ärzte und Richter zu den Honoratioren und rühmten sich verwandtschaftlicher Beziehungen zur Mutter von Goethe, zu Hegel, Schubart, Uhland, D. F. Strauss.

Der Klinikchef gab stets Aufklärung und Anregung

Als Klinikchef verfügte Bonhoeffer über insgesamt 240 psychiatrische und neurologische Betten an der Charité. Einer seiner ihm verbundenen Oberärzte, Jürg Zutt (1893-1980), urteilte über seine Amtsführung: »Seine geduldige Offenheit für jede konkrete Situation, die souveräne gleichmäßige Beherrschung des psychiatrisch- neurologischen Wissensstoffes, sein außerordentliches klinisches Differenzierungsvermögen, verbunden mit einem hervorragenden Gedächtnis, seine bei aller vorsichtigen Zurückhaltung große Sicherheit des Urteils setzten ihn in Stand, jede konkrete Situation am Krankenbett so zu durchschauen und so weitgehend zu klären, dass seine Mitarbeiter jeweils Aufklärung und Anregung zugleich erfuhren.«2)
     Bonhoeffer herrschte nicht, vielmehr schuf er eine sachlich- kühle Atmosphäre, die von seiner Umgebung akzeptiert wurde.

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Er überzeugte durch die »Vollkommenheit innerer Ordnung«, die Achtung und Distanz zu seinen Mitarbeitern und Patienten gleichermaßen ausdrückte. In der Klinik erschien er nicht vor 8.30 Uhr. Schon um 13.30 Uhr verließ er sie wieder. Und er war für alle der Herr Geheimrat, der nur in der dritten Person angesprochen werden wollte. Seine Vorlesungen zeichneten sich nicht durch Brillanz, dafür aber durch gründliche Vorbereitung und hohen Gehalt aus.

Fortsetzung des Amtes über die Altersgrenze hinaus

Bonhoeffer erreichte 1933 das 65. Lebensjahr und schien einer Emeritierung in absehbarer Zeit nicht abgeneigt. Natürlich schwebte greifbar nahe vor ihm das silberne Dienstjubiläum (1937) als Charité- Ordinarius, aber er spürte noch mehr die Behinderungen und Veränderungen, die nunmehr auf sein Fachgebiet durch die nazistische Rassenideologie massiv zukommen würden. Dagegen anzukämpfen, das wusste er schon aus den Weimarer Debatten um die Sterilisierung, war aufreibend und wenig erfolgversprechend, weil politisches Kalkül mehr als die von ihm favorisierte Wissenschaftlichkeit gefragt war. Hinzu kamen seine erfolglosen Bemühungen gegenüber der Charitéverwaltung, seine jüdischen Ärzte Paul Jossmann (1891-1978), Arthur Kronfeld (1886-1941), Franz Kramer (1878-1967), Erwin Straus (1891-1975) und andere vor der angeordneten Entlassung zu bewahren.

Ferner belastete ihn die 1934 im Zuge der Gleichschaltung vorgenommene defacto- Absetzung als Vorsitzender des »Deutschen Vereins für Psychiatrie«, dem er seit 1920 vorstand.
     An seine Stelle rückte Ernst Rüdin (1874-1952), Direktor des Kaiser-Wilhelm- Instituts für Psychiatrie München, unter dessen Ägide 1935 die »Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater« entstand, die alle Fachvertreter zusammenfasste. Rüdin tat sich 1934 mit der Ausarbeitung verbindlicher Auslegungen zum »Gesetz über die Verhütung erbkranken Nachwuchses« hervor, einer Thematik, die er bereits in den 20er Jahren in München mit erbbiologischer Sippenforschung betrieb. Dennoch reichte Bonhoeffer zunächst keinen Ruhestandsantrag ein und schenkte sogar dem Reichsminister für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung, Bernhard Rust (1883-1945), Gehör, der ihn zur Fortsetzung seines Amtes aufforderte.
     So feierte Bonhoeffer doch noch sein 25-jähriges Ordinariat, um anschließend am 26. Oktober 1937 gegen den Willen des Dekans um seine Emeritierung für 1938 nachzusuchen. Als Begründung gab er sein Alter von nun fast 70 Jahren an. Sofort entbrannte eine hektische Betriebsamkeit zur Regelung seiner Nachfolge, für die Bonhoeffer Hans-Gerhard Creutzfeld (1885-1964; Creutzfeld-Jacob- Krankheit), seit 1924 Oberarzt an seiner Klinik, vorschlug.
     Aber auf der Vorschlagsliste der Fakultät tauchten weder Creutzfeld noch der von den NSDAP- Anhängern unter den Psychiatern dringend empfohlene Maximilian de Crinis (1889-1945) auf.
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Bonhoeffer musste dennoch hilflos mitansehen, wie der von Wilhelm Griesinger mit moderner wissenschaftlicher Ausrichtung geschaffene und von allen seinen Nachfolgern so weitergeführte Lehrstuhl in die Fänge des Österreichers de Crinis geriet, der entgegen dem Willen der Charité als Verfechter nazistischer Psychiatrieauslegung aus Köln gerufen wurde.
      Unter dieser Belastung hielt Bonhoeffer im Juli 1938 seine Abschiedsvorlesung, während zum 1. November de Crinis sein Ordinariat übernahm. Dieser gehörte seit 1931 der NSDAP an, war 1936 SS- Hauptsturmführer geworden und lieferte der nazistischen Sterilisationspolitik bereitwillig pseudowissenschaftliche Begründungen. Den gerichtlichen Ahndungen der Alliierten entzog sich de Crinis im Mai 1945 durch Suizid.

166 wissenschaftliche Arbeiten aus seiner Feder

Seine Erstlingsarbeit befasste sich mit symptomatischen Psychosen (psychische Störungen infolge akuter Vergiftungen und Infektionen) und trug wesentlich zur Systematisierung und Abgrenzung von akuten exogenen Psychosen und Degenerationspsychosen bei. Die Mehrheit seiner 162 wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind knappe Darstellungen aus der klinischen Empirie heraus.

Seine Hauptmethodik bestand in der vergleichenden Betrachtung grundsätzlicher Erkenntnisse seines Fachgebiets. Ein Lehrbuch wie eine Gesamtschau der Psychiatrie schrieb er jedoch nicht, so wie er auch keine spezielle wissenschaftliche Schule begründete. Seinen Mitarbeitern gewährte er in der Forschung jedwede Freiheit und förderte deren Anliegen jederzeit.
     So verwundert es nicht, dass aus seiner Klinik eine Reihe namhafter Psychiater wie Hans-Gerhard Creutzfeld (Ordinarius in Kiel), Franz Kramer und Hans Pollnow (Kramer-Pollnow- Syndrom im Kindesalter), Arthur Kronfeld (Suizid in Moskau, als die deutsche Wehrmacht zur Einnahme der sowjetischen Hauptstadt ansetzte), Hanns Schwarz (1898-1977; Ordinarius in Greifswald), Erwin Straus (Mitbegründer der weltbekannten, heute noch existierenden Fachzeitschrift »Der Nervenarzt«) und Jürg Zutt (Ordinarius, Frankfurt/ Main) hervorgingen. Modischen Richtungen in der Psychiatrie folgte er nicht, woraus sich u. a. seine zwar tolerante, eigentlich jedoch ablehnende Haltung gegenüber Siegmund Freud (1856-1939) und seiner Lehre erklären lässt. Das hinderte Bonhoeffer keineswegs, Freud moralischen Beistand bei dessen Emigration zukommen zu lassen. Ebenso folgte er nicht Magnus Hirschfeld (1869-1935), der die Homosexualität als angeborenes Merkmal des Menschen betrachtete.
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Eine Herausforderung für die ganze Familie Bonhoeffer

In der Familie Bonhoeffer herrschte eine weltoffene Atmosphäre, die vor allem vom humanistischen Ideal des Vaters bestimmt wurde. Bonhoeffer selbst sah sich als unpolitischen Menschen, der von der Obrigkeit erwartete, dass er seine Wissenschaft ohne wesentliche Behinderungen durch politische Instanzen betreiben könne.
     In der Familie wurde einschließlich der Schwiegerkinder (von seinen Kindern war nur Dietrich nicht verheiratet) die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Unglück bezeichnet und mit Abneigung und Misstrauen begleitet. Deren Herrschaft mit Rassenideologie, Antisemitismus, Menschenverachtung und schließlich Euthanasie und Krieg wurde zu einer Herausforderung für die Familie Bonhoeffer.
     Der Vater bekräftigte das Denken seiner aktivoppositionell handelnden Söhne Klaus (1901-1945) und Dietrich (1906-1945) wie das seiner Schwiegersöhne Hans von Dohnanyi (1902-1945) und Rüdiger Schleicher (1895-1945). Bonhoeffer selbst nahm am Widerstandskampf nicht teil, wurde aber auch in keiner Situation zum Heuchler. In seinen erst 1968 veröffentlichten Erinnerungen schrieb er: »Wenn wir Eltern auch in die Einzelheiten der Komplotte nicht eingeweiht wurden, so waren wir doch durch die zahlreichen Besprechungen, die in unserem Hause stattfanden, über vieles unterrichtet und über die Gefährlichkeit der Situation für unsere Kinder, wie über die Notwendigkeit ihres Tuns im Interesse der deutschen Zukunft durchaus im klaren.« 3)

Tochter Sabine, die Zwillingsschwester von Dietrich, emigrierte mit ihrem jüdischen Mann bereits 1938 nach England. Karl Bonhoeffer brachte ihre Kinder sicher in die Niederlande.
     Wenige Tage nach seinem 75. Geburtstag sollte sich die Gefährlichkeit des Widerstandes seiner Kinder für ihn offenbaren: Schwiegersohn Hans, seine Tochter Christine und Sohn Dietrich wurden Ende April 1943 in seinem Haus in der Marienburger Allee 43 von der Gestapo verhaftet. Die Tochter wurde nach vier Wochen wieder entlassen. Sohn Klaus geriet im Oktober 1944 ebenso in die Fänge der Gestapo wie Schwiegersohn Rüdiger. Die Verhafteten wurden durch den Volksgerichtshof, die letzteren durch Freisler (1893-1945), zum Tode verurteilt und in den letzten Kriegstagen des April 1945 hingerichtet. Über das Schicksal von Dietrich erfuhren die Eltern erst nach Kriegsende. Tochter Sabine bescheinigte ihren Eltern: »Durch keinen Abgrund sind die Eltern von ihren Kindern in den Gefängnissen zu scheiden.«4)
     Aber Bonhoeffer schwieg unmittelbar nach dem Krieg trotz dieser bitteren Schläge für seine Familie. Er litt zweifellos schwer an den Folgen des NS-Terrors; er hat sie laut Nekrolog »still und edel ertragen«.5) 1947 verfasste er dann doch ein Manuskript mit dem Titel »Führerpersönlichkeit und Massenwahn«, das offensichtlich seinerzeit nicht zum Druck angenommen wurde und erstmals 1968 erschien. 6) Hier untersuchte Bonhoeffer den Nazismus und die Person Hitler und deren Wirkungen auf das deutsche Volk nur vom Standpunkt eines Psychiaters, wobei er von »psychischer Masseninfektion« hinsichtlich des Mitläufertums der Bevölkerung sprach.
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Gutachten über Marinus van der Lubbe

Im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrandprozess 1933 erhielt Bonhoeffer die Aufforderung, ein psychiatrisches Gutachten über den beschuldigten Feuerleger Marinus van der Lubbe (1909-1934) anzufertigen. Hierin ließ er ausschließlich seinen ärztlichen Sachverstand und seine psychiatrische Erfahrung sprechen, wobei in seiner vermeintlich objektiven Sicht Einfühlungsvermögen und eine gewisse Sympathie für den Angeschuldigten mitschwingen. Da er sich nicht sicher war über die Verwendung und propagandistische Ausschlachtung des Gutachtens, veröffentlichte er es 1934 in der »Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie«.7) Seine Sichtweise ließ ihn aus dem engeren Kandidatenkreis für das Gutachten im »Fall Gustloff« 1936 ausscheiden. Zum jüdischen Attentäter David Frankfurter (1909-1982) sollte ein Gutachten fabriziert werden, dass von den Nazis zu einem Feldzug gegen das internationale Judentum verwendet werden konnte. Leonardo Conti (1900-1945; Suizid), ab 1939 Reichsärzteführer, erhob Bedenken: »Vertritt seine Meinung sehr klar, aber streng wissenschaftlich, sehr ruhig, sehr sachlich, ohne Temperament und ohne Anteilnahme, so daß ich deshalb mir einen besonderen Erfolg nicht versprechen kann.«8)

Die Bemerkung »ohne Anteilnahme« bezog sich zweifellos auf Bonhoeffers Verzicht, die neuen Machthaber in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Bonhoeffers Haltung zu Sterilisation und Euthanasie

In den Weimarer Jahren tauchten auch in Deutschland verstärkt Forderungen auf, Patienten mit bestimmten psychiatrischen Diagnosen zu sterilisieren. Bonhoeffers grundsätzliche Haltung, an der sich während des NS-Regimes nichts änderte, brachte er 1923 zum Ausdruck, als er sich zum betreffenden Gesetzentwurf äußerte. Nur wenn ein dringender Schutz der Allgemeinheit notwendig würde, wäre im Einzelfall die Sterilisation in Erwägung zu ziehen. Er ließ sich nicht, wie es zeitgenössisch von Intellektuellen verschiedenster Fachrichtungen diskutiert wurde, von irgendwelchen finanziellen oder ökonomischen Gesichtspunkten bei der medizinischen und sozialen Betreuung der Kranken leiten. Seine unmissverständliche Aussage lief auf die Feststellung hinaus, die Lage erfordere kein Eingreifen des Staates mit dem Mittel der zwangsweise Sterilisation.
     Die Gesetze kamen erst nach 1933 zu Stande und brachten Bonhoeffer in eine schwierige Situation.

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Aus seiner Sprechstunde heraus erfolgte keine Meldung zur Sterilisation, obwohl er gesetzlich dazu verpflichtet gewesen wäre. Er führte die strikte Einhaltung der ihm gebotenen ärztlichen Schweigepflicht ins Feld und wurde offensichtlich von den Nazis nicht belangt. Anders lag sein Verhalten, wenn er aus der Aktenlage heraus ihm persönlich nicht bekannte Patienten zu begutachten hatte. Die Auswertung entsprechender Akten der Humboldt- Universität für die Zeit von 1934 bis 1938 ergibt, dass er 68 Gutachten anfertigte, von denen 33 (= 48,5 %) den Vermerk »Sterilisation« erhielten.9) Das ist ein relativ hoher Prozentsatz, der allerdings wesentlich geringer ist als bei vergleichbaren Fachkollegen anderer Universitäten.
     Bonhoeffer bewegte sich auf einem politisch und wissenschaftlich schmalen Grat. Anzeigeverweigerung, manipulierte (geschönte) Diagnosen und verantwortliche Folgenabschätzung waren seine Mittel zur Entschärfung der Gesetzgebung, auf die er als Gutachter und Experte keinen Einfluss hatte und die er frontal nicht angegriffen hat. Bis 1935 zeigte er in Wort und Schrift Alternativdiagnosen zur Umgehung des Gesetzes auf, dann wurde ihm das Podium für Weiterbildungslehrgänge und die Schriftleitung entzogen. »Die Verpflichtung seines Berufes drängte ihn zu resistentem und darin politischem Handeln.
Das Ethos des Naturwissenschaftlers setzte für ihn das Maß seines Widerstandes gegen das Regime fest - in bestimmten Grenzen.«10)
     Als Emeritus hörte er Ende 1939 von der anlaufenden, faschistisch geprägten Euthanasie zur Vernichtung von so genanntem lebensunwertem Leben, der später zur Tarnung »T 4« bezeichneten Aktion. Diese Patienten wurden nach zweifelhaften wissenschaftlichen Kriterien als unheilbar und als zur Arbeit nicht mehr verwendbar eingestuft, wodurch ihr Todesurteil gesprochen war. In Deutschland gab es 1939 cirka 65 000 bis 70 000 Menschen, die sofort gemeldet worden waren.
     Eine zwar nicht belegte, aber in der biografischen Literatur wiederholt angeführte Auseinandersetzung zu diesem Thema mit de Crinis soll Ende 1939 im Chefzimmer der Charitéklinik stattgefunden haben. De Crinis war immerhin Mitglied der Kommission des Reichsgesundheitsamtes, die alle Details des geheimen Vorgehens festlegte.
     Bonhoeffer wurde im Justizministerium vorstellig, nahm Kontakt mit Pastor Paul Braune (1887-1954) von den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal und mit Bethel- Direktor Friedrich von Bodelschwingh (1877-1946) auf. Couragierte Schritte, die seinesgleichen unter seinen Fachkollegen suchten. Dennoch war dies alles zu wenig, um die Mordmaschinerie aufhalten zu können, die bis zum 23. 8. 1941 bereits über 90 000 Opfer forderte.
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Bodelschwingh in einem Brief vom August 1940: »Hilfe haben wir bisher noch nicht viel gefunden. Professor Bonhoeffer ist alt und nicht mehr sehr aktiv ... Der Nachfolger von Bonhoeffer (de Crinis) steht ganz auf der anderen Seite.«11) Müller-Hill, Experte der Euthanasieaufklärung, vermerkte: »Ich habe kein schriftliches Zeugnis eines Psychiaters gegen die Euthanasie gefunden ... Prof. Bonhoeffer, dessen Sohn Dietrich zur Widerstandsbewegung gehörte, war seit 1938 emeritiert und schwieg, um seinen Sohn zu schützen.«12) Resümierend bleibt festzuhalten, dass Bonhoeffer zu den wenigen Wissenschaftlern gehörte, die den damals mäßigen Entwicklungsstand der Erbbiologie und die wissenschaftlich völlig unzureichende Begründung für daraus abzuleitende Maßnahmen wie Sterilisation und Euthanasie überhaupt wahrnahmen.
     Obwohl es immer wieder Vermutungen gibt, dass Bonhoeffer Hitler psychiatrisch untersucht habe, verneint er das in seinen »Lebenserinnerungen« ausdrücklich. Er ließ offen, wie seine Haltung gewesen wäre, wenn Hitler ihn zur Konsultation gerufen hätte.

Nach dem Krieg Übernahme eines Forschungsauftrags

Das Kriegsende erbrachte dem 77- jährigen Karl Bonhoeffer die moralische Verpflichtung, sich auch finanziell um die Hinterbliebenen seiner Söhne und Schwiegersöhne zu sorgen, die dem Nazismus zum Opfer gefallen waren.

Daher überrascht es nicht, dass er aus diesem Grunde im Oktober 1945 Kontakt zum designierten Rektor der Berliner Universität, Johannes Stroux (1886-1954), aufnahm, um sich durch Übernahme eines Forschungsauftrages teilweise reaktivieren zu lassen. So erhielt er am 29. Januar 1946 die Bestätigung als ordentlicher Professor ohne Lehrverpflichtungen. Für Konsultationen und gutachterliche Tätigkeit stand er den Heilstätten Wittenau zur Verfügung.
     Seinem Einsatz und einigen Publikationen verdankte die Psychiatrie in Berlin ihre wissenschaftliche Auferstehung nach Eliminierung der rassenideologisch bedingten Eingriffe der Nazis. Die wiedergegründete »Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie« ernannte ihn 1948 in Ehrung seiner Verdienste zum Ehrenmitglied. Ein halbes Jahr nach seinem 80. Geburtstag und ein knappes Jahr nach seiner Goldenen Hochzeit verstarb Karl Bonhoeffer an den Folgen eines Schlaganfalls am 4. Dezember 1948. Er wurde auf dem Waldfriedhof an der Heerstraße beigesetzt, ebenso wie am 1. Februar 1951 seine Frau Paula.
     1956 erhielt die »Karl-Bonhoeffer- Heilstätte Wittenau« ihren Namen, seit 1986 gibt es ein »Karl-Bonhoeffer- Haus« in den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal bei Bernau. Als Stätte der Begegnung sowie des Gedenkens vor allem an Dietrich Bonhoeffer existiert seit dem 1. Juni 1987 das »Bonhoeffer- Haus« im ehemaligen Wohnhaus der Familie in der Marienburger Allee.
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Quellen:
1 Peter Steinbach: Rezension Biografie und Werkausgabe Dietrich Bonhoeffer, in: »Das Parlament«, Nr. 29 vom 16./23. Juli 1999, S. 16
2 Jürg Zutt, Nekrolog für Karl Bonhoeffer (1948), in: Karl Bonhoeffer zum Hundertsten Geburtstag, Hrg. J. Zutt, E. Straus, H. Scheller, Berlin/ Heidelberg/ New York 1969, S. 4/FONT>
3 Lebenserinnerungen von Karl Bonhoeffer. Geschrieben für die Familie, in: Karl Bonhoeffer zum Hundersten Geburtstag, a. a. O., S. 106
4 Sabine Leibholz- Bonhoeffer, Weihnachten im Hause Bonhoeffer, Wuppertal- Barmen 1971, S. 108
5 Nekrolog für Karl Bonhoeffer aus dem Jahre 1948, in: Karl Bonhoeffer zum Hundersten Geburtstag, a. a. O., S. 7
6 Karl Bonhoeffer, Führerpersönlichkeit und Massenwahn, in: Karl Bonhoeffer zum Hundersten Geburtstag, a. a. O., S. 108 ff.
7 Karl Bonhoeffer/ Jürg Zutt, Über den Geisteszustand des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 89. Jahrgang (1934), S. 185-213
8 Zitiert bei Klaus-Jürgen Neumärker, Karl Bonhoeffer, Leipzig 1990, S. 172

9 Uwe Gerrens, Medizinisches Ethos und theologische Ethik. Karl und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinandersetzung um Zwangssterilisation und Euthanasie im Nationalsozialismus, München 1996, S. 99
10 Ebenda, S. 118
11 Kurt Nowak, Sterilisation, Krankenmord und Innere Mission im Dritten Reich, in: A. Thom/G. N. Caregorodcev, Medizin unterm Hakenskreuz, Berlin 1989. S. 178 f.
12 Benno Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, Berlin 1989, S. 101
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