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Auf Rotwein im Schwarzwald

Bericht von der Jahrestagung der Kurt-Tucholsky- Gesellschaft

»Ich will nur 14 Tage bleiben, ungefähr bis zum 30. VII. … Ich will die Leine absichtlich in diesen Wochen schlaff hängen lassen - ich glaube, daß ich die Kraft in Berlin brauchen werde. Es wird ein heißer Winter werden ...«
     Der das am 19. August 1919 aus der an einen Berghang des idyllischen Fleckens Nußbach bei Triberg geschmiegten »Villa Fritsch« mitteilte, hieß Kurt Tucholsky.
     Und er sollte mit seiner Prophezeiung Recht behalten:

Denkbar, dass der steile Weg zur dreihundertjährigen Restauration »Römischer Kaiser« Tucholsky und seinen Freunden »Karlchen« und »Jakopp« nicht immer den erhofften Genuss bescherte.
     »Karlchen«, mit bürgerlichem Namen Dr. Erich Danehl und von Beruf Jurist, »Jakopp« alias Hans Fritsch und Tucholsky hatten sich beim Militärdienst kennen- und dann als überzeugte Pazifisten schätzen gelernt.
     »Zwei Männer kenne ich auf der Welt«, bekannte Tucholsky, »wenn ich bei denen nachts anklopfte und sagte: Herrschaften, so und so ... ich muss nach Amerika - was nun? Sie würden mir helfen. Zwei - einer davon war Karlchen. Freundschaft, das ist wie Heimat ... Jakopp war der andere - wir waren drei.«
Zwar erstrahlte der erste Friedenssommer in Wärme und Schönheit, aber die nachfolgenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen warfen längst ihre blutigen Schatten voraus.
     Auch die arme Gebirgsregion hatte der Krieg gebeutelt: Die Bauern mussten ihre Erzeugnisse abliefern, die Lebensmittel waren kontingentiert, der Fremdenverkehr gestört und - was den notorischen Rotweingenießer Tucholsky ebenfalls nicht kaltgelassen haben dürfte - die alkoholischen Getränke wurden den Gast- und Beherbergungsstätten zugeteilt.


Nachgestellt: Tucholskys Weg zum »Römischen Kaiser«
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Das Nußbacher Haus, in dem sie sich 1919 trafen, hatte 1901 der Bonner Frauenarzt Prof. Heinrich Fritsch erworben. Nach dessen Tod erbten es sein Sohn Hans - eben »Jakopp« und seine Töchter Julie und Änne, die sich wiederum mit Medizinern verehelichten: mit Prof. Ludolph Brauer und Prof. Walter Stöckel, der bis 1956 als Frauenarzt an der Charité wirkte.
     So ist das Haus auch durch berühmte Mediziner - selbst Sauerbruch soll Gast gewesen sein - mit Berlin verbunden.
     1945 wurden Flüchtlinge einquartiert. Später wohnten hier ausländische Mitarbeiter einer Firma aus dem nahen St. Georgen.
     In den 60er Jahren verkauften die Erben an den Berliner Kaufmann Wilhelm Maier.
     1977 bis 1996 bewohnte es der pensionierte Oberstudienrat Popendiecker, der seine Villa in Berlin- Lichterfelde aufgab. Zur Zeit wird es für Wohnzwecke saniert.
     Ein besonderes Bonmot der Verflechtung des Hauses mit Berlin besteht auch darin, dass eine in Karlshorst geborene und aufgewachsene und seit Jahrzehnten in St. Georgen ansässige Journalistin auf den Spuren des aufmüpfigen Autors auf die Nußbacher Villa stieß: Renate Bökenkamp, rührige Schriftführerin der Tucholsky- Gesellschaft und Triberger Gemeinderätin.
     Frau Bökenkamp entflammte ihre Vorstandskollegen für eine Jahrestagung dort, wo einst der Namenspatron die alten Wasserfälle rauschen und den holzgeschnitzten Kuckuck eine neue Zeit verkünden hörte.
     Als Tribergs Kommunaloberhaupt seine Unterstützung zusagte, gab es für die Schwarzwald- Pfingsttage keine unüberwindlichen Schranken mehr.
     So begrüßten denn Bürgermeister Klaus Martin und die Präsidentin der Tucholsky- Gesellschaft, Dr. Inge Jens, zu Konferenz und einer kleinen Ausstellung im Kurhaus die internationalen Gäste ebenso herzlich wie die herbeigeströmten Triberger.
»Es sieht hier hübsch aus«, zitierte Inge Jens den berühmten Urlauber des Jahres 1919. »Die Landschaft ist schön ... Bewaldete Höhen, dazwischen in den Tälern kleine, gedrängte Dörfchen und Städtchen ...«
     Drei Jahre später klagte der Amerikaner Hemingway, der auf der Suche nach ergiebigen Forellenbächen Triberg durchreiste:
     »Die Gasthäuser sind weiß getüncht und sehen von außen ordentlich und sauber aus, aber von innen ...!« »Die Bettlaken sind kurz, die Federbetten klumpig ... Die Hühner scharren im Vorgarten, und der Misthaufen dampft unter den Schlafzimmerfenstern.«
     Dass Triberg dem ungehobelten Jäger auf der Fischwaid dennoch Referenz erweisen will, spricht für Toleranz und Geschäftstüchtigkeit.
     Die Tagungsteilnehmer jedenfalls standen eher zu Tucholskys Eindrücken.
     Mit zwei Fernsehfilmen begann die Sacharbeit der Konferenz. Ein 1985 zum 50. Todestag in der DDR entstandener und von Roland Links fachlich betreuter Streifen bemühte sich, vor allem den politischen Autor zu würdigen. Der zum 100. Geburtstag in der BRD gedrehte, vom späteren langjährigen KTG- Vorsitzenden und Tucholsky- Biographen Michael Hepp beratene Film beleuchtete eher die zwiespältige, selbstanklägerische Seite des »aufgehörten Schriftstellers«.
     Am zweiten Begegnungstag standen drei Beiträge zur Diskussion.
     Roland Links, Leipzig, bediente das Tagungsthema »Freundschaft, das ist wie Heimat ...« und beleuchtete die Männerfreundschaften des Autors bis 1919. Er hob die Vorbildrolle des früh verstorbenen Vaters hervor, würdigte die Freundschaft mit dem neun Jahre älteren Siegfried Jacobsohn (1881-1926), kommentierte die bis 1920 währende enge freundschaftliche Verbindung zu dem 17 Jahre älteren Hans-Erich Blaich alias Dr. Owlglass, sparte die schroffe Ablehnung der jüngeren Schönlank und Szafranski nicht aus, wies auch auf »Karlchen« und »Jakopp«.
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Den Begriff »Heimat« - so Links - bewertete Tucholsky höher als den Begriff »Vaterland«. Mit »Heimat« verbanden sich für ihn Geborgenheit, Zuverlässigkeit und ein gutes Arbeitsklima; Freundschaft und Heimat gehörten zu seinen tiefsten Sehnsüchten und waren Gegenpol seiner Lebensangst.
     Fritz Hackert, Tübingen, gab in seinem Beitrag »Wo ist man zuhause?« zu bedenken, dass der Heimat- Begriff häufig mit Provinz besetzt wird. Er bezog sich auf gängige Wahrnehmungsmuster wie idyllische Landschaften, Schlösser und Burgen, verwies auf die über 60bändige Akademie- Reihe »Werte der deutschen Heimat«.
     Die Heimatidylle in der Rheinsberg- Novelle bewertete er als »augenzwinkerndes« Herangehen. Tucholsky bezog scharf Position mit seiner Besprechung der Autobiographie Ludwig Thomas: »Thoma liebt seine Heimaterde, und das ist schön. Wer so etwas tut, taugt wenigstens partiell etwas.« Hackert untersuchte die Legende, die »verräterische Heimat« habe »die Front erdolcht« und gab zu bedenken, dass an der Front ebenfalls Söhne der »Heimat« stehen mussten. »Wenn der Staat sich als Heimat deklariert«, so Tucholsky, »bläst er sich auf.«
     Stefanie Oswalt, Berlin, deren Jacobsohn- Biographie Anfang des Jahres im Bleicher- Verlag erschienen ist1), beleuchtete das Freundschaftsverhältniss zwischen Tucholsky und Jacobsohn. S. J. sekundierte dem Freunde als Trauzeuge bei der Heirat mit der Ärztin Else Weill, der »Claire« aus der Rheinsberg- Novelle. Nicht allein Tucholsky profitierte vom Älteren, der ihm geistig und persönlich sehr nahestand. Auch Jacobsohn fand bei ihm in schwierigen Lebenssituationen Verständnis,

Das Haus Fritsch in Nußbach

 
Anteilnahme und Trost, so beim Kriegstod seines Lieblingsbruders.
     Dass Tucholsky den Heiligabend 1919 bei Jacobsohns »in familia« verbrachte, spricht zugleich für die Achtung, die er den Angehörigen des Freundes entgegenbrachte. Auch als der Jüngere seine Hauptwirkungsstätte nach Paris verlegt hatte, tat dies der tiefen Bindung keinen Abbruch. Über den Tod hinaus blieb Jacobsohn für ihn ein unersetzbarer theoretischer Bezugspunkt.
     Prof. Harry Pross, in dessen Haus im Allgäu die Tucholsky- Gesellschaft 1988 gegründet worden war, ergänzte dann auch vertiefend, dass die brüderliche Freundschaft zwischen den beiden kritischen Schreibern die durch den Altersabstand durchaus erklärbare Vater-Sohn- Beziehung deutlich überwog.

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Zwei Nachmittage ging die Konferenz dann per pedes auf reale Fußspurensuche.
     Zuerst bestaunte man den mit Figuren des heimischen Holzschnitzers Furtwängler ausgestatteten Rathaussaal und lauschte sachkundig- humorvollen Worten zu Geschichte und Gegenwart Tribergs. Anschließend erklomm das Gremium den touristenlockenden brausenden Wasserfall.
     Der Aufstieg machte den überwiegend angejahrten Tucholsky- Fans zu schaffen - ein Glück, dass das Getränkeangebot der Gastronomen besser war als anno 1919.
     Höhepunkt wurde dann die Uraufführung einer Tucholsky- Revue der Theatergruppe des Schwarzwald- Gymnasiums Triberg. Die Hommage belegte, dass junge Leute durchaus motiviert werden können, sich mit Texten und Chansons des Autors auseinanderzusetzen - existenziell für das künftige Wirken der Tucholsky- Vereinigung.
     In lockerer, durchdachter Folge musizierten, spielten, sprachen und sangen Schüler gemeinsam mit ihren Lehrern und dem Pfarrer der evangelischen Gemeinde, und neben klassischen Bearbeitungen erwiesen sich Pop- und Rap-Klänge sowie Tänzerisches in eigener (Schüler-) Choreographie als verbindendes Moment zwischen dem aufbegehrenden Tucholsky und kritischer Jugend der übernächsten Generation.
     Der am Pfingstsonntag einsetzende Regen konnte das Auditorium nicht hindern, sich auf schlüpfrigen Höhenwegen nach Nußbach zu begeben, übers Tal aufs feuchtmalerische »Haus Fritsch« zu blicken und schließlich im »Römischen Kaiser«, wo einst Tucholsky mit seinen Freunden den Tag begoss, einen trockenen Roten zu nehmen.
     In der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche von Triberg fand die Tagung einen anspruchsvollen und bewegenden Abschluss. Walter Jens, selbst Mitglied, las seine Texte »Die Außenseiter Judas und Petrus. Zwei Selbstgespräche«.2)
Nach dem Bezug seiner Lesung zur Tagung befragt, verwies der Rhetorik- Professor und Ehrenpräsident der Akademie der Künste Berlin- Brandenburg auf das engagierte Eintreten Tucholskys für Bedrückte, Entrechtete und den »einfachen Mann«. Hier einige Textstellen des Autors Jens:
     »Ohne Judas gäbe es kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Kirche ... keine Überlieferung der Botschaft, dass wir erlöst sind ...
     ... Wenn ich (Judas, W. H.) Nein gesagt hätte, Herr, wärst Du am Leben geblieben und hättest ein freundlicher alter Mann werden können, ein Zimmerer, dessen Kunst berühmt gewesen wäre, weit über Galiläa hinaus ...
     ... Kein Märtyrer wäre in der römischen Arena gestorben; keine Inquisition fände statt, keine Kriege der Rechtgläubigen gegen die Heiden, kein Streit unter den Religionen ...
     Und niemand, Herr, hätte uns Juden verfolgt; denn es wäre ja keiner schuldig gewesen an deinem Tod, dem sanften Ende eines alten Zimmermanns3) ...«
     Walter Jens verblüffende Sicht auf den Verrat an Jesus lag durchaus auf der Linie von Tucholskys »Was wäre, wenn?« und gab Nachdenkenswertes auf den Heimweg:
Wolfgang Helfritsch
1 Oswalt, Stefanie, Siegfried Jacobsohn, Ein Leben für die Weltbühne, Bleicher Verlag GmbH Gerlingen, 2000
2 s.a. Walter Jens, Die Friedensfrau, Ein Lesebuch, Reclam Verlag Leipzig, 1992
3 Ebenda, S. 14-16
Weitere Quellen:
- Kurt Tucholsky, Unser ungelebtes Leben, S. 240 ff.
- Michael Hepp, Kurt Tucholsky, Monographie, rororo
- Veröffentlichungen zur Tucholsky-Tagung im »Südkurier« und im »Schwarzwälder Boten«, Juni 2000
Bildquelle: Archiv Autor
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Denkwürdigkeiten der Militärischen Gesellschaft zu Berlin

Neudruck der Ausgabe Berlin 1802-1805, Mit einer Einleitung von Joachim Niemeyer, Biblio Verlag Osnabrück 1985

Fünf Bände »Denkwürdigkeiten« hatten die Gebrüder Wegener in den Jahren 1802 bis 1805 »auf Kosten der Gesellschaft« gedruckt - eine Rarität selbst in guten Bibliotheksbeständen von heute. Dank der Bemühungen des Osnabrücker Biblio Verlages und vor allem dank des Forscherdrangs Joachim Niemeyers, des Direktors des Wehrgeschichtlichen Museums in Rastatt, liegen nun die fünf Bände der wichtigsten Publikation der Militärischen Gesellschaft Berlins vor - eine Fundgrube für Berlin- Historiker und Militärwissenschaftler, für Biographen und Interessenten für Detailfragen der Geschichte der Berliner wissenschaftlichen Vereinigungen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.
     Die Militärische Gesellschaft zu Berlin war maßgeblich ein Geschöpf Scharnhorsts, konzeptionell entwickelt schon in den Jahren seit 1792. Scharnhorst selbst aber war nicht der erste, der die Idee zur Gründung dieser militärwissenschaftlichen Bildungs- und Weiterbildungseinrichtung hatte. Joachim Niemeyer hat in der Einleitung zur Neuherausgabe der »Denkwürdigkeiten« das Wichtigste für das Verständnis dieser Präliminarien geschrieben, es soll hier nicht wiederholt werden.
     Gerhard David Scharnhorst (1755-1813) war nach längeren Verhandlungen Anfang des Jahres 1801 aus den Diensten des Kurfürsten von Hannover in die Preußische Armee übergetreten. Mit dem Rang eines Oberstleutnants im Artillerieregiment 3 der Berliner Garnison hatte er eine seiner strategischen, militärpädagogischen und -wissenschaftlichen Aufgabenstellung adäquate militärische Position zugebilligt bekommen - mit etwa 1500 Talern Jahresgehalt, der Wohnung Am Königsgraben 7 und der Zusage der Erhebung in den erblichen Adelsstand.

Das Zusammenführen von talentierten geeigneten Offizieren vorrangig der Garnisonen Berlin und Potsdam in einer akademischen Vereinigung hatte sich Scharnhorst zu einer der ersten Aufgaben gemacht, konnte doch nur auf diesem Wege eine Verständigung unter den Offizieren über die Notwendigkeit und die Hauptwege der Reformierung der Preußischen Armee erreicht werden und konnte damit auch ein Kern von Mitstreitern für die Durchsetzung der praktischen Schritte einer Heeresreform und auch weitergehend einer Staatsreform gebildet werden.
     So sind diese fünf Bände ein Beleg dafür, wie ernsthaft Scharnhorst und seine engsten Mitarbeiter schon lange vor dem Katastrophenjahr 1806 am Konzept und an den konkreten Schritten einer Modernisierung der preußischen Armee gearbeitet haben.
     Zu den redaktionellen Vorzügen der Neuherausgabe der »Denkwürdigkeiten« muß man insbesondere die Aufarbeitung der personellen Quellen und die Einführung in die Strukturen der Gesellschaft rechnen. Joachim Niemeyer konnte sich auf die veröffentlichten Protokolle der Sitzungen stützen und hat, wie sein wissenschaftlicher Apparat belegt, für diese verlegerische Arbeit auch eine Anzahl anderer zeitgenössischer Quellen herangezogen. Wesentlich für das Verständnis der »Denkwürdigkeiten« ist auch der Bezug, den der Herausgeber zur Berliner Mittwochsgesellschaft der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts und zur »Berlinischen Monatsschrift« jener bedeutsamen Periode der deutschen Aufklärung herstellt.
     Für Berlin- Historiker sind vor allem die aus den Protokollen, Bücheranzeigen, Mitteilungen der Gesellschaft und Mitgliederverzeichnissen herauzulesenden biographischen Details derjenigen Offiziere von Interesse, die später als führende Köpfe im Generalstab, als Militärhistoriker, als Lehrer an der Kriegsakademie und auch außerhalb des Heeres in anderen Institutionen Preußens aktiv und bekannt wurden. Viele von ihnen sind auf den beiden bedeutenden historischen Militärfriedhöfen in Berlin- Mitte, dem Alten Garnisonfriedhof an der Linienstraße und dem Invalidenfriedhof an der Scharnhorststraße, beigesetzt -
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zu nennen sind unter anderen die späteren Generale Gerhard David von Scharnhorst, Karl Andreas von Boguslawski (1758-1817), Karl Leopold Heinrich Ludwig von Borstell (1773-1844), Hermann von Boyen (1771-1848), Johann Eberhard Ernst Herwarth von Bittenfeld (1753-1822), Karl Friedrich von Holtzendorff (1754-1828), Karl Friedrich von dem Knesebeck (1768-1848), Heinrich Menu von Minutoli (1772-1846), Karl Ludwig von Oppeln- Bronikowski (1766-1842), Johann Georg Gustav von Rauch (1774-1841), Ernst Ludwig von Tippelskirch (1774-1840), Georg Wilhelm von Valentini (1775-1834). Auch August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau (1760-1831), Carl von Clausewitz (1780-1831 sowie der umstrittene Oberst im Generalstab Christian Karl August Ludwig Reichsfreiherr von Massenbach (1758-1827) waren aktive Mitglieder der Gesellschaft, von letzterem stammten drei Beiträge in den »Denkwürdigkeiten«. Dass sich keine der bedeutenden Schriften Gneisenaus aus dieser Periode in den »Denkwürdigkeiten« finden lassen, kann in der Entfernung zwischen Berlin und dem oberschlesischen Standort des Füsilierbataillons Nr. 13 begründet liegen, in dem Gneisenau Dienst tat.
     Hinsichtlich der Logistik der Gesellschaft ergibt sich aus den veröffentlichten Dokumenten, dass es vor allem die in den Bildungseinrichtungen des Heeres strukturell eingesetzten Offiziere waren, die Organisation, Finanzen, Verwaltung und Publikationstätigkeit der Gesellschaft wahrscheinlich als Teil ihrer dienstlichen Obliegenheiten betrieben und damit auch Rückendeckung des Vorsitzenden der Gesellschaft, General Ernst Friedrich Wilhelm Philipp von Rüchel (1754-1823), hatten, der seit November 1797 Generalinspekteur sämtlicher Kadettenanstalten und der Ecole militaire war.
General von Rüchels Biographie gibt interessante Hinweise auf die taktischen Winkelzüge, zu denen Scharnhorst und seine progressiven Mitstreiter in der Periode vor 1806 Zuflucht nehmen mussten - und sie lässt auch etwas von der inneren Widersprüchlichkeit ahnen, in die selbst konservative hohe Offiziere Preußens angesichts der Verfallsprozesse im preußischen Heer nach den Tode Friedrichs II. geraten waren. Charakteristisch für die Einschätzung des Generals in den Kreisen der Reformer der vielzitierte Satz Clausewitz: »Rüchel sei eine aus lauter Preußentum gezogene concentrierte Säure«.
     Boyen hatte in seinen Erinnerungen über Rüchel enthüllend geschrieben (Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bd. I., Berlin 1990, S. 109): »Von der Natur war Rüchel mit einem lebhaften Geist und kräftigem Willen ausgerüstet; er hatte viele Eigenschaften eines bemerkenswerten, aber nicht die eines großen Mannes. Seine Bildung war höchst fragmentarisch, sein Gedankengang unzusammenhängend, herumspringend, und indem er seinem heftigen Temperament keinen Zügel anlegte, glaubte er in den ungemessenen Ausbrüchen desselben sich als einen selten kräftigen Mann zu zeigen. Dabei war er kleinlich eitel und nichts weniger als ein Feldherr, denn er glaubte in allem Ernst, daß er mit einer gut avancierenden schnurgleichen Linie die französische Armee und Napoleon so zum Frühstück aus dem Feld schlagen könne.«
     Den Realismus Rüchels andererseits kennzeichnet seine Position bezüglich der Zusammenhänge von Militär- und Gesellschaftsstruktur Preußens in jenen Jahren. Bekannt ist sein Ausspruch im Kontext der Debatten um die Schaffung einer Landwehr:
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»Die preußische Militärverfassung und Staatswirtschaft ist ein ehrwürdiges Original, rührt man ein Glied an, so erhält die ganze Kette einen Schlag.« (zitiert in: »Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939«, Bd 1, Abschnitt II, München 1983, S. 97 ff)
     Dieser konservative Offizier war aber auch derjenige, der im Namen der schon 1795 eingerichteten Immediat- Militär- Organisationskommission im Jahre 1803 den ihm direkt unterstellten Stabsoffizier Karl Friedrich von dem Knesebeck mit der thematischen Studie »Ausarbeitung unterschiedener Ideen über eine formidable Landmiliz für den preußischen Staat auf den Fall der Not« beauftragt hatte. Die Instruktionen Rüchels für Knesebeck sind im Geheimen Staatsarchiv Berlin aufbewahrt.
     Knesebeck gehörte zu den ersten Mitgliedern der Gesellschaft (Nr. 12 im chronologischen Verzeichnis); seine militärische Position ist im Jahre 1802 als »Capitän, Inspect. Adj. der Potsdamschen Inspection« angegeben (Bd. I, S. 149). Aus seiner Feder stammt nur ein Beitrag in den drei Jahren der Existenz der Gesellschaft:
     »Über die bis jetzt überhaupt und in der preußischen Armee besonders üblichen Methoden der Situationszeichnung der Berge, und die neuere darüber von dem sächsischen Lieutnant Lehmann bekannt gemachte Manier« (Bd. II, S. 315-328). Dieser Beitrag, besser gesagt die Abschrift des mündlichen Vortrags in der Gesellschaft, ist 1803 entstanden, also dem Jahr der Erarbeitung der Studie über die Landmiliz. Dass in diesem hochinteressanten Beitrag kein Wort zur politisch- militärischen Situation Preußens, zur strategischen Debatte um die Landmiliz und zu anderen »heißen« Tagesfragen fällt, ist nicht verwunderlich - hatte sich doch die Gesellschaft in ihrer Satzung verpflichtet (§ 6, Abs. 2), gerade solche Themen öffentlich nicht zu debattieren und erst recht nicht zu publizieren.
Von den Autoren und aktiven Gründungsmitgliedern (Nr. 5 nach Datum des Eintritts) der Gesellschaft soll hier schließlich Heinrich von Minutoli erwähnt werden, der später als Erzieher des Prinzen Carl und als einer der Begründer der Sammlungen des Ägyptischen Museums zu Berlin bekannt wurde. Minutoli (unter dem Namen »von Menu« in den Denkwürdigkeiten zu finden) war zu jener Zeit Hauptmann und Lehrer an der Kadettenanstalt Berlin. Seine Karriere als aktiver Offizier im Truppendienst war durch eine Verwundung im Feldzug am Rhein 1793 beendet worden. Als Mitglied des Lehrkörpers der Kadettenanstalt war er General Rüchel direkt unterstellt, so ist auch wohl zu erklären, dass er die Aufgaben eines »Regisseurs« der Gesellschaft erfüllte, verantwortlich für Ökonomie und Finanzen. Von ihm stammen neun Beiträge in den Jahrgängen 1802-1805, Grundsatzbeiträge zu taktischen Fragen und zu jüngsten Feldzügen der preußischen Armee, Rezensionen und Berichte. Wie Valentini wurde Minutoli in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem vielgelesenen Militärhistoriker.
     Die Neuherausgabe der fünf Bände der »Denkwürdigkeiten« ist ein großer Gewinn für Berlin- Historiker, sie zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Nachdruck der Karten, Zeichnungen und Tabellen höchsten Ansprüchen gerecht wird und dass ein Detail am rechten Platz erscheint - das Siegel (vielleicht sogar eine Medaille) der Gesellschaft mit dem Porträt der Pallas Athene und der laufenden Umschrift SOCIETE MILITAIRE.
     Dieter Weigert
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Helmut Engel (Hrg.)
Standort Berlin- Ostkreuz

Historische Knorr- Bremse. Industriekomplex im Wandel
jovis Verlagsbüro Berlin 2000, 159 Seiten

Das hervorragend illustrierte Buch befasst sich mit dem Wandel eines Industriekomplexes, der das Gebiet rund um das Ostkreuz jahrzehntelang geprägt hat, zu einem der bedeutendsten Dienstleistungszentren der deutschen Hauptstadt.
     1903/04 siedelte die von Georg Knorr betriebene Maschinenbaufabrik von Britz in die Neue Bahnhofstraße im damaligen Boxhagen- Rumemlsburg über.
     Heute ist die in München ansässige Knorr- Bremse AG einer der weltweit führenden Bremsenhersteller für Schienen- und andere Nutzfahrzeuge und mit eigenen Produktions-, Entwicklungs- und Vertriebsstandorten auf allen fünf Kontinenten vertreten. Der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, Heinz Hermann Thiele, geht im Vorwort darauf ein, dass die Knorr- Bremse nach über 80 Jahren an ihren Ursprungsort zurückkehrte.
     Bereits 1989 schlossen die Knorr- Bremse München und der VEB Berliner Bremsenwerk eines der ersten Joint Ventures auf dem Gebiet der DDR. 1991 übernahm die Knorr- Bremse sämtliche Kapitalanteile des Gemeinschaftsunternehmens.
     Aus fabrikatíonstechnischen Gründen erfolgte 1993 die Übersiedlung der Knorr- Bremse Berlin auf das neuerworbene Gelände des ehemaligen VEB Berliner Werkzeugmaschinenfabrik in Berlin- Marzahn, vor 1945 als Hasse & Wrede eine Tochtergesellschaft der Knorr- Bremse.
     Am historischen Ort, in der Neuen Bahnhofstraße, befindet sich heute die Firmenrepäsentanz der Knorr- Bremse.
     Der ehemalige Industriestandort in der Hirschberger Straße und in der Neuen Bahnhofstraße wurde 1992 an den Investor J. S. K. verkauft, der hier das Dienstleistungszentrum Ostkreuz errichtet.

Hinter dem Kürzel verbirgt sich das Architektenbüro Helmut W. Joos, Reinhart W. Schulz und Karsten Krüger- Heyden, ein Wirtschaftsunternehmen aus Frankfurt/ Main mit einem Bauvolumen von 4 bis 4,5 Milliarden Mark, das ca. 200 Mitarbeiter beschäftigt und an zahlreichen Standorten im In- und Ausland vertreten ist.
     Helmut W. Joos weist zum Geleit darauf hin, dassbereits 1992 der sanierte historische Bau an der Hirschberger Straße, das Herzstück des Projektes, und 1995 das Dienstleistungszentrum Nord an den Hauptnutzer, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, übergeben werden konnte.
     Die Publikation wird eingeleitet mit einer historischen Skizze von Landeskonservator Helmut Engel über Ostkreuz und seine Umgebung von der ersten Erwähnung des Lichtenberger Kiezes 1571 bis zur Eingemeindung von Boxhagen- Rummelsburg in die Stadt Lichtenberg und schließlich in die Einheitsgemeinde Groß- Berlin im Jahre 1920.
     Über die Geschichte, insbesondere die bauliche Entwicklung der Knorr- Bremse, berichten Stadtbaurat i. R. Günter Peters und der Leiter des Werkes Knorr- Bremse Berlin, Eberhard Jahn. Sie verschweigen dabei auch nicht, dass bereits im Mai 1934 eine Rüstungsabteilung eingerichtet wurde, nach Ausbruch des Krieges eine große Rüstungshalle entstand und die für die Rüstungsproduktion zur Verfügung stehende Fläche einen Zuwachs von ca. 30 000 m2 aufwies. Die Autoren schildern dann den weiteren Weg des Betriebes als Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG), nach der Übergabe an die DDR 1954 als VEB Berliner Bremsenwerk bis zur Bildung des Gemeinschaftsunternehmens und der Übersiedlung nach Marzahn.
     Ausführlich wird die Baugeschichte des Stammhauses der Knorr- Bremse in der Neuen Bahnhofstraße dargestellt. Die Entwürfe dazu stammten von dem bedeutenden schwedischen Architekten Alfred Grenander.
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Auch der in den zwanziger Jahren an der Hirschberger Straße entstandene Erweiterungsbau wies trotz der zeitlich bedingten gestalterischen Unterschiede die einheitliche Handschrift dieses Architekten auf.
     Einen eigenen Beitrag widmet Helmut Engel dem vielseitigen Schaffen Alfred Grenanders, der zwar vor allem als Architekt der Berliner Hoch- und Untergrundbahn- Gesellschaft bekannt geworden ist, aber auch die Entwürfe für Brücken, Fabrik- und Verwaltungsgebäude, Villen und Landhäuser lieferte und die Innenausstattung von Räumen übernahm.
     Eberhard Jahn ist zusammen mit dem Unternehmenshistoriker Karl-Heinz Kemnitz auch der Autor des Beitrages über die Knorr- Bremse als eines Industriekomplexes im Wandel. Sie beginnen mit der Gründung der Firma von Jesse Fairbanks Carpenter im Jahre 1883, in die Georg Knorr ein Jahr später als Ingenieur eintrat, umreißen auch die Expansion der Firma seit den zwanziger Jahren und ihre Entwicklung nach 1945 in München und an deren Orten und schließen ihre Darstellung ebenfalls in der unmittelbaren Gegenwart ab.
     Helmut Engel geht dann in seinen Beiträgen Die Wende und Kiez Ostkreuz auf die Planungen für den Standort Ostkreuz und in unmittelbarer Nähe für das Gebiet der Rummelsburger Bucht ein.
     Abschließend stellen die Journalistin Christel Kapitzki und der Architekt Gunter Bürk J. S. K. die Architekten des Dienstleistungszentrums Ostkreuz vor und erläutern Planungen und Realisierung bei einem der größten Bauprojekte Berlins, dessen Investitionsvolumen selbst das des Sony- Centers am Potsdamer Platz übersteigt.
     Kurt Laser
Zeuthen. Geschichte und Geschichten

Zusammengestellt von Hans-Georg Schrader
Geiger- Verlag, Horb am Neckar 1998

Kaum vorzustellen vermag man sich, dass es einmal heftigen Streit um Sitzplätze in der Kirche gegeben hat. Dieser Fall ist jedenfalls bald nach Abschluss der Innenrenovierung der Miersdorfer Kirche im Jahre 1835 eingetreten. Miersdorf und Zeuthen waren zu jener Zeit zwar eng beieinander liegende, aber eigenständige Orte, und zum Dorf Zeuthen gehörte zu jener Zeit auch die Kolonie Rauchfangswerder. Zwischen Miersdorf, Zeuthen und Rauchfangswerder entbrannte nach eben diesem Umbau der Kirche, der zwangsläufig zu einer Veränderung der Sitzordnung geführt hatte, der Kampf um die vermeintlich gerechteste Einteilung der Sitzplätze. Ganz hinten, nicht nur wie bis dato hinter den Miersdorfern, jetzt auch noch hinter den Zeuthenern, sollten fortan die Einwohner von Rauchfangswerder sitzen. Die aber hatten, als sie am 8. Februar 1781 vom Kirchenamt Waltersdorf in Miersdorf eingekircht wurden, dabei das Recht zugesprochen bekommen, ihre Stühle vor dem Altar aufzustellen. Ein Privileg, für das jährlich pro Person 20 Silbergroschen zu zahlen waren. Auf dieses Recht nun beriefen sich drei Beschwerdeführer aus Rauchfangswerder in einer Eingabe an den Superintendenten Dölln aus Königs Wusterhausen vom 3. Februar 1837. Dieser musste sich rechtfertigen. Er billigte die Maßnahme des Predigers Arndt, in der Kirchenmitte einen freien Gang zu belassen, zum Altar hin den Mitgliedern der Gemeinde Miersdorf Plätze anzuweisen, dann die Tochtergemeinde, die am längsten zu Miersdorf gehörte, also Zeuthen, und schließlich Rauchfangswerder folgen zu lassen.

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   114   Berichte und Rezensionen   Voriges BlattNächstes Blatt
Die Einwohner von Rauchfangswerder mussten fortan die ihnen ganz hinten zugewiesenen Plätze einnehmen. Auch ihr in dem Schreiben formuliertes Ansinnen, sie, wenn es nicht anders ginge, einer anderen Kirche anzugliedern, »weil wir im Winter ohnehin nicht über die Dahme kommen«, war einfach negiert worden. So konnte es schließlich nur ein schwacher Trost sein, dass die Eingabe einen kleinen Nebeneffekt hatte: Sie wurden wenigstens vor die Tagelöhner gesetzt.
     Das ist, zusammengefasst, eine von unzähligen Episoden aus dem stattlichen (490 Seiten), ansprechend aufgemachten und reich illustrierten Band, der der Heimatgeschichte und Heimatkunde von Zeuthen gewidmet ist. Wohl die meisten Berliner und all jene, die hier einmal Urlaub gemacht haben, wissen natürlich etwas anzufangen mit dem Ort. Südöstlich von Berlin, schon im Brandenburgischen angesiedelt, liegt Zeuthen am östlichen Rande des Teltow, einer eiszeitlichen Ablagerungsplatte, und erstreckt sich fünf Kilometer entlang des Zeuthener Sees, der von der Dahme - früher Wendische Spree genannt - durchflossen wird. Ein das Buch einleitender kleiner geschichtlicher Exkurs von Hans-Georg Schrader, der bei dem Buchprojekt die Regie inne hatte und auch als Autor überaus aktiv war, erleichtert das Verständnis für die folgenden Kapitel. Eigentlich ist die Geschichte Zeuthens die Geschichte dreier Orte: Miersdorf, Zeuthen und Gersdorf, die sämtlich im Landbuch Kaiser Karls IV. (1375) beschrieben werden. Die erste schriftliche Erwähnung des Zeuthener Territoriums, konkret bezogen auf Gerhardstorp, ist auf den 10. Februar 1317 datiert. Jenes Gerhardsdorf oder Gersdorf wird letztmalig 1860 erwähnt, und da schon als Försterei Wüstemark. Miersdorf schließlich ist 1957 mit Zeuthen unter dessen Namen zu einer Gemeinde zusammengelegt worden.
Die nicht immer einfache (wo ist das überhaupt der Fall?) geschichtliche Entwicklung Zeuthens aus der Anonymität geholt und aufgearbeitet zu haben, das ist das Verdienst der Zeuthener Ortschronisten. Ihre ehrenamtliche Arbeit verdient es, anerkannt zu werden. Die Autoren dieser Publikation sind Lehrer, Angestellte, ein Ingenieur, ein Verlagslektor, ein Bodendenkmalpfleger - bis auf letzteren sämtlich bereits im Ruhestand befindlich. Jahrelange Forschungen, viel Kleinarbeit, Gespräche mit Zeitzeugen, das Studium der Kirchenbücher und vieler Quellen mehr sind dem Buch vorausgegangen. Zurückgegriffen werden konnte auf einige Materialien jüngeren Datums, erarbeitet u. a. auch an den beiden Schulen sowie von einigen Institutionen, die ihre eigene Entwicklung kontinuierlich festgehalten haben (Freiwillige Feuerwehr, Männerchor, Institut DESY-IfH, die Segel- und Jachtklubs, der Fontanekreis). Es bestanden und bestehen am Ort aber ca. 60 Organisationen, Vereine, Verbände, Betriebe, Institutionen und Einrichtungen, die das Leben in der Gemeinde mehr oder weniger prägten, deren Entwicklung und Bedeutung zurzeit nur sporadisch erfasst ist. Zahlreiche Zeuthener Bürger haben Material zur Verfügung gestellt: alte Postkarten, Fotografien, Plakate, Urkunden und weitere persönliche Erinnerungen.
     Bereits 1993 hatten sich die Zeuthener Ortschronisten erstmals entschlossen, Teile einer Gesamtchronik zum Druck vorzubereiten. Das Ergebnis erschien 1994 in broschürter Form für die Zeit bis zum 19. Jahrhundert, gedruckt vom Unternehmer Peter Dussmann. Die Beteiligten waren sich damals im Klaren darüber, dass noch umfangreiche Abschnitte darauf warteten, genauer erforscht zu werden: die Periode der Besiedelung und Parzellierung, etwa von 1920 an, die Zeit von 1933 bis 1945, die unmittelbare Nachkriegsentwicklung sowie die Jahre bis 1989 und die Gegenwart.
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Mit dem jetzt veröffentlichten Buch ist ein erster Schritt getan, diese »weißen Flecken« auszufüllen. Den Begriff einer »Chronik« habe man aber dennoch ganz bewusst nicht verwendet, unterstreicht Hans-Georg Schrader, nach der Entstehungsgeschichte der Publikation befragt; der Eindruck von Vollständigkeit sollte nicht erweckt werden.
     Solcherart Eingeständnis ehrt die Chronisten umso mehr, da das Buch inhalts- und facettenreich ist, wozu neben den tragenden Beiträgen nicht zuletzt auch kurzgefasste »Historiaden« sowie Heimatgedichte und -lieder und natürlich viele Illustrationen aus alter sowie neuerer Zeit beitragen. Hervorzuheben sind auch die Zeichnungen damaliger Straßenzüge und Gebäude von Bernd Fischer, die auflockern, einen anderen Blick als Fotografien geben. Dokumentarisch wird belegt, wie der Landadel (hier das Geschlecht derer von Enderlein) schon in ganz früher Zeit versucht hat, durch Landverkauf - es betraf z. B. die Hälfte der Ortschaft Miersdorf, die später zurückgekauft wurde - zu Geld zu kommen. Beantwortet wird - von Hans-Günter Mattern - die Frage, woher es rührt, dass einst in der Zeuthener Gegend der Flussname »Spree« im Gebrauch war (»Ziethen an der Spree«), warum z. B. Theodor Fontane in seinem Band IV der »Wanderungen« (»Spreeland«) von der »Wendischen Spree, die auch Dahme genannt wird«, spricht. Der Leser findet des Rätsels Lösung hierfür genauso wie - von Gisela Tosch, einer in Zeuthen ansässigen Nachfahrin der Hankels - allerlei Aufschlussreiches über »Hankels Ablage«, wo bekanntlich Fontane einige Zeit verbrachte und seinen Roman »Irrungen, Wirrungen« vollendete.
     Weiter geht es ins Detail. Zunächst wird die Geschichte der Patronate, Kirchen und Schulen behandelt; bei diesen Institutionen gab es, was nicht verwundert, die umfassendsten Materialien. Die nächsten Abschnitte betreffen Brücken, Fähren, Rathaus, Eisenbahn und S-Bahn, Postamt, Freiwillige Feuerwehr, Seglerverein und Jachtklub, die Privatschule Mau, der nur ganz kurze Existenz beschieden war, ein jüdisches Kinderheim, den Männerchor, Rast- und Gaststätten, die Gemeindebibliothek und noch vieles mehr.
Ins Bild rücken die Pfarrer, die an den Kirchen in Miersdorf und Zeuthen in guten wie in schlechten Zeiten gewirkt haben. So wird geschildert, wie sich Rechtsanwalt Horst Holstein, Präses Scharf, Otto Dibelius und Superintendent Werner für den von den Nazis mehrmals verhafteten Pfarrer Bechthold einsetzten, der der »Bekennenden Kirche« angehörte. Interessantes erfährt der Leser über die ortsansässigen Küster, darüber, worin ihre Pflichten bestanden, was sie alles zu leisten hatten; über Lehrer und Schuldirektoren; über Ziegelmeister, die die Produktion in der Miersdorfer Ziegelei prägten; über die Mühlenbesitzer; über die Wehrführer; über die Vorsitzenden und Dirigenten des Männerchores. Beschrieben wird das Schulzenamt, genannt werden die Namen der Dorfschulzen, Gemeindevorsteher und der Bürgermeister, die in Miersdorf und Zeuthen gewirkt haben.
     Das Buch enthält viele »Geschichten« über Menschen, die in irgendeiner Weise, zu ganz verschiedenen Zeiten, mit Zeuthen zu tun hatten, hier auch, zumindest zeitweilig, gewohnt haben. Das gilt, um nur einige zu nennen, für den Flugzeugbauer Edmund Rumpler genauso wie für den Kaufhausmagnaten Rudolph Hertzog oder die bis zum heutigen Tag umstrittene (wegen NS- Propagandafilmen) Regisseurin Leni Riefenstahl, für Prof. Dr. Dr. Walter Friedrich, Mitarbeiter von Röntgen, 1951-1955 Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ebenso wie für den Komponisten Prof. Paul Dessau (gab in der Zeuthener Schule, die heute seinen Namen trägt, Kindern Musikunterricht) oder die Schriftstellerin Ruth Kraft. Da in dem Buch viele Personen und Sachverhalte oft mehrmals, d. h. an verschiedenen Stellen, mit unmittelbaren Bezügen zur Berlin- und Brandenburggeschichte vorkommen, würden sich, nicht zuletzt für gezieltes »Querlesen«, eine Art von Register und eine Zeittafel als vorteilhaft erweisen. Gleiches gilt auch für die Veranschaulichung durch Karten, auf die leider bis auf eine Ausnahme (Kartenausschnitt aus der Zeit um 1875 auf S. 34) verzichtet worden ist.
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Nicht alles, was erzählt wird und die Chronisten erfahren haben, erweist sich letztendlich als belegbar. Daraus resultieren gewisse Schwierigkeiten. So konnte die nationalsozialistische Zeit, worauf die Chronisten verweisen, bisher noch nicht ausreichend aufgearbeitet werden. In Gesprächen mit Senioren ergaben sich immer nur Bruchstücke, einzelne Erinnerungen oder verhaltene Stellungnahmen. Nur spärlich vorhanden sind Materialien und Dokumente aus dieser Zeit, die dennoch an Hand von lokalen Fakten und Ereignissen unverbrämt dargestellt wird. Das betrifft antijüdische Handlungen, das Lager für französische Kriegsgefangene auf dem Gutshof in Miersdorf, Alltagssituationen aus der NS-Zeit, Stimmungsbilder, aber auch das in den Orten nüchterne, unspektakuläre Ende des Krieges 1945. Ausführlich ist die Entwicklung Zeuthens unmittelbar nach dem Krieg und in den vier Jahrzehnten Existenz der DDR dargestellt. Über die Zeit von 1989 bis 1997 schließlich wird vorerst lediglich ein Überblick in Form von jeweiligen Jahresrückblicken gegeben. In ihnen wird versucht, als wichtig erachtete Ereignisse und Begebenheiten zumindest beschreibend festzuhalten. Wie man ersehen kann, harren der eine oder andere Zeitabschnitt, vor allem auch das eine oder andere Ereignis, noch einer tieferen, präziseren Erforschung. Das haben die Zeuthener Ortschronisten durchaus im Blick. Sie freuen sich über jedes neue Dokument und stehen jeder Art von Hinweisen, natürlich auch kritischen, aufgeschlossen gegenüber. Im Augenblick sind sie dabei, so erklärt Hans-Georg Schrader im Gespräch, einen zweiten Teil zu erarbeiten, von dem 80 Prozent bereits vorliegen. In ihm wird dann u. a. auch der Fußballverein drin sein, der in Miersdorf Tradition hat. Enthalten sein wird, neben vielen anderem, eine gerichtliche Auseinandersetzung zwischen Berlin und Zeuthen, die beide Anspruch auf Rauchfangswerder erhoben hatten. Im Ergebnis dieses Gerichtsstreits, der von 1887 bis 1903 dauerte, wurde Rauchfangswerder schließlich Schmöckwitz zugeordnet. Es ist vorgesehen, im Anhang viele Bilder aus dem alten Miersdorf/Zeuthen zu veröffentlichen.
     Mit der vorliegenden Publikation jedenfalls, das kann schon einmal festgehalten werden, ist ein überaus lesens- und anschauenswertes »Heimatbuch Zeuthen« entstanden.
     Hans Aschenbrenner
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Dirk Syndram
Die Ägyptenrezeption unter August dem Starken

Der »Apis- Altar« Johann Melchior Dinglingers,
Verlag Philipp von Zabern Mainz 1999

Auch in Berlin und Umland stößt man nicht selten auf Obelisken, Sphingen und Pyramiden. Zumeist findet man derlei ägyptisierende Denkmäler in Schloßgärten, auf Friedhöfen oder im Stadtbild Berlins. Nicht immer erschließen sie sich dem Betrachter auf Anhieb, zumal sie einem außereuropäischen Kulturkreis entspringen. Von daher ist die bei Zabern erschienene Monographie über den 1731 von dem sächsischen Goldschmied Johann Melchior Dinglinger (1665-1731) fertiggestellten Apis- Altar auch für den Berliner Leser von Interesse.
     Ihr Autor, der Kunsthistoriker Dirk Syndram (Jg. 1955, 1985 in Hamburg promoviert, 1986/87 Museumsassistent in Berlin und von 1987 bis 1993 Leiter der Kunstgewerbesammlung in Bielefeld), ist seit 1993 Direktor des Grünen Gewölbes in Dresden. Genau dort stand das spätbarock- ägyptisierende Meisterwerk Dinglingers 204 Jahre. 1942 verbrachte man den Altar zusammen mit den übrigen Kunstschätzen des Grünen Gewölbes auf die Festung Königstein im Elbsandsteingebirge. 1945 requirierte dann eine Spezialeinheit der Roten Armee die komplette Schatzkammersammlung und 1958 kehrte die Kriegsbeute nach Dresden zurück.
     Zwar hatten sich schon mehrere Wissenschaftler mit dem Altar befaßt, Syndram jedoch, der die Instrumentarien der Kunstgeschichte und Archäologie spielerisch beherrscht, gelingt der Versuch, sich »auf einem neuen Weg dem rätselhaften Spätwerk Johann Melchior Dinglingers zu nähern« (S. 3) - angesichts der barocken Überladenheit des Altars mit unzähligen Figuren der polytheistischen ägyptischen Götterwelt gewiß kein leichtes Unterfangen.

Die Tektonik des Prunkaltars und ebenso die durch ihre »Formenfülle sinnverwirrende Aufführung altägyptischer Kunstwerke und Symbole« werden vom Autor scharfsinnig analysiert, so daß dem Leser rasch der dreigliedrige Altaraufbau (Sockel - Aufsatz - Bekrönung) und das ikokographische Programm klar vor Augen tritt.
     In einer lateinisch gefaßten Inschrift auf der linken Seite des Obelisken hat der Goldschmied Augusts des Starken ausdrücklich betont, daß die »alten Denkmäler« (Isis, Osiris, Harpokratis, Serapis, Nilpriester, Apisstier, Anubis, Bastet, Krokodile, Schlangen, Seelenvögel, Nilbarke, Kanopen, Uschebtis, Abraxasgemmen etc. pp.) »getreu« wiedergegeben worden seien. Daher geht Syndram der Vorbilderfrage besonders ausführlich nach (S. 21-38). Auf dreidimensionale Vorbilder konnten Dinglinger und die mitwirkenden Künstler (Steinschneider, Emailmaler, Bildhauer) nicht zurückgreifen, da ihnen in den königlich- kurfürstlichen Sammlungen nur ein geringer musealer Vorbilderbestand an Aegyptiaca zur Verfügung stand.
     Als unmittelbare Vorbilder für den figuralen und ornamentalen Schmuck dienten vielmehr ägyptisierende Denkmäler römischer Provenienz, die sich hauptsächlich »in privaten, über ganz Europa verstreuten Antikensammlungen befanden« und 1719 von dem Benediktinerpater Bernhard de Montfaucon (1655-1741) als zehnbändiges Kupferstichwerk (mit 40 000 Abbildungen auf 1 200 Tafeln!) in Paris publiziert worden waren. 1724 traten noch fünf weitere Bände hinzu.
     Doch nicht nur für Dinglinger in Dresden, sondern für nahezu alle europäischen Künstler wurde Montfaucons gigantisches Antikenkompendium »zu einer der am häufigsten benutzten Vorbildersammlungen des 18. Jahrhunderts«. Neben Montfaucon wurden noch andere, ältere Stichwerke wie z. B. die »Teutsche Academie« von Joachim v. Sandrart (1606-1688) und der »Oedipus aegyptiacus« von Athanasius Kircher (1601-1680) herangezogen.
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Im zuerstgenannten fand Dinglinger die Vorlage für die beiden Nilpriesterstatuetten auf den Konsolen des Altaraufsatzes (Abb. 2, 4, 18-19), im letzteren die Vorlage für den den Altaraufsatz bekrönenden Obelisken (S. 36 und Abb. 11, 38). Die eigentliche künstlerische Leistung aber bestand vor allem darin, die zweidimensionalen Vorlagendarstellungen in dreidimensionale Skulptur und in leicht erhabene Reliefs zu übertragen und beides zu einem neuen Ganzen zu verbinden.
     Durch einen Vergleich der figürlichen Altarbestandteile mit den auf Montfaucons Kupferstichen abgebildeten Denkmälern hat der Verfasser deutlich herausgearbeitet, daß bei etlichen Altarfiguren die archäologische Genauigkeit der Dresdener Künstler bis ins einzelne Detail geht. Dennoch kann nicht von einer rein mechanischen, sklavisch genauen Kopie die Rede sein, da die plastisch gewonnenen Vorbilder neu in Szene gesetzt und zugleich in den Gesichtszügen, Einzelproportionen und im Ornament des kostbaren Juwelenschmucks analog dem spätbarocken Darstellungsmodus abgeändert wurden.
     Auch die Deutung des Apisaltars (S. 39-40) ist überzeugend: Er war kein Auftragswerk, sondern ein sehr persönliches Kunstwerk, das »allein aus dem Gestaltungswillen des Künstlers und auf dessen eigenes finanzielles Risiko hin geschaffen wurde.« Mit dieser seiner letzten großen Arbeit griff er »einen zentralen Inhalt des christlichen Glaubens auf: den Glauben an die Wiederauferstehung nach dem Tode und an das ewige Leben.« Nicht so sehr die Darstellung des altägyptischen Pantheons bzw. der Mythos von Isis und Osiris, sondern die ewige Wiederkehr von Geburt und Tode war das Kernthema des letzten Meisterwerks von Dinglinger.
Ein ebenso informativer wie interessanter »Überblick über die Ägyptenrezeption vom Spätbarock bis zum Frühklassizismus« (S. 54-57) beschließen das sehr empfehlenswerte Buch. Mit exzellenten Photos ausgestattet und preiswert im wahrsten Sinne des Wortes (38,- DM), sollte es unbedingt Einzug halten in die Bibliothek eines jeden Liebhabers der künstlerischen Ägyptenrezeption, die wie gesagt auch in unseren Breitengraden zahlreiche und teilweise noch unerforschte Spuren hinterlassen hat.
     Harry Nehls
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/2000
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