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Bernhard Meyer
»Ewig in der Welt Gedächtnis«

Der Mediziner Johann Christian Reil (1759-1813)

Seine großen wissenschaftlichen Leistungen vollbrachte er während seiner 23-jährigen Zugehörigkeit zur Friedrichs- Universität zu Halle/ Saale. Hier fand der gebürtige Ostfriese seine zweite Heimat. Dennoch spielte Johann Christian Reil für die Berliner Wissenschaftsgeschichte eine herausragende Rolle, gehörte er doch bei Universitätsgründung 1810 zu den Ratgebern Wilhelm von Humboldts (1767-1835) und zu den ersten Ordinarien der Charité. Durch seinen frühen Tod 1813 blieben ihm nur wenige Jahre in der preußischen Haupt- und Residenzstadt, die noch belastet wurden durch die napoleonische Fremdherrschaft und die Befreiungskriege. Philosophisch entwickelte er sich am Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Wegbereiter der romantischen Medizin, die wesentlich auf der von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) hervorgebrachten Naturphilosophie beruhte. Die romantische Medizin versuchte um 1800 als Denkansatz, Krankheiten und deren Verläufe quantitativ zu beobachten,


Reil nach einem Stich von Dähling (1812)

 
zu registrieren und zu vergleichen, ohne das Streben zur unbestechlichen naturwissenschaftlichen Untersuchung und Begründung ihrer Ursachen erkennen zu lassen.
     Die Vertreter der romantischen Medizin bildeten keine einheitliche Gruppierung, wandelten wie Reil ihre methodischen Grundsätze ab. Kennzeichen sind für die romantische Medizin am ehesten solche Postulate wie Einheit von Natur und Geist, Leib und Seele und der Versuch, den Menschen in ein universelles System der Natur einzuordnen.

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Bei allem sind spekulative Elemente unübersehbar.
     Eigentlich fühlte sich Reil im Saalekreis wohl. Er erhielt ein erkleckliches Salär als Universitätsprofessor und als Stadtphysikus von Halle. Ins Wanken geriet seine Sympathie für Halle nur, als am 20. Oktober 1806 die Universität durch Preußens Niederlage bei Jena und Auerstädt geschlossen und Halle dann dem neu geschaffenen Königreich Westfalen zugeschlagen wurde. Seiner Initiative ist es maßbeglich zu danken, dass bereits am 8. März 1808 die Hallenser Alma mater wiedereröffnet werden konnte. Bei dieser Gelegenheit erhielt er am Domplatz ein neues, vorteilhafteres Gebäude. Dennoch verließ er 1810 Halle, denn er sah seine Ambitionen als akademischer Lehrer in der Humboldtschen Universitäts- Konzeption Gestalt annehmen und wollte bei deren Umsetzung in Berlin dabei sein. Dies umso mehr, als Humboldt ihn in Halle aufsuchte, um sich seiner Mitarbeit in Berlin zu vergewissern. Ihm schwebte der akademisch gebildete Arzt im Gegensatz zu den »Routiniers« vor, die als Feldschere und Wundärzte verschiedener Kategorien vorrangig handwerklich ausgebildet wurden. Das flache Land mit seinen einfachen Bewohnern verdiene verlässliche Ärzte. In diesem Zusammenhang fiel sein Wort von der Verantwortung des »Staates als Arzt« für seine Untertanen.
In Berlin glaubte er, günstigere Bedingungen für die natur- philosophische Medizin vorzufinden bzw. selbst gestalten zu können. In seiner Abschiedsrede vor seinen Hallenser Kollegen erklärte er am 8. September 1808: »Die Idee ist an die Stelle der mechanischen Prinzipien getreten, und die Beobachtung hat dadurch einen Standpunkt gewonnen, von dem aus sie die Dinge in ihrem natürlichen Verhältnis erblickt.«1)
     In Berlin fand er personell und materiell nicht die für ihn günstigsten Bedingungen vor. Zwar reizte Aber ihn reizte natürlich die Nähe zu Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), dem eingesetzten Gründungsdekan der Medizinischen Fakultät (Charité), der schon seit 1798 in der Stadt weilte und im medizinischen Berlin bei der Bevölkerung und am Hofe einen hervorragenden Ruf genoss. Seine weiteren Fakultätskollegen, der Physiologe Johannes Adam Horkel (1769-1846), die Anatomen Karl Asmund Rudolphi (1771-1832) und sein Hallenser Doktorand, Christoph Knape (1747-1831), bildeten zusammen mit dem Chirurgen Karl Ferdinand von Graefe (1787-1840) eine namhafte Fakultät.
     Mit Graefe, seinem Schüler aus Hallenser Zeiten und Vater des späteren Begründers der modernen Augenheilkunde, Albrecht von Graefe (1828-1870), wurde er vorerst in ein Mietshaus in der Friedrichstraße 101, also außerhalb der Charité, einquartiert.
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Diese galt als Hospital mit niedriger Pflegestufe und relativer Weiträumigkeit, die für Lehrzwecke als ungeeignet angesehen wurde. Hinzu kam ihre ausdrücklich betonte Abgelegenheit »von der Stadt« und die damit verbundenen weiten Wege für Studenten vom Hauptgebäude der Universität Unter den Linden, wo die theoretischen Institute ihr Domizil hatten. Und so fand sich Reil im Erdgeschoss eines Wohnhauses wieder, während Graefe den ersten Stock bezog, wobei jeder über 12 Betten verfügte. Da die Mieter der oberen Etagen sich über Geruchsbelästigung und freie Einsicht in die Operations- und Verbandsräume beklagten, Tierskelette auf dem Balkon und das Anfertigen anatomischer Präparate im Keller monierten, zog Graefe schon nach einem Jahr wieder aus. Reil musste ausharren, die Klinik zog erst nach seinem Tod unter August Wilhelm Berends (1759-1826) in die nahe Ziegelstraße. Reil beklagte sich nicht, aber er war oft in Halle. Dort hatte er die Eröffnung einer Badeanstalt im Sinne einer Kureinrichtung ideell und finanziell vorangetrieben und die Schaffung des Solbades Salzelmen gefördert. Zu beiden Einrichtungen fühlte er sich immer wieder hingezogen. Während er in Halle rundum auf Anerkennung stieß, liefen die Angelegenheiten in Berlin zögerlicher, und ihm ungewohnte Rivalitäten mit Fachkollegen mehrten sich. Reils erste intensive Bekanntschaft mit Berlin reichte bereits in den Spätsommer 1782 zurück, als er nach der Beendigung seines Studiums in Halle mit gleichzeitiger Promotion zum Dr. med. et chir. zur Erreichung der Approbation den obligatorischen »Cursus anatomicus« in Preußens Hauptstadt absolvieren musste. Er fand seinerzeit für ein Jahr Unterkunft im Hause von Henriette (1764-1847) und Markus Herz (1747-1803). Den Arzt am Jüdischen Krankenhaus Markus Herz kannte Reil schon, als der noch Student in Halle war. Reil bewunderte an ihm die Fähigkeit, die aufklärerische Philosophie Kants (1724-1804) mit der Medizin und den Naturwissenschaften in Verbindung zu bringen. Hier nun bekam er von Herz aus erster Hand Interpretationen Kantscher Ideen, die den »Briefen an Aerzte« zugrunde lagen. Später sollte man von Reil ebenso wie von Herz als dem »philosophischen Arzt« sprechen. Hufeland vermerkte dann auch bissig, dass aus seinen Vorlesungen nur »Erdenkinder« hervorgingen, während Reil »höher gebildete Sonnenkinder« entließ, weil er ihnen zusammen mit der Medizin auch philosophische und dichterische Worte vermittelte.
     Nach dem Berliner Jahr entschied sich Reil, in Norden, einer kleinen Stadt seiner ostfriesischen Heimat, eine ärztliche Praxis zu eröffnen. Land und Menschen waren dem am 20. Februar 1759 in Rhaude (Kreis Leer) geborenen Pfarrerssohn bestens bekannt.
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Für seine medizinisch unterversorgten und in alten Traditionen verhafteten Ostfriesen schrieb er 1785 einen praktischen Ratgeber mit dem Titel »Diätetischer Hausarzt für meine Landsleute«, der beste Verbreitung fand. Auf die Dauer füllte ihn die ländliche Arztpraxis nicht aus. So gab er dem Drängen seiner Hallenser Lehrer, des Anatomen Philipp Friedrich Theodor Meckel (1755-1803) und des Internisten Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen (1742-1788), nach, wieder an die Universität zu kommen. 1787 verließ er Ostfriesland, um eine glänzende, seinen Fähigkeiten entsprechende Hochschullaufbahn in Halle einzuschlagen.
     Sein Start als 28-jähriger war mehr als furios: Sofortige Extraordinatur und nach dem Typhustod seines Mentors Goldhagen 1788 das Ordinariat, die Heirat mit Johanna Wilhelmine Leveaux (gestorben 1813) am 15. Oktober 1788 und im folgenden Jahr das Amt des Stadtphysikus. Reil machte sich als Arzt für Inneres, Augen und Nervenkrankheiten, als Hochschullehrer mit zahllosen Vorschlägen für ein verbessertes Medizinstudium, als Forscher u. a. auf dem Gebiet der Gehirnanatomie und als Philosoph des Übergangs von der Aufklärung zur Naturphilosophie sowie als Förderer des Badewesens in und um Halle einen Namen. Anlässlich seines 100. Todestages 1913 bezeichnete der Wiener Medizinhistoriker Max Neuburger Reil als »feinsinnigen Beobachter am Krankenbett, als Diagnostiker, als medizinischen und chirurgischen Therapeuten, als pathologischen Anatomen und Experimentator«.2)
Bald galt er als Wortführer der Fakultät. Bereits 1782 nach dem Vorbild seiner Lehrer Freimaurer geworden, wurde er 1793 Mitglied der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina. So blieben Rufe nicht aus, wie 1802 nach Göttingen und 1809 nach Freiburg, die er alle rigoros ablehnte. Die Hallenser achteten und ehrten ihn umso mehr, verliehen ihm den Titel Oberbergrat, billigten ihm 900 Taler Jahresgehalt zu und übertrugen ihm ein Anwesen auf dem Giebichenstein (Reilsberg), wo seine Villa entstand und sich heute der Bergzoo nebst seiner stattlichen Grabstätte befindet.
     In Reils Schrifttum finden sich viele für seine Zeit moderne Ansichten. So räumte er der Naturheilung breiten Raum ein, ohne die Therapie darauf zu beschränken, wie es Lehrmeinung war. Die Beobachtung am Krankenbett müsse durch Triebkräfte der Naturforschung ergänzt werden. Als einer der ersten Ärzte erkannte er die Bedeutung des Schmerzes als Wegweiser für diagnostische Überlegungen. Neuartig auch die von ihm verfochtenen psychischen Heilmethoden, die er der arzneilichen und chirurgischen Therapie gleichwertig an die Seite stellte. Er verurteilte das starre Festhalten an Dogmen, die er durch scharfe Beobachtung, genaue Untersuchung, sorgsame Krankenbehandlung und selbstständiges Denken ersetzt sehen wollte. Das Ideal eines akademisch handelnden Arztes bestand für ihn in der Anwendung wissenschaftlicher Naturerkenntnisse in Harmonie mit psychischen, arzneilich- diätetischen und chirurgischen Heilmethoden.
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So finden wir Reil auf Seiten der wenigen, die keine Notwendigkeiten für eine Trennung von Medizin und Chirurgie sahen.
     Die Übersiedlung Reils 1810 nach Berlin hing mehrfach am seidenen Faden. Als Humboldt kurz vor der Inaugurationsfeier am 15. Oktober 1810 sein Behördenamt aufgab, wollte Reil seine Zusage zurückziehen, obwohl er schon ein Haus gemietet hatte. Er kam nach Berlin, wurde 1811 der erste gewählte Dekan der Medizinischen Fakultät und übernahm sogar die »Wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen« beim Ministerium des Innern. Max Lenz, der Chronist der Berliner Universität, vermerkte dazu: »So ward die medizinische Fakultät durchaus nach dem Wunsche des großen Hallenser Mediziners organisiert und Hufeland auch in diesen Fragen ganz in den Hintergrund geschoben.«3) Aber Reil spürte allenthalben die politische und finanzielle Misere des politisch am Boden liegenden Preußens, sodass einer seiner dringlichsten Wünsche, die psychologische Heilmethode als Fach zu besetzen, unerfüllt blieb.
     Belastend waren für Reil auch die zunehmenden Spannungen mit seinem einstigen Schüler Graefe. Die wurden am offensichtlichsten in der unterschiedlichen Beurteilung und im Einsatz für das preußische Lazarettwesen. Aus patriotischer Gesinnung heraus wandte sich Reil 1813 im Rahmen der Befreiungskriege intensiv diesem Teil des preußischen Militärwesens zu.
Diese Haltung bewunderte auch Ernst Moritz Arndt in seinen Erinnerungen, als er in Reil »einen Mann mächtiger und gewaltiger Leidenschaften« sah.4) Als im Mai 1813 die Berliner vor dem Anrücken napoleonischer Truppen aus der Stadt flohen, blieb Reil mit einigen anderen Professoren. Bei dieser Gelegenheit bemerkte Reil, dass sich Graefe nicht genügend um das ihm unterstellte Lazarettwesen in Berlin kümmerte, und unterrichtete davon die Obrigkeit. Reil bat darum, ihm die Hauptleitung für die Militärhospitäler in Leipzig und Halle zu übergeben. Bevor er abreiste, verabschiedete er sich in Berlin von seinem Arztfreund Karl Johann Christian Grapengießer (1773-1813), der sich im letzten Stadium einer Typhusinfektion befand. Bei der Abschiedsumarmung, so vermutete Reil, habe er sich selbst infiziert. Reil fuhr trotzdem zu den ihm angewiesenen linkselbischen Hospitälern und erlebte die medizinische Katastrophe der für die Preußen siegreichen Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis zum 18. Oktober 1813, der bis dahin größten Schlacht der Weltgeschichte. Für die etwa 30000 Verwundeten aller Nationen reichten weder die Lazarette noch waren sie mit dem notwendigen Sanitätsmaterial ausgestattet. Darüber hinaus offenbarte sich deutlich die miserable Ausbildung der militärischen Sanitäter und Feldschere. Reil organisierte tragbare Baracken, führte eine strenge Quarantäne für die Flecktyphuserkrankten ein und forderte die Bürger zur Mitarbeit auf, um den Seuchen Einhalt zu gebieten.
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Täglich starben in seinen Lazaretten bis zu 800 Soldaten, auch Reils eigener gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich zusehends. Seiner Frau in Berlin hatte er keine Nachricht von der Ansteckung gegeben. Sie erwartete ein Kind, bei dessen Geburt sie dann im Dezember 1813 verstarb. Reil begab sich fiebernd und bereits delirend zu seiner Schwester in Halle, wurde von seinen erwachsenen Töchtern besucht und gepflegt, ehe er am 22. November 1813 morgens gegen zwei Uhr starb. Begraben wurde er auf seinem Berg, dem »Reilsberg«. 1830 schufen Verwandte eine stattliche, heute noch im Bergzoo existierende Grabstätte.
     Für die Saisoneröffnung des Theaters der von ihm geschaffenen Badekureinrichtung am 17. Juni 1814 schrieben Goethe (1749-1832) und sein Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Riemer (1774-1845) das Vorspiel »Was wir bringen« zur Ehrung von Johann Christian Reil mit der Verszeile, dass er »ewig in der Welt Gedächtnis« bleiben werde. Die Erinnerung an ihn verblasste dennoch rasch, denn Hufeland verfasste bald nach Reils Tod die Schrift »Nicht Anklage, sondern Klage«, in der die Naturphilosophie Reils in Acht und Bann getan wurde: »Mit Betrübnis habe ich Reils Entwurf einer allgemeinen Therapie gelesen ... Ich meinesteils als einzelnes Mitglied des großen Kreises der deutschen Aerzte protestiere dagegen, dass Reils naturphilosophische Fantasien und Melancholien nach seinem Tode bekannt gemacht werden, weil dem Andenken des hochverdienten Mannes durch Bekanntmachung seiner Blößen geschadet wird ...«5)
Als Hufeland dies verkündete, war er am Hofe und im zuständigen Ministerium der einflussreichste Mediziner Preußens. Dieses wenig kollegiale Vorgehen bewahrte Hufelands eigenes, weitgehend empirisches Werk nicht vor dem Vergessen. Die folgende naturwissenschaftliche Epoche ging schnell über seine Lehren hinweg. Der exzellente Kenner der Berliner Universitätsgründung Max Lenz urteilte: »Hufelands Ideen standen den Reilschen gegenüber, die beide als die großen Leuchten ein paar Jahre an ihr nebeneinander geglänzt haben ... Hufeland hat mehr geirrt als Reil, weil Reil das besaß, was dem anderen fehlte: der Wille, einen Weg zu finden, der Mut, zu irren, die Gabe, Probleme zu stellen.«6)

Quellen:
1 Abschiedsrede 1810, in: J. C. Reils kleine Schriften, wissenschaftlichen und gemeinnützigen Inhalts, Hrg. C. F. Nasse, Halle 1817, S. 317
2 Max Neuburger, Johann Christian Reil, Stuttgart 1913, S. 13
3 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich- Wilhelm- Universität zu Berlin, Halle 1910, S. 304
4 Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus meinem äußeren Leben, Werke Bd. 1, Leipzig 1892, S. 184
5 Christoph Wilhelm Hufeland, Nicht Anklage, sondern Klage, in: Journal der praktischen Heilkunde. Jg. 1816
6 Max Lenz, a. a. O., S. 343

Bildquelle: Archiv Autor

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Theodor Fontane

Contenti estote! (Seid genügsam)

Tieck, jung noch, kam zum alten Reil:
»Herr Geheimrat, ich leide schon eine Weil',
eigentlich habe ich schon immer gelitten
Ich möchte mir Ihren Rat erbitten.«

»Nun lassen Sie hören, lieber Tieck,
vielleicht Migräne oder Kolik?
Sie schütteln den Kopf.
Vielleicht was am Herzen,
vielleicht an der Leber? Haben Sie Schmerzen?«

»Nicht eigentlich das.
Wohl mal, daß es sticht,
aber wirkliche Schmerzen habe ich nicht.«
»Sehr erfreulich. Und wenn ich's damit nicht traf,
wie steht's mit der Hauptsach'?
Wie steht's mit dem Schlaf?«

»In dem Punkt zähl' ich zu den Gesunden,
ich schlafe doch mindestens meine neun Stunden.«
»Vortrefflich. So bleibt uns als letztes Gebiet
nur noch die Verdauung; wie ist der Appetit?«

»Auch damit geht es, ich kann nicht klagen.
Ja, ich glaube, mein Bestes ist der Magen:
Oft wenn ich erschöpft bin,
mit Freunden am Tische,
gleich hab' ich wieder die volle Frische.«

Da lacht boshaft der alte Reil:
»Lieber Tieck, mit Ihnen hat es nicht Eil'.
Appetit und Schlaf und keine Schmerzen,
da danken andere Gott im Herzen.

Ihre Krankheit ist nichts als ein krankhaftes Verlangen,
es ist Ihnen immer zu gut gegangen.
Ein bißchen mehr Sorge bei schmälerem Brote,
das fehlt Ihnen, Freund. Contenti estote!«

Quelle:
entstanden zwischen 1878 und 1891, Erstdruck 1892;
in:T. Fontane, Gedichte, 5. Auflage, Berlin 1898

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
www.berlinische-monatsschrift.de