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Horst Helas
»Ein Ghetto mit offenen Toren«

Juden in unserer Mitte

Berlin blieb in den Jahren der Weimarer Republik eine Stadt, die sich - wie schon in der Kaiserzeit - durch ein ständiges Kommen und Gehen vieler Menschen auszeichnete. Unter diesen Männern, Frauen und Kindern, die vor allem aus dem Osten in Deutschlands Hauptstadt strömten, waren auch viele Juden.1)
     Die »Neuen«, die oft so besonders fremd gekleidet waren und ihre eigene Lebensweise mitbrachten, wurden von den Berlinern, Juden wie Nichtjuden, mit gemischten Gefühlen betrachtet. Die meisten schon lange in Deutschland lebenden, um weitgehende Assimilierung bemühten jüdischen Familien, von denen viele selbst als in Preußen lebende Binnenwanderer aus Gebieten um Posen (Poznan) und Bromberg (Bydgosz) nach Berlin gekommen waren, wollten mit ihren neu ankommenden Glaubensgenossen wenig zu tun haben. Diese ihrerseits waren kaum bereit, sich zu assimilieren, hielten besonders streng an den überkommenen Sitten und Bräuchen fest und pflegten zudem einen besonders strengen, orthodoxen religiösen Ritus. In der Umgangssprache wurden sie pauschal als »Ostjuden« bezeichnet.2)

Viele der Ankommenden fanden ihr erstes Wohnquartier in den engen Straßen und Gassen nördlich vom Alexanderplatz. Insbesondere in der Grenadierstraße (heute Almstadtstraße) und den benachbarten Straßen fanden sie auf engstem Raum Unterkunft, oft bei Landsleuten, die vor ihnen nach Berlin gekommen waren. Wie sie es gewohnt waren, bildeten diese Menschen auch in Berlin kleine, separate Betgemeinschaften, die oft alle Familien aus einer bestimmten Stadt oder die Anhänger eines besonders bekannten Rabbiners vereinten. In kleinen Betsälen und Synagogen fand man sich - oft täglich - zum Gebet und dem Studium der heiligen Bücher zusammen.
     Hebräische Schriftzeichen an Gaststätten und Geschäften wiesen darauf hin, dass man in dieser Gegend zum Essen und Trinken alles so bekam, wie es die traditionellen Vorschriften verlangten. Insbesondere die Grenadierstraße galt in den Jahren der Weimarer Republik als ein »Ghetto mit offenen Toren«, wie es ein ehemaliger Berliner, der heute in Israel lebt, einmal beschrieben hat:
     Die Grenadierstraße, das war die Straße, in der wir faktisch lebten. In dieser Straße war das Zentrum der polnischen Juden, und sie war hauptsächlich von Juden bewohnt. Dort war ein Lebensmittelgeschäft Tennenbaum und ein Fleischgeschäft Sussmann, es gab ein Geflügelgeschäft - Szydlow, ein rituelles Tauchbad, ein Restaurant, eine jüdische Nachmittagsschule für ausschließlich jüdische Fächer, um zu ergänzen, was am Vormittag nicht gelernt wurde.
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Die Synagogen der polnischen Juden waren dort, Stibbelek wurden sie genannt, das heißt kleine Stuben, in denen man betete, jede hatte ihren eigenen Ritus. Nummer 43, Nummer 42, Nummer 36, Nummer 37, unten und oben, Nummer 6a und noch weitere. Diese Betstuben waren in den Häusern hinten stationiert, nach außen unkenntlich und deswegen wurden sie in der »Kristallnacht« verschont. Am Samstag war die Straße ruhig, kaum fuhr ein Auto durch, und es ist zu bewundern, dass so eine Straße sein konnte, im Zentrum Berlins, nicht weit vom Alexanderplatz. Ich habe damals gehört, dass es eine Absicht war, noch vor Hitler einen Überfall auf die Straße zu machen, denn sie war ein Dorn in den Augen der Nichtjuden, aber dies wurde vereitelt. So eine Straße passte nach Jerusalem, und man nannte die Straße ein Ghetto mit offenen Toren. Die Leichenzüge wurden hier durchgeführt und an jeder Synagoge wurde das Trauergebet gesagt.3)
     Ein regelrechtes »Judenviertel« wie in New York oder London hat es in Berlin im 20. Jahrhundert nie gegeben. Viele der so genannten »Ostjuden« lebten auch in den benachbarten Bezirken Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Von Generation zu Generation wurden zudem oft auch die überkommenen Traditionen gelockert, ein liberalerer Umgang mit der Religion oder den Speisevorschriften setzte sich durch.
Manche Familie zog auch in »bessere« Gegenden im Westen Berlins.
     Nach verlorenem Krieg und im Gefolge der Bestimmungen des Versailler Vertrages musste Deutschland eine behutsame Ausländerpolitik betreiben, schließlich lebten viele Deutsche in Gebieten, die nun zu Polen oder Frankreich gehörten. Außerdem wollte man die »guten« Ausländer - gemeint waren die Betuchteren vor allem aus Westeuropa und Übersee - als Investoren und Touristen so bald und so zahlreich wie möglich wieder in das Land locken.
     Ganz anders gedachte man das so genannte Ostjudenproblem zu lösen.
     Dabei hatte sich Deutschland sein so genanntes Ostjudenproblem im Ersten Weltkrieg selbst geschaffen. Nach dem Vormarsch der deutschen Truppen an der Ostfront hatte man zu Beginn des Ersten Weltkrieges die Juden im besetzten Russisch- Polen sehr umworben und ihnen Lohn und Brot in der Rüstungsindustrie versprochen, der mögliche Nachzug der ganzen Familie wurde ihnen in Aussicht gestellt. Über 30000 folgten dem Ruf, viele von ihnen kamen nach Berlin. Diese Menschen konnten nach Kriegsende nicht ohne weiteres aus Deutschland in das neugebildete Polen abgeschoben werden. Außerdem zeigten die in Deutschland während des Krieges internierten Ausländer wenig Lust, nach Osten zurückzugehen.
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Dort herrschte Bürgerkrieg, erneut fanden Pogrome statt, und all dies sorgte für eine neue Fluchtbewegung, die an Deutschlands Grenzen nur schwer aufzuhalten war.
     Das so genannte Ostjudenproblem wurde zu einer in Deutschland besonders heftig umstrittenen politischen Frage. Im Frühjahr 1921 wurden unter dem neuen Minister Dominicus Pläne des Innenministeriums verwirklicht, die unliebsamen Ausländer zu internieren. Ohne Einzelfallprüfung wurden Hunderte Juden ohne gültige Ausweispapiere in Cottbus und Stargard in Lager gesteckt, um sie schnellstens abzuschieben. Nach öffentlichen Protesten und mit einem erneuten Regierungswechsel wurde diese rigide Vorgehensweise unterbunden.
     Unstrittig ist: In Berlin- Mitte lebten im Vergleich zu anderen Berliner Stadtbezirken in der Weimarer Republik - wie auch in den Jahren zuvor und auch nach 1933 noch einige Jahre lang - besonders viele Juden. Diese Aussage klingt sehr simpel, sie ist es auch. Anhand von Zahlen daraus längerfristige Tendenzen abzuleiten, ist auch deshalb sehr schwierig, weil jeder Zahlenberechnung andere Kriterien zu Grunde liegen.

Aufruf des Generalkommandos der Vereinigten Armeen Deutschlands und Österreichs an die Juden in Polen: Wir kommen als Freunde und Erlöser zu euch!
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1925 wohnten in Mitte 17,94 Prozent der Berliner Juden; das ist der damals höchste Anteil in Berlin. Das entspricht zugleich 10,47 Prozent der Bevölkerung des Stadtbezirks und stellte zu diesem Zeitpunkt die zweithöchste Konzentration nach Wilmersdorf dar, vor Charlottenburg und Schöneberg.4)
     Auch folgender Trend sei hervorgehoben, weil er jegliche statistische Betrachtung von Geschichte in Frage stellt. Insgesamt kamen allein im Zeitraum zwischen 1914 und 1921 ca. 100000 so genannte Ostjuden nach Deutschland. Von ihnen waren 1921 schon ca. 40 Prozent weitergewandert. Deutschland blieb - trotz aller Konflikte - in den Jahren der Weimarer Republik eine Brücke zwischen Ost und West, vor allem ein Durchreiseland oder eine Zwischenstation.5)
     Inwieweit das auf jene Menschen zutraf, die zeitweilig oder für immer in Berlin- Mitte leben wollten, lässt sich diesen Angaben nicht entnehmen. Dieses mobile Moment, das ja täglich auch erlebt wurde, prägte das Miteinanderleben im Zentrum Berlins in besonders starkem Maße. Allerdings endete für die Ärmsten der Wanderer die Reise in Berlin, zumeist aus finanziellen Gründen.
     Die Erinnerungen von Frauen und Männern, die früher in Berlin- Mitte lebten und vor allem ihre Kindheit und Schulzeit hier verbrachten, zeichnen ein relativ harmonisches Bild für die Jahre der Weimarer Republik.
Antijüdische Angriffe erfuhren diese Kinder bis Januar 1933 ganz selten - so ihr einhelliges Zeugnis. Die Eltern werden den in der Weimarer Republik latent vorhandenen recht starken Antisemitismus vor dem Nachwuchs verborgen gehalten haben. Diese Zeit wurde auch in der heutigen Erinnerung als eine normale, friedvolle Kindheit empfunden. Der Januar 1933 wurde jedoch von allen als klare Zäsur benannt.

Zwei Beispiele aus dem Scheunenviertel sollen belegen, dass es im Alltag wesentlich widersprüchlicher zuging.
     Beispiel 1: Antijüdischer Pogrom 1923
     Im November 1923 fand im Scheunenviertel - und nur hier - ein Pogrom statt. In anderen Städten Deutschlands und an anderer Stelle in Berlin kam es im Herbst zu »einfachen« Hungerunruhen. Das war die Zeit der zugespitzten Inflation, als ein Brot mehrere Millionen Mark kostete.
     Im Scheunenviertel wurde daraus ein Pogrom. Der Ausgangspunkt einer zweitägigen blutigen Straßenschlacht war der Arbeitsnachweis in der Gormannstraße. Eine von rechtsextremen Agitatoren aufgehetzte Meute schlug Juden und für Juden gehaltene Passanten auf offener Straße nieder und beraubte sie ihrer Barschaft und ihrer Kleidung. Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert.

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Die Juden wehrten sich, es gab mehrere Tote und später zwei Prozesse. Der Fleischergeselle Silberberg aus der Hirtenstraße, der den Angreifern mit einem großen Beil entgegengetreten war, um Menschen, die sich in den Laden geflüchtet hatten, zu schützen, wurde angeklagt. Die Polizei hatte zuerst weggeschaut und dann vor allem Juden zur Polizeiinspektion geschleppt. Vor Gericht mussten sich zwei Polizisten für ihre üblen Sprüche auf dem Hof der Inspektion verantworten, das waren der Polizist Domei und Polizei- Hauptmann Dubbe. Die 1925 durchgeführten Prozesse gegen diese beiden Polizisten und einige ihrer Kollegen verliefen im Sande. Auch der Fleischer Silberberg wurde nicht bestraft.6)
     Beispiel 2: Wohnungsneubau hinter der Volksbühne 1934/35
     Der Bülowplatz wurde 1934/35 aus einem besonderen Grund international bekannt. Für seinen Prager Kongress hatte der Internationale Verband für Wohnungswesen das Thema Altstadtsanierung gewählt. Deutschland beteiligte sich unter anderem mit einem später auch verwirklichten Projekt, alle Häuser an der Linienstraße, die hinter der Volksbühne lagen, abzureißen und durch neue Wohnbauten zu ersetzen. Die ursprüngliche Idee, einen Vorschlag für die Sanierung des Fischerkiezes zu unterbreiten, wurde fallengelassen. Der wahre Grund für den Sinneswandel wurde den Kongressteilnehmern in Prag mit den Projektunterlagen nicht verraten. In einer internen Beratung der am Projekt beteiligten Verwaltungsbehörden wurde der gesellschaftliche Hintergrund für dieses Vorhaben jedoch offen ausgesprochen und über seine möglichst konfliktfreie Umsetzung ausführlich debattiert:
(...) Weiter wird es uns dadurch erleichtert, dass nur Herren und Damen nichtarischen Geschlechts dort Besitzer sind und wohnen. Wir können also - wir kommen gleich auf den Punkt - scharf vorgehen. Man wünscht, dass scharf vorgegangen wird.7)
     Die relativ friedliche Zeit war vorbei. Hier im Zentrum Berlins, wie anderenorts in der Stadt und in ganz Deutschland, wurde für Juden das Leben immer unerträglicher.

Quellen und Anmerkungen:
1 Dieser Beitrag stützt sich auf Ausführungen des Autors in: Horst Helas, Juden in Berlin- Mitte. Biografien - Orte - Begegnungen, hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V., Berlin 2000
2 Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff »Ostjuden« siehe u. a.: Gabriel Alexander, Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Berlin zwischen 1871 und 1945. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. XX, Tel Aviv 1991, S. 301-309; Trude Maurer, Ostjuden und deutsche Juden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik: Ergebnisse der Forschung und weitere Fragen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 9/1988, S. 523-542; Wolfgang Wippermann, Probleme und Aufgaben der Beziehungsgeschichte zwischen Deutschen, Polen und Juden. in: Stefi Jersch-Wenzel, (Hrsg.), Deutsche- Polen- Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Beiträge zu einer Tagung, Berlin 1987, S. 20-31. Den hier zumeist historisch- geografisch orientierten Begriffsbestimmungen steht eine andere, von der historisch gewachsenen Mentalität jüdischer Familien ausgehende Sicht gegenüber,

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von Familien, die sich von Generation zu Generation veränderten, zumeist weg vom äußeren Erscheinungsbild von »Ostjuden«, verbunden mit einem allmählichen Wandel des Praktizierens der überkommenen Sitten und Gebräuche sowie des Umgangs mit den religiösen Vorschriften.
Außer der Angliederung eines Gebietes an Deutschland konnte auch die Einwanderung dorthin Ostjuden zu deutschen Juden machen. Für Deutschland bezeichnen »Ostjude« und »deutscher Jude« also nicht nur die Zugehörigkeit zu zwei Gruppen unterschiedlicher Prägung und ursprünglich unterschiedlicher regionaler Herkunft, sondern auch zwei Stadien kultureller Zugehörigkeit, seltener des einen Individuums, häufiger der verschiedenen Generationen einer Familie. (T. Maurer, Ostjuden und deutsche Juden …, a. a. O., S. 524)
3 Siehe: Archiv des Vereins zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V.
4 Siehe: Heinrich Silbergleit, Zur Statistik der jüdischen Bevölkerung Berlins, Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, 1927, Heft 9-12, S. 134. Zitiert nach: Juden in Berlin 1671-1945. Ein Lesebuch, Berlin 1988, S. 183
5 Siehe: Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland, Hamburg 1986, S. 62. Maurer bekräftigt und belegt folgende Aussage von Adler-Rudel: Angst und Unsicherheit, Rechtlosigkeit und Verfolgung trieben ... immer wieder Massen jüdischer Menschen über die Grenzen nach Deutschland. Jedoch nur wenige dieser gehetzten Flüchtlinge oder Wanderer kamen in der Absicht, dauernd zu bleiben.
Sie wussten, dass Deutschland für sie kein Einwanderungsland sei.
Wer im Begriff war, nach Amerika auszuwandern, der wusste, dass er sich dort, in der Neuen Welt, werde frei bewegen können, dass er in wenigen Jahren ein Bürger dieses mächtigen Landes sein, und dass er dort für sich und seine Kinder eine sichere Heimat finden werde. Auch jene, die nach England oder Frankreich wanderten, taten dies meist mit der Absicht und in der Hoffnung, sich in diesen Ländern in kurzer Zeit einzuordnen und für immer bleiben zu können. Deutschland jedoch war für die Mehrheit der flüchtenden Juden nur ein Durchreiseland, eine Zwischenstation, wo man einige Zeit bleiben wollte, um die Weiterreise nach anderen Ländern in Ruhe vorzubereiten. (Shalom Adler-Rudel, Ostjuden in Deutschland 1880-1940 ..., a. a. O., S. 2)
6 Siehe: Reiner Zilkenat, Der Pogrom am 5. und 6. November 1923. In: Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlin, Berlin 1999 (3. Auflage), S. 95-101
7 Zitiert nach: Das Scheunenviertel, a. a. O., S. 128. Zur Geschichte der Neubebauung hinter der Volksbühne ausführlich siehe: Harald Bodenschatz, Platz frei für das neue Berlin, Berlin 1987; Geist, Jonas und Kürvers, Klaus: Das Berliner Mietshaus, Bd. 3, München 1989

Bildquelle: Archiv Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e.V.

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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