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Herbert Schwenk
Es hing am seidenen Faden

Berlin wird Groß-Berlin

»Endlich ist es erreicht: Der sehnlichste Wunsch der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung des Wirtschaftsgebietes von Groß-Berlin ist in Erfüllung gegangen, die Einheitsgemeinde ist Tatsache geworden! Mit der Hinwegfegung des Wilhelminischen Regiments war die Bahn frei geworden ...«1) So begrüßte der 78jährige Alterspräsident und SPD- Politiker Wilhelm Pfannkuch (1841-1923), langjähriges Mitglied des Deutschen Reichstages, auf der ersten Sitzung der neu gewählten Stadtverordnetenversammlung am 15. Juli 1920 die Entstehung von Groß-Berlin. Einige Wochen später, am 1. Oktober 1920, trat das »Gesetz über die Bildung der neuen Stadtgemeinde Berlin (Groß-Berlin- Gesetz)« in Kraft. Damit erfolgte die umfassendste Stadterweiterung in der Geschichte Berlins und die »Grundsteinlegung für das moderne Berlin des 20. Jahrhunderts«.2)
     Per Gesetz vergrößerte sich damit die neue Stadtgemeinde um das 13fache

von 6572 ha (= 65,72 km2) auf 87 810 ha (= 878,1 km2) und erreichte einen Stadtgrenzenumfang von 225 km. Die neue Stadtfläche hatte ein Ausmaß von der Größe der Insel Rügen (926,4 km2). Berlin war »mit einem Schlag« der Einwohnerzahl nach hinter London und New York zur drittgrößten Stadt der Welt geworden. Die Einheitsgemeinde zählte nun 3803300 Einwohner gegenüber 1902509 vor der Eingemeindung; das große hinzu gekommene Gebiet umfasste demzufolge etwa ebenso viele Einwohner wie die bisherige Stadt Berlin. Die Bevölkerungsdichte sank von 285 Einwohnern/ha vor der Eingemeindung auf 44,2 Einwohner/ha Ende 1920. Nach dem Groß-Berlin- Gesetz schlossen sich insgesamt 94 Gemeinwesen bzw. Territorien zur neuen Einheitsgemeinde zusammen: die acht Städte Berlin, Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln (bis 1912 Rixdorf), Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke. Die neue Einheitsgemeinde wurde durch das Groß-Berlin- Gesetz in 20 Verwaltungsbezirke eingeteilt, die (nach einigen späteren Grenzkorrekturen) noch heute bestehen. Seit 1920 umfassten die 20 Bezirke die sechs innerstädtischen Viertel (Kernstadt) des bisherigen Alt-Berlin (Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Tor/ seit 1921 Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Hallesches Tor/ seit 1921 Kreuzberg),
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die sieben eingemeindeten Städte Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf sowie sieben neu geschaffene Bezirke, wobei die Benennung nach der jeweils höchsten Einwohnerzahl erfolgte: Pankow, Reinickendorf, Steglitz, Tempelhof, Treptow, Weißensee, Zehlendorf. Alleiniges Wappentier der neuen Stadtgemeinde wurde der Bär; erstmals waren im Stadtsiegel von 1280 zwei gepanzerte Bären als Schildhalter des brandenburgischen Adlers aufgetaucht. Abschluss einer »organischen Entwicklung«

Die Bildung der Einheitsgemeinde als einer der wichtigsten Schritte in der Geschichte der Berliner Stadtentwicklung hatte sich lange zuvor angebahnt. Es war nicht ein »gewaltsamer Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit«, sondern »ganz im Gegenteil der Abschluß einer organischen Entwicklung«, heißt es in der Einleitung zum Ersten Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde Berlin.3)

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Nachdem Berlin 1871 deutsche Reichshauptstadt geworden war, nahmen die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung einen bedeutenden Aufschwung.4) Unterstützt durch den »Milliardensegen« der französischen Reparationszahlungen und durch staatliche Förderung, erhielt der Industriestandort Berlin einen starken Anschub und stieg in den Kreis der größten deutschen und europäischen Industriestädte auf. In der Metall-, Maschinenbau-, Elektro- und Chemiebranche hielt die Großindustrie Einzug, in vielen anderen Bereichen, vor allem in der Bekleidungs-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie, entstanden zahlreiche neue Betriebe. 1850 gab es in Berlin erst 584 Fabrik- und Lagerbauten, 1875 waren es bereits 5084 und 1919 6467. Im Sog des Industriestandorts erfuhr auch der Siedlungsstandort Berlin einen starken Zuwachs: Von 824484 Einwohnern (1871) über 1024215 (1877) auf 2042402 (1905) und 1 902 509 (1919). Allein in den Gründerjahren 1871-1873 kamen 400000 Menschen in die Stadt, vorwiegend im Alter von 20 bis 30 Jahren. Starken Einfluss auf die Stadtentwicklung hatte der Ausbau des Lokal- und Nahverkehrs. Alte Verkehrsmittel wie Pferdewagen und Kähne waren durch Eisenbahnen und Dampfschiffe verdrängt worden. Seit 1816 die Fluss- Dampfschiffahrt zwischen Berlin und Potsdam und 1838 die erste preußische Eisenbahnlinie zwischen beiden Residenzstädten eröffnet wurden, seit 1846 Pferdeomnibusse, 1864 Pferdestraßenbahnen, 1877 die Ringbahn und 1882 die Stadtbahn verkehrten, waren neue günstige Bedingungen für die weitere Ausdehnung der Stadt, die engere Verknüpfung ihrer Stadtteile und deren Verbindung mit den Vororten gegeben. Um die Innenstadt legte sich der »Wilhelminische Mietskasernengürtel«, forciert durch die ständig steigenden Bodenpreise im zentralen Stadtgebiet. Seit 1882 kam es zur sogenannten ersten Randwanderung der Berliner Industrie aus den Innenstadtgebieten in die Nähe der Ringbahn und in den 90er Jahren zu einer zweiten in jene Bereiche, die durch die parallel zu den Fernbahntrassen entstandenen Vorortbahnen angebunden wurden. Es war ein Stadtraum mit zusammenhängender Bebauung entstanden, der von 1871 bis 1914 über die Stadtgrenze von Berlin hinaus ins Umland wuchs.
     In den ehemaligen dörflichen Gebieten entstanden große Industrieanlagen: im Osten und Südosten in Lichtenberg, Rummelsburg, Ober- und Niederschöneweide, Adlershof, Johannisthal und Grünau; im Norden in Weißensee, Hohenschönhausen, Wilhelmsruh und Reinickendorf;
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im Westen und Nordwesten in Tegel, Wittenau, Hennigsdorf, Spandau, Gartenfeld und Siemensstadt; im Süden in Tempelhof und Marienfelde. Besonders markante Industrieanlagen erlangten Dimensionen von Klein- und Mittelstädten, etwa Siemensstadt und Borsigwalde. Die Stadt erlitt durch die Randwanderung der steuerkräftigen Industrie empfindliche Einbußen, was den Eingemeindungsdruck erhöhte. Aus- und Umbau der Hauptstadt- City hatten gravierende Folgen für die Entwicklung der Berliner Innenstadt und vertrieben die Bewohner aus den historischen Stadtteilen. Es begann ein Prozess der Entvölkerung der Innenstadt, als sich die steuerzahlende Arbeiterschaft in den großen Arbeiterwohnstätten des Nordens und Ostens ansiedelte und der Stadt die Steuern entzog. In der City entstanden nicht nur zahlreiche Banken, Waren- und Geschäftshäuser, Hotels und prächtige Verwaltungsgebäude für die vielen zentralen Institutionen der Staats- und Wirtschaftsleitung sowie Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, sondern ganze Stadtviertel mit spezifischen Funktionen: Regierungs-, Diplomaten-, Banken-, Export-, Zeitungs-, Konfektions-, Vergnügungsviertel ...
     Höhere Anforderungen stellte das expandierende Gemeinwesen Berlin auch an den Ausbau der städtischen Infrastruktur, der ebenfalls nicht an der administrativen Stadtgrenze Halt machte.
1874 übernahmen die städtischen Behörden die Wasserversorgung Berlins, und es wurde der Bau neuer Wasserwerke am Müggelsee und Tegeler See begonnen. Das Wasserrohrnetz vergrößerte sich von 251 km (1871) auf 1 140 km (1919). Mit wachsender Industrialisierung und Bevölkerung verstärkte sich die Notwendigkeit des Baus einer städtischen Kanalisation. Nach dem Plan James F. L. Hobrechts (1825-1902, BM 1/93) wurde 1873 das aufwendige Projekt der Kanalisation begonnen und bis 1893 im Wesentlichen in Betrieb genommen. Wie das dichter werdende Verkehrsnetz über der Erde verknüpfte nun auch das unterirdische Kanalisationsnetz von rund 1000 km Gesamtlänge (1919) zusammen mit dem Wasser- und Gasleitungsnetz (1600 km - 1919) Berlin und seine Vororte zu einem funktionalen Stadtorganismus.
     In diesem Prozess der Ausdehnung und Verdichtung der Millionenstadt Berlin waren die Vororte im Berliner Umland selbst zu großen Gemeinwesen herangewachsen, einige sogar zu Stadtgemeinden. Spandau besaß seit 1232 Stadtrecht (84855 - in Klammern jeweils die Einwohnerzahl von 1910); Charlottenburg, 1705 als Lützow/ Lietzenburg mit nur 100 Einwohnern zur Stadt erhoben und durch königliche Order in Charlottenburg umbenannt (305978); Köpenick war seit 1298 Stadt (»oppidum«) und gehörte vor 1920 zum Kreis Teltow (30879); Schöneberg erhielt 1898 Stadtrecht (172823); Rixdorf (1912 in Neukölln umbenannt) war 1899 Stadt geworden (237289);
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Deutsch- Wilmersdorf wurde 1906 Stadt und schied aus dem Kreis Teltow aus (109716), wobei sich die Einwohnerzahl allein zwischen 1885 und 1910 um das Dreifache vergrößerte; schließlich hatte auch Lichtenberg 1907 Stadtrecht erhalten (mit Boxhagen 133141). So war im Raum Berlin eine große Bevölkerungsagglomeration entstanden, die die Entwicklung der Vororte einschloss und über die alte Berliner Stadtgrenze hinausging.
     Die zunehmende Verquickung von Industrie-, Verkehrs- und Wohnentwicklung in Berlin und seinem Umland hatte gravierende Folgen. »Von den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an datiert im Berliner Stadt-Umland- Beziehungsraum die Herausbildung einer neuen Qualität der Verflechtungsbeziehungen ... Aus dem Stadt-Umland- Beziehungsraum Berlin und Umgebung wird die Stadtregion Berlin, die im Deutschen Reich einmalige Züge sowohl nach ihrer spezifischen Genesis als auch nach ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung ausprägt.«5) So war die Stadtregion Berlin bereits um 1910 als Groß-Berlin zu einer physisch- funktionalen Realität geworden, bevor sie 1920 zu einer politisch- administrativen Realität wurde.

Ein »administratives Chaos«

In dem Maße, wie die »neue Qualität der Verflechtungsbeziehungen« zwischen Berlin und seinem Umland immer intensiver wurde, wurden die widerstrebenden Interessen der Beteiligten -

des preußischen Staates, der Stadt Berlin, der Vororte und der betroffenen Nachbarkreise Niederbarnim und Teltow - immer offensichtlicher und heftiger. Zur Eigenart der Berliner Stadtentwicklung gehörte seit eh und je ein »administratives Chaos«. Am Anfang stand »die gleichzeitige Existenz von sechs Städten und vier Vorstädten mit insgesamt vier unterschiedlich verfassten Stadtverwaltungen«.6) Durch das »Reskript von Kombinierung der rathäuslichen Kollegien« vom 17. Januar 1709 verfügte König Friedrich I. (1657-1713, Kurfürst Friedrich III. ab 1688, König Friedrich I. ab 1701) mit Wirkung zum 1. Januar 1710 die Vereinigung der alten und neuen Städte zur »Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin«, die ein Territorium von 626 ha umfasste. Aber kaum war die erste Einheitsgemeinde geschaffen, erfuhr sie nach Fertigstellung der Akzisemauer im Jahre 1737, die nun für längere Zeit als Stadtgrenze galt, ihre erste bedeutende Erweiterung. Jenes von der Stadtmauer umschlossene Stadtterritorium von 1400 ha bot zwar eine Zeit lang Platz für die weitere Stadtentwicklung und hatte auch fast ein Jahrhundert Bestand - allein die Unklarheiten über den Verlauf der Stadtgrenzen, das traditionelle »administrative Chaos«, wurden im Zuge des Wachstums der Vorstädte über die Akzisemauer hinaus immer größer.
     Nach 1821 begannen langwierige Verhandlungen zwischen der Berliner Stadtverwaltung, dem Regierungspräsidenten in Potsdam und den Nachbarkreisen über eine Festsetzung der Grenze des Weichbildes von Berlin.
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Während sich zum Beispiel der Berliner Polizeipräsident Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey (1805-1856, BM 3/96), dessen Amt in der Berliner Stadtpolitik jener Zeit eine bedeutende Stellung inne hatte, von weitreichenden Eingemeindungen einen Machtzuwachs versprach, trat die Stadtverordnetenversammlung gegen die Eingemeindung der von ärmeren Bevölkerungsschichten dichtbewohnten »kostenintensiven« Siedlungen von Moabit und Wedding auf; in Moabit zum Beispiel hatte sich die Einwohnerzahl zwischen 1840 und 1858 von 986 auf 6 534 erhöht. Eben aus dieser »Kosten«-Sicht wollte aber der Kreis Niederbarnim Moabit und Wedding loswerden und trat daher für eine Eingemeindung nach Berlin ein. Anders der Kreis Teltow, der gegen ein Ausscheiden der wohlhabenderen Gemeindeteile von Schöneberg und Tempelhof aus seinem Kreisverband plädierte. In zwei Etappen wurde schließlich die Berliner Stadtgrenze neu geregelt: bis 1829 die nördliche, ohne jedoch die Stadträume von Moabit und Wedding einzubeziehen, und bis 1841 (!) die am Verlauf des Landwehrgrabens orientierte südliche Stadtgrenze, wobei ebenfalls im Süden und Nordwesten bedeutende Stadträume nicht eingemeindet wurden. Im Zuge jener Stadterweiterungen verdoppelte sich die Stadtfläche von 1400 auf 3511 ha. Das »Chaos« der Vielzahl von Verwaltungsgrenzen sowohl der inneren Gliederung von Berlin als auch der äußeren Grenzen zwischen Berlin und seinem Umland aber blieb bestehen. Neben der »Weichbildgrenze«, der Grenze des Berliner Stadtterritoriums, existierten noch: die Grenze für den Zuständigkeitsbereich des Königlichen Stadtgerichts und Kriminalgerichts, die über die Stadtgrenze hinausreichte; die Grenzen der beiden »Polizeiringe«, die Berlin umschlossen, wobei bereits der »engere« Polizeibezirk ohne feste Grenzen, in dem der Berliner Polizeipräsident seit 1810 agierte, etwa doppelt so groß war wie das Berliner Stadtgebiet von 1841 und der bis 1873 bestehende »weite« Polizeibezirk, in dem der Polizeipräsident nur für die Sicherheitspolizei zuständig war, sogar eine Fläche von 550 km2 umfasste - etwa das 16fache der Stadtfläche von 1841. Hinzu kamen die unterschiedlichen Grenzen der inneren Gliederung von Berlin (in Klammern die Zahlen von 1811 und 1910): die »Stadtteile« oder »Stadtviertel« oder »Reviere« (10 und 31); die »Polizeireviere« (22 und 115); die »Stadtbezirke« als kleinste kommunale Verwaltungseinheiten (102 und 326 im Jahre 1885).
     Ein bedeutender Schritt auf dem Wege von Eingemeindungen zur Schaffung einer vergrößerten Stadtgemeinde Berlin wurde laut Kabinettsorder vom 28. Januar 1860 vollzogen. Per 1. Januar 1861 erfolgte die größte territoriale Erweiterung Berlins im 19. Jahrhundert: die Eingemeindung von Wedding/ Gesundbrunnen (Luisenbad) sowie Alt und Neu-Moabit im Norden auf der rechten Spreeseite; die Eingemeindung von Grundstücken Alt- Schönebergs, Tempelhofs, eines Teils der Hasenheide,
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von Teilen der Lützower Feldmark und des Tiergartens auf der linken Spreeseite. Durch dieses »neue Weichbild« vergrößerte sich das Stadtgebiet um fast 70 Prozent von 3 511 auf 5 923 ha, und die Einwohnerzahl stieg um 7 Prozent auf 528 876. 1875 brachten die Bewohner der eingemeindeten Gebiete, die 16 Prozent der Gesamteinwohner Berlins ausmachten, bereits 20 Prozent des gesamten Berliner Steuereinkommens Berlins auf.
     Aber auch die Eingemeindungen von 1861 vermochten keine Lösung der wachsenden Probleme der Berliner Stadtentwicklung, insbesondere nach der Reichsgründung 1871 - wie oben gezeigt - zu bringen. Die Schaffung einer vergrößerten Berliner Einheitsgemeinde trat nun als »Groß-Berlin- Frage« auf die Tagesordnung der Stadtentwicklung. Es gab mehrere »denkbare Lösungen«.7) Erstens einen Finanzausgleich zwischen Berlin und dem Umland, zweitens die Lösung der infrastrukturellen Probleme durch Kooperation in Form eines »Zweckverbandes«, drittens, »als radikalste Variante«, die Schaffung einer vergrößerten Berliner Einheitsgemeinde auf dem Wege weiterer Eingemeindungen. Zwischen diesen Varianten bewegte sich der rund 50jähige Streit um Groß-Berlin in der Zeit von 1871 bis 1920. In den 70er Jahren entwickelten dementsprechend Stadtplaner Vorstellungen zur Bewältigung der akuten Probleme der Berliner Region.
August Orth (1828-1901) erwartete vor allem von den Eisenbahnen Impulse, um die Außenbezirke stärker an die Innenstadt anzubinden. Rudolf Eberstadt (1856-1922) kritisierte das konzentrische Wachstum der Stadt und die damit verbundene Verdichtung der Innenstadtbereiche. Ein origineller Vorschlag zur Neuordnung der Berliner Region war der sogenannte Provinz- Plan von 1875, der unter der Ägide des damaligen Berliner Oberbürgermeisters Arthur Hobrecht (1824-1912, BM 4/92), des älteren Bruders von James Hobrecht, entstanden war. Dabei sollte eine »Provinz Berlin« (BM 5/96 S. 3-8) mit den Stadtkreisen Berlin und Charlottenburg und einem sich ringförmig um beide legenden Landkreis sowie gemeinsamen Provinzorganen geschaffen werden, um weitere Eingemeindungen zu vermeiden. Die Berliner Stadtverordnetenversammlung und die Landkreise lehnten den Plan jedoch ab. Andere Vorschläge favorisierten weiterhin Eingemeindungen. Vor allem Berlin lehnte zunächst mit finanziellen Argumenten weitere Eingemeindungen ab, wie der langjährige Streit um die Eingemeindung von Charlottenburg nach Berlin zeigte. Erst seit Anfang der 90er Jahre vollzog sich unter Oberbürgermeister Max von Forckenbeck (1821-1892) ein Wandel in der Berliner Position zugunsten weiterer Eingemeindungen, nachdem sowohl mehrere Umlandgemeinden als auch der Kreis Teltow dafür eingetreten waren (BM 4/92 S. 20-26).
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Allerdings scheiterten die Pläne am inkonsequenten Kurs der Berliner Stadtverwaltung: Forckenbecks Amtsnachfolger seit 1892, Robert Zelle (1829-1901), setzte sich weiteren Eingemeindungen zur Wehr, während die Stadtverordnetenversammlung dafür war (vgl. Abbildung). Ein Auf und Ab in rascher Folge mit abruptem Sinneswandel, Kursänderungen und Stimmungsumschwüngen in den Haltungen zur Eingemeindungsfrage gab es auch bei den anderen Beteiligten. Charlottenburg, Schöneberg und andere Gemeinden des Kreises Teltow traten als wohlhabende Kommunen jetzt gegen Eingemeindungen auf, nun auch unterstützt von der preußischen Regierung in Potsdam, die vor allem die Stärkung der Positionen der Sozialdemokratie in einem vergrößerten Berlin fürchtete. Zwischen 1878 und 1920 wurden nur noch relativ kleine Terrains nach Berlin eingemeindet, die jedoch zum Teil für die Hauptstadt Bedeutung besaßen: 1878 das Gelände für den Vieh- und Schlachthof aus dem Gemeindebezirk Lichtenberg (132 ha); 1881 der Gutsbezirk Tiergarten einschließlich des Zoologischen Gartens und Teile des Seeparks sowie der Schlossbezirk aus dem Kreis Teltow (255 ha); 1905 und 1916 zwei kleine Flecken aus der Landgemeinde Pankow (3 ha); 1913 und 1914 noch kleinere Flächen aus den Landgemeinden Berlin- Tempelhof und Berlin- Reinickendorf sowie der Stadtgemeinde Charlottenburg; 1915 das Gelände um den Plötzensee aus dem Gutsbezirk Tegel-Forst (220 ha) und zuletzt 1918 aus der Stadtgemeinde Charlottenburg (14 ha).
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Für und Wider die Einheitsgemeinde

Die Verklammerung zwischen Berlin und seinem Umland war indes von Jahr zu Jahr größer und längst unumkehrbar geworden. Um 1900 bestand bei den 151 Städten und Gemeinden im Berliner Raum ein Nebeneinander von 43 verschiedenen Gas-, 17 Wasser- und 15 Elektrizitätswerken; während der Tegeler See zum Beispiel Berlin als Trinkwasserreservoir diente, leiteten die Gemeinden Reinickendorf und Tegel ihre Abwässer in den See.
     Einen »Lastenausgleich zwischen Berlin, den Arbeitervororten des Nordens, Ostens und Südens und den wohlhabenden Gemeinden des Westens zu schaffen«, wurde immer dringender, notierte der Stadtsyndikus und Erste Bürgermeister a. D. Friedrich C. A. Lange (1885-1957) in seinem »Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933«.8) Die Entwicklung in Richtung Einheitsgemeinde wurde durch einen »Wettbewerb Groß-Berlin« vorangetrieben, der, im Oktober 1906 ausgeschrieben, die Planung zur baulichen Entwicklung von Groß-Berlin befördern sollte. Die Entwürfe sollten weit in die Zukunft reichen und die Entwicklung Berlins zu einer 10-Millionen- Weltstadt ermöglichen. Aus 27eingereichten Entwürfen gingen 1910 vier Preisträger hervor, darunter - neben dem oben erwähnten Rudolf Eberstadt - Hermann Jansen (1869-1945), der einen ersten Preis erhielt.

Die Entwürfe, die 1910 öffentlich gemacht wurden, erfassten ein Territorium, das bereits den großen Stadt-Umland- Beziehungsraum Berlin und Umgebung zum Gegenstand der Stadtplanung machte. Vorerst aber entschloss man sich, als Minimum einer Zusammenarbeit wenigstens eine lose Interessengemeinschaft, den »Zweckverband Groß-Berlin«, zu schaffen. Danach sollte die infrastrukturelle und planerische Kooperation zwischen Berlin und einigen Nachbargemeinden mit einer Gesamtbevölkerung von vier Millionen Einwohnern ausgebaut und in vertragliche Bahnen gelenkt werden. Der Zweckverband wurde per Gesetz vom 19. Juli 1911, das am 1. April 1912 in Kraft trat, gebildet. Berlin hatte sich mit den sechs kreisfreien Nachbarstädten Charlottenburg, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf, fünf weiteren großen Nachbargemeinden, der Stadt Köpenick sowie den Kreisen Teltow und Niederbarnim zu einer Kooperation auf Zeit zusammengeschlossen, die sich allerdings nur auf einige Aufgaben der Städte- und Verkehrsplanung beschränkte.
     Aber weder der Zweckverband noch die Vorschläge von Martin Mächler (1881-1958) von 1917, die sogar eine riesige Einheitsgemeinde mit einer Fläche von 7800 km2 umfaßten, konnten das Grundproblem lösen: die Aufhebung der verfassungsrechtlichen Zersplitterung eines zusammengehörenden Wirtschafts- und Verkehrsraumes.
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Das Für und Wider die Einheitsgemeinde schlug sich auch in einigen Komitees nieder, die engagiert für eine Einheitsgemeinde eintraten und dabei ihre kontroversen Interessen verfochten, allen voran der »Bürgerausschuss Groß-Berlin«, die »Berliner Vorortgemeinschaft im Kreise Teltow« und der »Bürgerbund Groß-Berlin«. Während der erst 1917 entstandene »Bürgerausschuss« unter Leitung des Oberbürgermeisters von Schöneberg, Alexander Dominicus (1873-1945), mit seinem Programm maßgeblich das spätere Gesetz über die Einheitsgemeinde prägte, wollte der schon 1912 entstandene »Bürgerbund« nur einen losen Zusammenschluß auf föderativer Grundlage und profilierte sich mehr als »Kampforganisation gegen die ... immer lebhafter betonten Forderungen der Proletariergemeinden an der Peripherie«.9)
     Im November 1918 ließ der ehemalige sozial- demokratische Kommunalpolitiker und Stadtverordnete von Charlottenburg Paul Hirsch (1868-1940), nunmehr preußischer Ministerpräsident und Innenminister, einen Verfassungsentwurf für die Einheitsgemeinde ausarbeiten. Trotz weiterer Widerstände, die zum Beispiel in Tumulten und Prügelszenen in einigen Stadtparlamenten der Nachbarstädte gipfelten, fanden sich inzwischen auch Mehrheiten für die Einheitsgemeinde.
     Das erbitterte Für und Wider indes begleitete die Entscheidungen bis zuletzt - und selbst danach.
Der Verfassungsentwurf scheiterte in der ersten und zweiten Lesung in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am Widerstand der Deutschnationalen (DNVP), der Deutschen Volkspartei (DVP) und des Zentrums, während die SPD, USPD, ein Teil der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und vor allem die ärmeren Vorortgemeinden im Osten und Norden dafür votierten. Nach dritter Lesung schließlich fand sich eine 16-Stimmen- Mehrheit zur Annahme des Gesetzes: Das Ergebnis der Schlussabstimmung am 27. April 1920 lautete 165 : 148 Stimmen bei 5 Enthaltungen und 82 Fehlenden. Obwohl damit der traditionelle Widerspruch zwischen physisch- funktionaler Realität einer großen Berliner Stadtregion und nachhinkender politisch- administrativer Realität für lange Zeit gelöst war, sollten Widerstände gegen die »unhaltbaren Zustände in der neuen Stadtgemeinde Berlin« und Rufe nach »Beschränkung der Zentralgewalt« sowie Überlegungen, »inwieweit der räumliche Umfang der neuen Stadtgemeinde Berlin zu beschränken ist«, wie schon Mitte 1921 im Preußischen Landtag angemahnt wurde,10) nicht verstummen - bis heute. Denn offenbart sich nicht im Streit um die Fusion von Berlin und Brandenburg abermals der Widerspruch zwischen fortgeschrittener Verflechtung des Berlin-Umland- Großraumes und einer demgegenüber zurückgebliebenen politisch- administrativen Realität - auf neuer Stufe, in unserer Zeit?
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Quellen und Anmerkungen:
1 Zit. nach: Von der Kaiserstadt nach Groß-Berlin. Illustrierte Chronik 1871 bis 1920, hrsgg. v. Hans-Jürgen Mende, Reihe Marginalien zur Kultur- und Sozialgeschichte Berlin- Brandenburgs, Berlin 1993, S. 126
2 Olaf Hampe, Zur Entstehungsgeschichte des »Gesetzes über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt- Universität zu Berlin, Reihe Geistes- und Sozialwissenschaften 41 (1992), H. 6, S. 7
3 Erster Verwaltungsbericht der neuen Stadtgemeinde Berlin für die Zeit vom 1. Oktober 1920 bis 31. März 1924. Bearbeitet im Statistischen Amt der Stadt Berlin. Einleitung, Berlin 1926, S. 9
4 Ausführliche Daten in: Günter Peters, Berliner Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt- Universität zu Berlin, Reihe Geistes- und Sozialwissenschaften 40 (1991), H. 10, S. 29 ff.
5 Alfred Zimm (Hrsg.), Berlin (Ost) und sein Umland, 3., durchgesehene Auflage, Darmstadt/ Gotha 1990, S. 58
6 Harald Engler, Äußere Grenzen und innere Gliederung Berlins im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt- Universität zu Berlin, Reihe Geistes- und Sozialwissenschaften 40 (1991), H. 10, S. 8. Die Zahl sechs ergibt sich durch die Zählung von Neu-Cölln am Wasser als eigenes Stadtgebilde (Was es rechtlich aber nie war)
7 Vgl. ebenda, S. 12
8 Friedrich C. A. Lange, Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933, Berlin- Lichtenrade 1951, S. 5
9 Ebenda
10 Vgl. Felix Escher, Berlin und sein Umland in den zwanziger Jahren, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt- Universität zu Berlin, Reihe Geistes- und Sozialwissenschaften 41 (1992), H. 6, S.103 ff. Ein besonderes Kapitel von Problemen, die sich durch die Bildung der Einheitsgemeinde ergaben, sind die zwiespältigen Folgen für die benachbarte Provinz Brandenburg. Immerhin waren 800 km2 mit 1,9 Mill. Einwohnern aus der Provinz Brandenburg an die neue Stadtgemeinde gekommen; das waren 2 Prozent des Territoriums, jedoch fast 44 Prozent der Bevölkerung Brandenburgs. Damit ging die Bevölkerungsdichte Brandenburgs von 70 Einwohnern/ km2 um 1900 auf 66,3 im Jahre 1925 zurück.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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