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Horst Fliegel
14. Dezember 1925:
Uraufführung der Oper »Wozzeck«

Am 14. Dezember 1925 steht die mit Spannung erwartete Uraufführung der Oper »Wozzeck« von Alban Berg auf dem Programm der Deutschen Staatsoper in Berlin. Der berühmte Dirigent Erich Kleiber (1890-1956) hebt das von Franz Ludwig Hörth inszenierte Werk aus der Taufe. Der Wozzeck wird von Leo Schützendorf, die Marie von Sigrid Johanson gesungen; die Ausstattung besorgte Panos Aravantinos. Am Ende der Vorstellung gibt es stehende Ovationen, aber auch Pfiffe und Buhrufe. Die Presse ist in ihrer Meinung ebenso geteilt wie das Publikum im Saal. Aber schon bald nach dem Abflauen des ersten Aufsehens stellt sich heraus, dass dem österreichischen Komponisten Alban Berg ein Wurf gelungen ist, der das ganze 20. Jahrhundert überstrahlt.
     Alban Maria Johannes Berg wird am 9. Februar 1885 in Wien als Sohn eines aus Nürnberg stammenden Buchhändlers geboren. Schon sehr früh zeigt sich sein musikalisches Talent. Von den Eltern erlernt er das Klavierspiel und bereits mit 15 Jahren beginnt

er auf der Grundlage autodidaktisch erworbenen Wissens zu komponieren. Zunächst schreibt er Lieder, später auch instrumentale Stücke. Er besucht in Wien die Realschule und die Universität. Als der Vater frühzeitig stirbt, nimmt er 1904 eine kleine Beamtenstelle als Rechnungsprüfer an, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Im gleichen Jahr lernt er den Komponisten und Musikpädagogen Arnold Schönberg (1874-1951) kennen, der ihn als Schüler annimmt und fortan sein Lehrer und Freund sein wird. Schönberg gilt als Schöpfer der Zwölftontechnik, einer expressionistischen Kompositionsmethode, die die Gleichberechtigung aller zwölf Töne der diatonischen Tonleiter zum Prinzip erhebt und in den Bereich der atonalen Musik gehört.
     Eine Erbschaft, die 1906 seiner Familie zufällt, enthebt Berg finanzieller Sorgen und bietet Freiraum für seine künstlerische Tätigkeit. Im Jahre 1910 beendet er seine Studien bei Schönberg, heiratet 1911 Helene Nahowski und lebt, seine Militärzeit im Ersten Weltkrieg ausgenommen, im Winter in Wien und im Sommer in Kärnten oder der Steiermark. Im Winter gibt er Unterricht, im Sommer widmet er sich hauptsächlich der kompositorischen Arbeit.
     Im Mai 1914 sieht Berg in Wien Georg Büchners 1836 geschriebenes Dramenfragment »Woyzeck« und ist tief beindruckt von der sozialkritischen Aussage des Stückes.
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Die Vielschichtigkeit der Gefühle, der düstere Hintergrund des Geschehens, die Anklage der bürgerlichen Gesellschaft faszinieren ihn so, dass er beschließt, aus diesem Stoff eine Oper zu machen. Aber erst nach Ende des Krieges findet er Zeit, mit der Komposition zu beginnen. Im Herbst 1921 ist das Werk vollendet. Der Dirigent Hermann Scherchen (1891-1966), ein erfolgreicher Förderer zeitgenössischer Musik, regt 1923 an, einige Teile der Oper im Konzertsaal voraufzuführen, um öffentliches Interesse zu wecken. Am 11. Juni 1924 dirigiert er diesen Zyklus (drei Fragmente aus dem 1. und 3.Akt) auf dem Musikfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Frankfurt am Main.
     Der Erfolg ist sensationell, zumal es sich nicht nur um eine Musik voll emotionaler Intensität handelt, sondern das Publikum vorwiegend aus Freunden der Moderne besteht. Alban Bergs Name ist in aller Munde, und so entwickelt sich eine allgemeine Erwartungshaltung, die schließlich in der Euphorie nach der Uraufführung am 14. Dezember 1925 mündet. Man sagt, die Buhrufe seien von jenen Besuchern gekommen, die mit moderner Musik nichts anzufangen wüssten.
     Der Komponist Alban Berg ist ein gemachter Mann. 1928 beginnt er mit der Arbeit an der Oper »Lulu« nach Texten von Frank Wedekind (1864-1918). Im April 1934 ist die Vertonung im Particell vollendet, die Instrumentation der ersten beiden Akte und eines Teils des dritten sind fertiggestellt.
Es ist ihm aber nicht vergönnt, das Werk abzuschließen. Am Weihnachtsabend des Jahres 1935 stirbt Alban Berg fünfzigjährig an einer Blutvergiftung.
     Von 1925 an bediente sich Berg der Zwölftontechnik, auch Dodekaphonie genannt. Diese Kompositionsmethode ist ein synthetisches Verfahren, für das fast mathematisch anmutende Gesetze formuliert werden. Entwickelt von Schönberg, ist es gleichsam eine Offensive gegen die Gefühlswelt und die breitflächige und gelegentlich schwülstige Tonsprache der Spätromantik. Während in der traditionellen »tonalen« Musik die Dur- und Moll- Tonleiter als Grundprinzip gelten, sind in der »atonalen« Zwölftonmusik alle 12 Töne einer Leiter gleichberechtigt. Kritiker der Zwölftonmusik sind der Meinung, erst die Lockerung der Gesetze und die Akzeptanz von Ausnahmen und Regelabweichungen ließen richtige Musik entstehen. Alban Berg hat die Gesetze der Zwölftontechnik gelockert, mit tonalen Passagen vermischt und das Ganze in den Dienst der von ihm beabsichtigten künstlerischen Aussage gestellt.
     Alban Bergs Meisterwerk, der »Wozzek«, ist die erste atonale Oper. Hier werden Perspektiven für die Zukunft entworfen, die sich im Schaffen vieler Komponisten späterer Generationen widerspiegeln. Berg wendet zwar die Zwölftontechnik an, bezieht aber auf vielfältige Weise traditionelles musikalisches Gedankengut ein.
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Für die Essener Wozzeck- Inszenierung von 1929, die als zweite deutsche folgte, schuf Brechts Freund Caspar Neher die Bühnenausstattung
Theodor Adorno (1903-1969), Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker, sagte einmal: »Berg hat versucht, den Bann der Zwölftonmusik zu brechen, indem er sie verzauberte.« Berg hat sehr früh einen eigenen Stil, eine unverwechselbare Handhabung musikalischer Bausteine, eine gewisse Sinnlichkeit des Klanges gefunden. Im »Wozzeck« kulminieren gleichsam alle charakteristischen Merkmale Bergscher Tonsprache. Er versteht es, emotionale Vorgänge musikalisch zu verdeutlichen, und benutzt dazu im »Wozzeck« einen riesigen, mindestens 100 Musiker umfassenden Orchesterapparat mit wenigstens 50 bis 60 Streichern. Hinzu kommt noch eine stattliche Bühnenmusik mit kleinen Trommeln, Ziehharmonika, Gitarren, einem Piano und einer Heurigen- bzw. Wirtshausmusik.
     Berg war neben seiner kompositorischen und musikpädagogischen Arbeit auch journalistisch und musiktheoretisch tätig. So verfasste er unter anderem eine Einführung zu Schönbergs »Gurreliedern« und den Aufsatz »Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?« zu dessen 50. Geburtstag im Jahre 1924. Auch zu seinen eigenen Werken äußerte er sich des öfteren sehr grundsätzlich, so zum »Wozzeck«:
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»Mag einem noch so viel davon bekannt sein, was sich im Rahmen dieser Oper an musikalischen Formen findet, wie das alles streng und logisch gearbeitet ist, welche Kunstfertigkeit selbst in allen Einzelheiten steckt ... von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, bis zu dem, wo er sich zum letzten Mal schließt, darf es im Publikum keinen geben, der etwas von diesen diversen Fugen und Inventionen, Suiten- und Sonatensätzen, Variationen und Passacaglien merkt, keinen, der von etwas anderm erfüllt ist als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper.«
     Und wie geht es mit Alban Bergs »Wozzeck« nach der Uraufführung am 14. Dezember 1925 weiter? Zunächst einmal erlebt das Stück an der Deutschen Staatsoper noch weitere 20 Aufführungen. Es folgen in Deutschland Essen 1929, dann Aachen, Düsseldorf, Königsberg, Lübeck, Köln, Gera und bis zum Verbot durch die Nazis acht weitere Bühnen. Die tschechische Erstaufführung findet 1926 in Prag statt, die erste russische 1927 in Leningrad. Wien, Alban Bergs Heimatstadt, folgt erst 1930.
Ebenfalls 1930 läuft das Stück in Amsterdam, 1931 in Philadelphia, Zürich und New York, 1932 in Brüssel und Brünn, 1934 konzertant in London, 1942 in Rom, 1950 in Neapel, 1952 diesmal als Gesamtoper unter Leitung Erich Kleibers in London, 1957 in Stockholm, 1960 in Paris, 1964 in Tokio, 1965 in Barcelona und unter Leitung Claudio Abbados 1971 an der Mailänder Scala. Das Werk ist längst zu einer Art Repertoire- Oper auf den Bühnen dieser Welt geworden.

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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