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Bernhard Meyer
Sauerbruch kommt an die Charité

Am 11. März 1928 hielt Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) seine offizielle Antrittsvorlesung an der Medizinischen Fakultät (Charité) der Berliner Friedrich- Wilhelm- Universität. Sein Oberarzt Rudolf Nissen (1896-1981), in München zum Lieblingsschüler avanciert, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass Sauerbruch »nervös und unsicher« gewesen sei, weil er sich nicht wie üblich der Sympathie der Zuhörer in der Metropole des Deutschen Reiches sicher sein konnte. Hinzu kam seine nur mäßige Vorbereitung in der noch immer wissenschaftlichen Glanz verbreitenden und die Mediziner von überall her anlockenden Charité. Er begründete dies mit Zeitmangel. Treffender ist wohl die Vermutung, dass er innerlich noch immer nicht den endgültigen Trennungsstrich zu München, seinem bisherigen Ordinariat, vollzogen hatte. Dort umschwärmt und erfolgsverwöhnt, wollte er nach dem bayerischen Gipfel die absolute Höhe eines chirurgischen Ordinariats im deutschsprachigen Raum erklimmen. Dazu besaß er alle wissenschaftlichen Meriten und den Ruf eines genialen Operateurs und exzellenten Hochschullehrers sowie auch das nötige Selbstvertrauen, aber eine gewisse Unsicherheit, ein Rest von Unentschlossenheit blieben.

Würden sein extravagantes Leben und das Streben nach gut bezahlten Privatoperationen in Berlin genauso akzeptiert werden wie in München?
     Die Reaktion seiner erwartungsfrohen Zuhörer auf die »Anhäufung von Gemeinplätzen« (Nissen) war dementsprechend zurückhaltend, der Beifall nur mäßig, und im Nachhinein gab es sogar von einigen Teilnehmern offene Ablehnung. Diese Atmosphäre stand ganz im Gegensatz zu seiner glanzvollen Abschiedsvorlesung vor 1000 Zuhörern in München. Dafür hatte er das Thema »Aufgaben, Ziele und Wege der modernen Tuberkulosebekämpfung« auserkoren, zu der er als Thoraxchirurg bereits Wesentliches geleistet hatte. Aufmerksam wurde das nicht unbedingt von ihm erwartete Bekenntnis zu prophylaktischem Denken registriert: »Die Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit gipfelt in der gewaltigen Aufgabe, Entstehung und Verbreitung der Seuche zu verhindern.« (Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung, Nr. 25, 1928, S. 365)
     Abschiedsbekundungen zuhauf in München: Festessen im Palais Freysing, Fackelzug der Studenten, offener Brief der Münchener Ärzteschaft - und immer wieder der gleiche Wunsch, er möge in München bleiben. Die Münchner Ärzte, sein hohes wissenschaftliches Niveau schätzend und ihn als frohsinnigen Unterhalter bei Gesellschaften verehrend, vermerkten mahnend, dass er der erste Mediziner sei, der ein Münchener Ordinariat gegen ein anderes eintausche.
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Wegbereiter der modernen Thoraxchirurgie

Und es gab eigentlich für ihn keinen Grund, die bayerische Hauptstadt zu verlassen, in die er 1918 als Lehrstuhlinhaber für Chirurgie an der Maximilians- Universität gekommen war. An die zehn Jahre beruflicher Erfolge und persönlichen Wohlbefindens und Anerkennung mit dem von ihm so begehrten Titel »Geheimer Hofrat« (er ließ sich fortan nur mit »Herr Geheimrat« anreden) lagen hinter ihm. Er stand in dem Ruf, der Wegbereiter der modernen Thoraxchirurgie zu sein, und konnte auf international anerkannte Leistungen bei der Operation der Speiseröhre, des Mageneingangs sowie der Herz- und Hirnchirurgie verweisen. Dort, wo er bisher gewirkt hatte, waren immer Zentren moderner Chirurgie entstanden, so auch in München. Seine Klinik war mit 600 Betten die größte in der Weimarer Republik. Sauerbruch hielt die »Münchner Stellung der in der Charité für überlegen«.
     Der Grund für Sauerbruch, über Berlin nachzudenken, war die 1927 erfolgte Emeritierung von Otto Hildebrand (1858-1927). Der nahm dort seit 1904 einen der beiden chirurgischen Lehrstühle ein, nach allgemeiner Ansicht aber nur den 2. Lehrstuhl nach dem berühmten August Bier (1861-1949), der in der Ziegelstraße residierte.


Ferdinand Sauerbruch

Natürlich stand Sauerbruch unangefochten an erster Stelle als Nachfolger von Hildebrand. Begeistert war er nicht gerade vom Wechsel, und doch zog es ihn magisch nach Berlin, denn sein Ehrgeiz bestand darin, »die erste Stelle« der Chirurgie in Deutschland zu besetzen (Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, S. 312).

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Diesen innerlichen Drang konnten die Münchener nicht mit dem Versprechen aufhalten, die Bettenzahl seiner Klinik auf 750 aufzustocken. An der Charité erwarteten ihn nur 350 Betten. Aber da war ja noch die Biersche Klinik mit über 220 Betten - das eigentliche Ziel seiner Begierde. Hier war das Mekka der Chirurgie, hier wirkten seit über einem Jahrhundert die Koryphäen seines Fachgebiets: Karl Ferdinand von Graefe (1787-1840), Johann Friedrich Dieffenbach (1792-1847), Bernhard von Langenbeck (1810-1887), Ernst von Bergmann (1836-1907) und schließlich der von ihm durchaus geachtete August Bier (1861-1949), der sich ebenfalls mit 66 Jahren dem Emeritierungsalter näherte. Im sozialdemokratisch geführten preußischen Kultusministerium allerdings war man auf Sauerbruch nicht so gut zu sprechen, weil dessen »abfällige Äußerungen über die demokratische Regierung Preußens« sowie sein Erscheinungsbild als »nationalistischer Heißsporn« (Nissen) als unangebracht registriert wurden.
     Nun wollte er es »den Berlinern mal geben«. Außerdem mochte ihm die Ansicht seines Kollegen aus Marburger Zeiten, Walter Stoeckel (1871-1961), in den Ohren geklungen haben, der die Hauptstadt lobte: »Berlin: nicht nur eine befohlene Weltstadt, sondern die schönste Stadt der Welt.« Seine Berufungsverhandlungen in Berlin folgten einer klaren Konzeption:
Doppelberufung für die Charité- Chirurgie und die Ziegelstraße, bauliche Modernisierungen in der Charité- Chirurgie und Neubau in der Ziegelstraße. Außerdem die Mitnahme seiner wichtigsten Oberärzte Rudolf Nissen (1896-1981), Emil Karl Frey (1888-1977) und Willi Felix (1892-1962) sowie fünf weiterer Assistenten aus München. Ferner bat sich Sauerbruch ein halbes Jahr Probezeit aus. Dieses Paket war ein hoher, normalerweise unüblicher Preis für das Kultusministerium, das stets von der noch immer ungebrochenen Zugkraft eines Berliner Lehrstuhls ausgehen konnte. Sauerbruch, so spürte man dort, war zu diesem Tarif nicht zu bekommen.
     Das Kultusministerium stimmte schließlich den Forderungen Sauerbruchs zu. Der Berufung auf den Bier- Lehrstuhl wurde stattgegeben, aber erst nach dessen Emeritierung, was Sauerbruch wegen der Zählebigkeit derartiger Angelegenheiten nicht gefallen konnte. Die chirurgische Charité- Klinik wurde in Jahresfrist (1928/29) modernisiert und ein Neubau in der Ziegelstraße zugesichert. Insgesamt acht Chirurgen verließen mit Sauerbruch München und sorgten dort für eine beträchtliche Lücke. Dies umso mehr, als sich in München kein Nachfolger aufdrängte. So pendelte Sauerbruch ein halbes Jahr lang zwischen Berlin und München: Montag, Dienstag und Mittwoch in Berlin Vorlesungen und Operationen, Donnerstag, Freitag und Sonnabend das gleiche Pensum in München.
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Mit diesem Verhandlungsergebnis hätten alle Seiten gut leben können, aber da war der Wille nach raschen Lösungen des mittlerweile auch schon 57jährigen Sauerbruch, der offen und hinter den Kulissen alle Fäden zog, um schneller den anderen Lehrstuhl vereinnahmen zu können.
     Begünstigt wurde dieses Vorhaben durch die Tatsache, dass im Ministerium Mitte 1928 plötzlich Geld für den Neubau budgetiert werden konnte. Aber Bier erfreute sich bester Gesundheit und sah keinen Grund für ein vorzeitiges Ausscheiden. So wurde das Geld anderweitig verwendet und der Neubau verschoben. Inzwischen führten die Weltwirtschaftskrise 1929 und die politischen Spannungen in der Weimarer Republik zu einer solchen finanziellen Misere, sodass ein Neubau in weite Ferne rückte. Um den drängenden und intrigierenden Sauerbruch zu beruhigen, beschloss der preußische Landtag kurzerhand, die Chirurgie in der Ziegelstraße nach dem Frühjahrssemester 1932 ohne Neubau ersatzlos zu schließen. Für Sauerbruchbedeutete diese Entscheidung, dass es keinen zweiten Lehrstuhl mit einem Konkurrenten wie dem begabten Bier- Schüler Victor Schmieden (1874-1945) geben würde und er der alleinige Beherrscher der Chirurgie an der Charité wäre.
August Bier sah das Ende einer ruhmreichen Tradition

Für Bier stellte sich der Vorgang als seine »größte Enttäuschung« dar. Gerade als er dabei war, seinen 70. Geburtstag im Jahre 1931 vorzubereiten und sein 25jähriges Charité- Jubiläum 1932 anstand, ereilte ihn mehr und mehr die Gewissheit, dass über ein Jahrhundert großer und bedeutender Chirurgie in der Ziegelstraße unter seiner Ägide, aber nicht von ihm verschuldet, zu Ende gehen würde. Das war für ihn schwer zu ertragen, wenn auch seine »Königliche Klinik«, 1882 als eine der modernsten in Europa eröffnet, in die Jahre gekommen war. Diese Klinik war nicht nur in der Sicht des Dekans und Frauenarztes Walter Stoeckel in einem bemitleidenswerten Zustand, die er als »veraltete, verbaute und in jeder Beziehung miserable Universitätsklinik« betrachtete, »die als steinernes Dokument der Unterlassungssünden nun schon seit Jahrzehnten darauf wartete, ... gründlich um- und neugebaut zu werden« (Stoeckel, Erinnerungen eines Frauenarztes, S. 334). Die nicht unbeträchtliche Anhängerschaft Biers versammelte sich letztmalig anlässlich seiner Emeritierung 1931 zu einem Triumph der Sauerbruch- Opponenten.

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Bier selbst war wohl eher resigniert: »Die einzige Bitternis für mich ist, dass dieses Institut mit seiner glanzvollen Vergangenheit und seiner ruhmreichen Tradition jetzt zugrunde geht. Ich bin der Meinung, es hätte auch anders gehen können. Aber wenn ich einen Wunsch äußern sollte, so ist es der, dass diese altberühmte Lehrstätte bald wieder auferstehen möge!« Zu einem Neubau der Klinik Ziegelstraße kam es nie.
     Sauerbruch schwang sich nun endgültig zum chirurgischen Papst im deutschsprachigen Raum auf. Von dieser Höhe her vermochte er Spitzenleistungen wie den Herzkatheter- Selbstversuch seines Assistenten Werner Forßmann (1904-1979) im Oktober 1929 an seiner Klinik nicht zu erfassen, mit dem die Herzdiagnostik revolutioniert wurde. Forßmann erhielt für diese Leistung 1956 den Nobelpreis für Medizin. Ansonsten nahm Sauerbruch mit seiner Familie in unmittelbarer Nachbarschaft von Max Liebermann (1847-1935) am Wannsee Quartier (hier entstand 1932 das meisterhafte Porträt »Prof. Ferdinand Sauerbruch«). Seine Söhne wurden flügge: Hans entwickelte sich unter Beobachtung Liebermanns zu einem angesehenen Maler, Peter schlug die Offizierslaufbahn ein, und Friedrich studierte sehr zur Freude seines Vaters Medizin. Die Ehe mit seiner Frau Ada unterlag, wie schon in München, ernsthaften Spannungen. Ende der 30er Jahre wurde sie geschieden.
In jener Zeit fuhr Sauerbruch alle paar Monate ein anderes Auto, hatte er in Werner Körte (1853-1937), dem chirurgischen Chef des Urban- Krankenhauses, einen verlässlichen Freund und Ratgeber für das Berliner Pflaster, denn seine Berlinerfahrungen umfassten nur das Jahr 1902/03, als er im Krankenhaus Moabit eine pathologische Ausbildung absolviert hatte. Stoeckel, der sich ihm auch jetzt freundschaftlich verbunden fühlte, sah nunmehr seine Metamorphose von einem liebenswürdigen Kollegen zu einem »Star mit Primadonnen- Allüren« vollzogen (Erinnerungen eines Frauenarztes. S. 335). Trotz alledem stand Sauerbruch unangefochten an der Spitze der deutschen Chirurgen, und er selbst erlebte in seinen Berliner Jahren den Höhepunkt seiner facettenreichen Karriere. Um nur eines noch herauszugreifen: 1931 gelang ihm als erstem die Ausbuchtung einer Herzwand nach einem Herzinfarkt - damals eine chirurgische Meisterleistung.

Bildquelle: Archiv LBV

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 6/2000
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