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Viktor Otto
Raubmord, Irre, Kunst und Strich

Die Derfflingerstraße in Tiergarten
Für Horst Schwiemann

Vor nicht allzu langer Zeit fand der interessierte Leser die Derfflingerstraße im Fototeil von Christiane F.'s Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gewürdigt, heute begegnet er einer stillen, verkehrsberuhigten Zone:

Der Dichter Walter Mehring (1896-1981) konnte sich noch nach Jahrzehnten an den über die Dächer fliehenden Verbrecher erinnern1) - und Kurt Tucholsky (1890-1935) bemerkte ehrfurchtsvoll: »Man erinnert sich vielleicht an einen gewissen Hennig. [...] der Verbrecher leistete Erstaunliches in der Höhengymnastik.«2) Hennig war so berühmt, daß Tucholsky noch 1920 voraussetzen konnte, daß seine Leser einen fiktiven Buchtitel zuordnen können: »Mein letzter Lustmord. Von Raubmörder Hennig. Eine Aufklärung über die sensationelle Bluttat in der Derfflinger Straße von beteiligter und deshalb berufener Seite.«3)
Nicht mehr Drogenabhängige und Prostituierte, sondern vor allem die Schüler des Französischen Gymnasiums prägen mit ihren uniformen Puffjackets und Markenrucksäcken das Straßenbild. Nicht immer war es hier so beschaulich. Lange vor den Bordsteinschwalben bewegte 1906 ein Raubmörder namens Karl Rudolf Hennig die Gemüter der gutbürgerlichen Anwohner.

Derfflingerstraße, von der Kurfürstenstraße aus gesehen
(Aufnahme wahrscheinlich vor 1918)
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Wirklich geschrieben und sogar aufgeführt, allerdings nicht von Hennig selbst, sondern von einem gewissen C. Heuser, wurde das Stück Der Fall Hennig oder Der Roman eines Verbrechers.4)
     In der Kaiserzeit und der Weimarer Republik war die Derfflingerstraße aber nicht nur Ort eines bekannten Verbrechens, sondern auch Adresse zahlreicher Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens: Der erwähnte Walter Mehring, 1896 in der Derfflingerstraße 3 geboren, schloß Bekanntschaft mit dem Sozialistenführer Franz Mehring, der in derselben Straße wohnte: Sie trafen sich zum regelmäßigen Austausch ihrer Post, die der Zusteller versehentlich falsch eingeworfen hatte.5)
     In der Nr. 16 (später wird man in die Nr. 15 umziehen) hatte der renommierte Verlag Bruno Cassirer seinen Sitz, in dessen Räumen auch vielbesuchte Ausstellungen stattfanden - u.a. mit Werken von George Grosz (1893-1959), Lovis Corinth (1858-1925), Max Liebermann (1847-1935), Max Slevogt (1868-1932) und Heinrich Zille (1858-1929). Die Verlagsangestellte Asta Smith beschreibt Bruno Cassirers (1872-1941) Bemühungen um die Kunst:
     Nachdem er mit großer Liebe und Sorgfalt das Material ausgewählt und die Ausstellung aufgebaut hatte, war er selbst am Eröffnungstage, wenn die ersten Besucher und Kritiker die Räume betraten, verschwunden. In sein privates Arbeitszimmer zurückgezogen, meditierte er über Kunst,
die Pflichten der Repräsentation anderen überlassend. Es bedurfte oft sanfter Gewalt, Cassirer wenigstens zu einer kurzen Begrüßung seiner Gäste zu veranlassen.6)
     Ein Bild der Verlagsräume hat der Lektor Max Tau gezeichnet:
     Die Villa des Bruno-Cassirer- Verlages unterschied sich in nichts von den anderen Villen der geruhigen Derfflinger Straße. Durch die Fenster sah man in Gärten, und man hörte den Gesang der Vögel. Blühten die Linden, dann waren die Herzen aller Mitarbeiter aufgeschlossen. Wie die Natur uns mit dem Leben verband, so gedieh auch der Verlag. Stille herrschte. Im Vorraum mahnten kämpferische Zeichnungen der Käthe Kollwitz, den Menschen zu helfen. Im Zimmer Cassirers leuchtete eine Radierung von Max Liebermann: die Enkelin, von der Mutter geführt, tut ihre ersten Schritte.7)
     Der Dichter Christian Morgenstern (1871-1914) war Autor, Lektor und Redakteur des Verlages. Efraim Frisch, Mitarbeiter der von Morgenstern betreuten Zeitschrift Das Theater, die im Verlag Bruno Cassirer erschien, erinnert sich:
     Auf der letzten Seite der Hefte unten steht zwischen zwei feinen Doppellinien: Verantwortlich für die Redaktion Christian Morgenstern, Berlin. Im Hinterzimmer Derfflingerstraße 16, dessen Wände er mit eignen farbigen Scherenschnitten seiner Galgentiere und mit phantastischen Klexsbildern verziert hatte, saß der Verantwortliche und redigierte.
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Es war immer Feiertag, wenn man zu ihm kam. Niemand wohl konnte alles, was er tat, mit so viel Enthusiasmus, heiterer Hingabe, Unverdrossenheit und Akkuratesse zugleich verbinden, wie er.8)
     Neben Verlag und Kunst waren Pferde die Leidenschaft Bruno Cassirers - was Alfred Döblin (1878-1957) zu der Bemerkung veranlaßte: Bruno Cassirer ist ein Mann, den ich, einschließlich Frau, recht gut mag. Er treibt Verlag und Kunsthandel, gemildert durch Pferdezucht.9) Viel Zeit verbrachte Cassirer auf der Mariendorfer Trabrennbahn, deren maßgeblicher Initiator und Förderer er war. Der Verlagsmitarbeiter Emil Waldmann entsinnt sich der »Telephonistin in dem so sympathisch einfachen Büro in der Derfflingerstraße«, die mitteilt: Herr Cassirer ist heute in Mariendorf.10) Übrigens lebte der Schriftsteller Wilhelm Herzog, der zusammen mit Paul Cassirer (1871-1926) - einem Vetter Brunos - die Kulturzeitschrift Pan herausgab, in der Derfflingerstraße Nr. 4.
     Wolfgang Koeppen erinnert sich, daß sein Verleger Bruno Cassirer enge Beziehungen zu hohen deutschen Militärs pflegte.11) Ob auch General Wilhelm Groener (1867-1939) zu den Gästen des Hauses gehörte, ist nicht überliefert. Jedenfalls wohnte der spätere Reichswehrminister nach dem Ersten Weltkrieg

Walter Mehring unter Freunden und Kindern, rechts: Paul Citroen (Aufnahme: Martin Wasserzug, 1913)

 
nur einige Schritte vom Cassirer- Verlag entfernt in der Derfflingerstraße Nr. 19a - zu einer Zeit, als er mit der Aufgabe betraut war, das deutsche Heer zu demobilisieren. Als Groener 1931 in seiner Eigenschaft als Reichswehrminister Strafantrag gegen Tucholsky stellte, da dieser in einer Glosse den folgenschweren Satz »Soldaten sind Mörder« hatte fallenlassen, verteidigte Walter Mehring den angegriffenen Kollegen in einer »Eingabe an das Reichswehrministerium«, die er in der Weltbühne abdrucken ließ:

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»Meine erste Ausstellung. Okt. 1915 Derfflingerstr. 21. Mehring als Publikum«: Citroen in der Tür, Mehring mit Hut und sitzend im Hintergrund (Aufnahme: Erwin Blumenfeld)
In der Derfflingerstraße Nr. 21 veranstaltete der Fotograf Paul Citroen (1896-1984) seine erste Ausstellung in den Räumen der elterlichen Wohnung. Es ist hiervon ein Foto überliefert, das sein Freund und später prominenter Kollege Erwin Blumenfeld (1897-1969) aufgenommen hat: »Meine erste Ausstellung. Okt. 1915 Derfflingerstr. 21. [Walter] Mehring als Publikum.«
     Citroens Mutter arbeitete aus patriotischem Antrieb als Krankenschwester in der im Hof gelegenen Privatklinik, die im Ersten Weltkrieg als Lazarett diente. Seit ihrer Gründung im Jahre 1905 leitete der Chirurg Ernst Unger das Krankenhaus -
Mehring zitierte ausführlich Aussagen historischer Größen, die Tucholskys Diktum stützten.12)
     Tucholsky selbst bedachte Groener und zwei seiner Amtsvorgänger mit Versen, deren Schlußreim dem phantasiebegabten Leser ohne weiteres aufgeht. Das Beschlagnahmefreie Gedicht klingt aus:
     Die Zeiten werden schön und schöner.
     Ich denk an Männer, kühn und barsch:
     An Noske, Geßler und auch Groener.
     Lieb Vaterland (siehe oben).13)
bis er 1938 mit Berufsverbot belegt wurde, da er Jude war. Mit der Reichsfrauenführung hielt nun die höchste weibliche Parteiorganisation der NSDAP Einzug. Der Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945) lebte in der Derfflingerstraße 9: mit freiem Blick auf die gegenüberliegende NS- Organisation. Nach dem Krieg wurde die Nr. 21 wieder Klinik. Bis 1982 beherbergte sie die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses Moabit. Seit 1991 ist das Haus ein Studentenwohnheim.14)
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Quellen:
1 Handschriftliches undatiertes Einzelblatt in der Sammlung Walter Mehring der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Künste. Für Hinweise und Anregungen danke ich Frank Flechtmann (Berlin), Michael Hepp (Hude), Roland Links (Leipzig) sowie vor allem Horst Schwiemann (Berlin). Für die Überlassung von Fotomaterial danke ich herzlich Frau Christie Citroen-Frisch.
2 Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Auf Diebstahl: Todesstrafe -!, in: Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe, hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker, Bd. 5: Texte 1921-1922, hrsg. von Roland und Elfriede Links, Reinbek 1999, S. 84-88, hier: S. 84f.
3 Ignaz Wrobel [d.i. Kurt Tucholsky], Das politische Feigenblatt, in: Tucholsky, Gesamtausgabe (Anm. 2), Bd. 4: Texte 1920, hrsg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger, Reinbek 1996, S. 231-233, hier: S. 232.
4 Vgl. die Aufführungskritik von W[alter] T[urszinsky], Hennig und sein Publikum, in: Die Schaubühne 2 (1906), Nr. 34, 23.8.1906, S. 174f.
5 Walter Mehring im Gespräch mit dem Mehring- Forscher Horst Schwiemann.
6 Asta Smith, Von der Verlagsarbeit Bruno Cassirers, in: Vom Beruf des Verlegers. Eine Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bruno Cassirer, Berlin [Privatdruck 1932], S. 99-101, hier: S. 100.
7 Max Tau, Das Land, das ich verlassen mußte, Hamburg 1961, S. 193.
8 Efraim Frisch, Episode, in: Vom Beruf des Verlegers (Anm. 6), S. 41-43, hier: S. 42.
9 Alfred Döblin, Von der Literatur aus, in: Vom Beruf des Verlegers (Anm. 6), S. 31.
10Emil Waldmann, Lieber Bruno Cassirer, in: Vom Beruf des Verlegers (Anm. 6), S. 110-113, hier: S. 113.
11Vgl. Harry Nutt, Bruno Cassirer, Berlin 1989, S. 59 (= Preußische Köpfe 25).
12Walter Mehring, Ich zeige an! Eingabe an das Reichswehrministerium betr. Erlaß vom 29. Januar 1932, in: Die Weltbühne 28 (1932), Nr. 11, 15.3.1932, S. 416-418.
13Theobald Tiger [d.i. Kurt Tucholsky], Beschlagnahmefreies Gedicht, in: Die Weltbühne 28 (1932), Nr. 13, 29.3.1932, S. 492.
14Zur Geschichte des Hauses Derfflingerstraße 21 vgl. Norbert Roth: Derfflingerstraße 21, Berlin [Privatdruck ca. 1993].

Bildquelle: Archiv Autor

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 5/2000
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