26   Probleme/Projekte/Prozesse Das Jahr 1903  Nächstes Blatt
Karl-Heinz Arnold
1903, ein ganz normales Jahr

Jürgen Kuczynski hat 1988 ein Buch vorgelegt, das, neben dem behandelten Gegenstand, auch über DDR-Sichten auf die Geschichte informiert: 1903. Ein normales Jahr im imperialistischen Deutschland, erschienen im Akademie-Verlag Berlin.
     Das Buch ist, wie der Verfasser selbst mitteilt, der Versuch, das Leben der Menschen in Deutschland in einem »normalen« Jahr zu analysieren und darzustellen. Normal in dem Sinne, daß es kein herausragendes Ereignis wie etwa 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab. Eine im Jahr 1900 begonnene Wirtschaftskrise ist halbwegs überwunden. Die Beschäftigung hat in den meisten Branchen zugenommen, vor allem im Baugewerbe, weniger im Maschinenbau. Der Staatshaushalt für 1903 leidet jedoch noch unter den Schwierigkeiten, mit denen Landwirtschaft, Handel und Industrie zu kämpfen hatten, und muß durch Kredite ausgeglichen werden, trotz der vorsichtigen und sparsamen Bemessung der Verwaltungsausgaben, wie Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident von Bülow mitteilt.
     Die Börse hat begriffen, daß es aufwärts geht.

Viele Aktienkurse steigen im Laufe des Jahres um zehn, zwanzig und mehr Prozent. Die Hausse, die in den letzten Tagen des alten Jahres begann, erfreut noch immer das Herz der Börsianer, heißt es in der Fachpresse. Ein Wirtschaftskorrespondent kommentiert mit warnendem Unterton: Die ungesunde Überspekulation, die nicht nüchtern rechnet, sondern, um schnelle Profite einzuheimsen, skrupellos zu jedem Kurs kauft, ist wieder in den Börsensälen heimisch geworden.
     Begünstigt wird die Entwicklung durch technische und organisatorische Neuerungen. Hierzu zählen sowohl die Konstruktion von Gasgeneratoren (»Generator- Gasanlagen«), die der herkömmlichen Kolbendampfmaschine überlegen sind, als auch der Dampfturbine, die eine wesentlich stärkere Ausnutzung des Dampfes ermöglicht. Das heißt, 1903 wird die Dampfmaschine von der Dampfturbine abgelöst. Zugleich bringt dieses Jahr den bisher stärksten Konzentrationsprozeß vor allem in der gewerblichen Wirtschaft. Dazu heißt es in einer weiteren einschlägigen Publikation: Die Organisation der deutschen Produktion in leistungsfähige Verbände, die Verschmelzung wirtschaftlich verwandter oder sich ergänzender Betriebe hat Fortschritte gemacht wie nie in einem Jahr zuvor. Die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft in Berlin und die (rheinische) Union- Elektrizitätsgesellschaft bilden ein Kartell. Zwei andere Großbetriebe, Siemens & Halske und Schuckert, fusionieren. In der Steinkohle- sowie der Eisen- und Stahlindustrie bilden sich Monopole und Kartelle.
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Während in vielen Betrieben die Löhne noch unter das Niveau der Krisenzeit gedrückt werden, bezeichnet Handelsminister Möller bei der Schaffermahlzeit vor den Bremer Honoratioren, daß gegenwärtig die Macht der Konzentration des Geschäfts die Welt regiert, und betont: Ohne die Arbeitskraft von Handel und Industrie, ohne das immense Vermögen und Einkommen, die durch sie geschaffen sind, werden wir nicht die machtvolle Nation sein können, die wir sind. Armee und Marine verschlingen Hunderte von Millionen, und wir mögen die Arbeit der Männer segnen, die die Mittel dazu herbeischaffen. Darum darf der Stand, der heute den größten Beitrag zur Erhaltung von Staat und Reich beiträgt, nicht in seinen Interessen niedergedrückt werden. Kuczynski versäumt nicht, ergänzend zu diesen Prozessen auf den Zusammenschluß der rund 200 Arbeitgeberverbände zu einer Gesamtorganisation hinzuweisen.
     Zu den markanten politischen Ereignissen des Jahres 1903 gehören die Reichstagswahlen, wobei vier Parteien jeweils mehr als 50 der insgesamt 397 Sitze erringen: Zentrum (100), Sozialdemokraten (81), Deutsch- Konservative (54), Nationalliberale (51). Den bedeutendsten Zugewinn gegenüber 1899 erreichen die Sozialdemokraten mit 25 Sitzen.
     Der Dresdner Parteitag der SPD im September 1903 wird in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914 ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen der Marxisten mit den Revisionisten, kommentiert J. K. unter Hinweis auf die leidenschaftliche Rede August Bebels.
Er betont zugleich die Inkonsequenz, die auf dem Parteitag im Kampf gegen die Träger des bürgerlichen Einflusses in der deutschen Arbeiterbewegung zum Ausdruck gekommen sei. Neben zahlreichen redaktionellen Pressestimmen wird auch Karl Kautsky zitiert. Unter Hinweis auf die scharfen, von persönlichen Angriffen begleiteten Rednerduelle - an denen sich Rosa Luxemburg und Clara Zetkin beteiligten - faßt er seine »Meinung« in der Berliner »Neuen Zeit« zusammen: Die einen begrüßen diese Enthüllungen als ein reinigendes Gewitter, die anderen beklagen sie als eine reißende Flut, die unsere fruchtbaren Äcker verwüstet. Weder für die eine noch für die andere Anschauung kann man sich heute entscheiden.
     Schöne Literatur und Wissenschaft - dieses Thema hatte es J. K. so angetan, daß er ihm ein gesondertes (5.) Kapitel widmete.
     So zitiert er ausführlich die Zeitschrift »Das litterarische Echo« (6. Jahrgang, Berlin 1903/04), die »National-Zeitung«, die »Tägliche Rundschau« und andere zeitgenössische Quellen, um über Buchproduktion, Lesegewohnheiten, Buchhandel, Theater und Kritik zu informieren, stets mit relativ sparsam kommentierenden oder nur überleitenden Texten. Interessant beispielsweise eine vom »Litterarischen Echo« veröffentlichte Übersicht über die meistgelesenen Bücher, bei der Thomas Manns »Buddenbrooks«, 1901 erschienen, nur auf dem vierten Platz landet.
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Wir erfahren weiter, daß nach Ansicht der Fachleute in Deutschland einerseits zu wenig Bücher gekauft werden, es andererseits aber beschämend eifrige Nachfrage nach sogenannter pikanter Lektüre gibt und nach all jenen Büchern, die sexuelle Fragen, insbesondere Perversitäten, wie Flagellantismus, Homosexualität und dergleichen unter dem Deckmantel der »Wissenschaftlichkeit« behandeln. Dem könne durch die »schlafende Zensur« nicht begegnet werden. Zugleich wird angesichts der insgesamt geringen Nachfrage nach Literatur ein übermäßiges Anwachsen des Buchhandelsgeschäftes von 1540 im Jahr 1861 auf nunmehr 5500 beklagt, ebenso die Verdoppelung der Buchproduktion binnen 50 Jahren auf nun 25000 neue Titel (1902). Da meldet sich denn auch gleich eine Lobby zu Wort, die eine Einschränkung der Gewerbefreiheit fordert, damit Unberufenen der Mißbrauch unserer Muttersprache zu unnötigem Geschreibe versalzen>/I> würde. Die einzige Möglichkeit einer Besserung sieht ein Literaturwissenschaftler darin, daß bei dem Bücher kaufenden und lesenden Publikum der persönliche Geschmack in der Auswahl der Lektüre stärker entwickelt und erzogen werde, damit es sich nicht durch die auf dem Büchermarkt jeweilig herrschende Tagesmode übertölpeln lasse. In einer Übersicht zum wissenschaftlichen Treiben der herrschenden Klasse im Jahre 1903, wie J. K. etwas abfällig formuliert, wird der geistige Reichtum dieser Zeit deutlich. Die wissenschaftlichen Zeitschriften würdigen die Nobelpreisträger des Vorjahres, Mommsen (Literatur) und Emil Fischer (Chemie). Einstein publiziert über Vorarbeiten zur Theorie der Brownschen Bewegung, Fritz Haber und Ferdinand Braun, zwei weitere künftige Nobelpreisträger, experimentieren über Ammoniaksynthese (Haber) und zur drahtlosen Telegraphie. Große Berliner Namen wie Otto Warburg, Max Planck, Jacobus van't Hoff, Ulrich von Wilamowitz- Moellendorff, eine Galaxie von Naturwissenschaftlern in Göttingen, Heidelberg mit seinen so bedeutenden Gesellschaftswissenschaftlern - viele Größen der Weimarer Zeit ragen auch 1903 schon hervor, konstatiert Kuczynski. Ausführlich dokumentiert er den 24. Jahrgang der »Deutschen Literaturzeitung« (1903). In Nr. 10 ist unter »Notizen« zu lesen: Aus Rudolf Virchows Nachlass hat seine Witwe der ägyptischen Abtheilung der kgl. Museen zu Berlin Reste von Mumienbinden und anderen Geweben als Geschenk überlassen. Die Nr. 13 enthält eine Besprechung von Ernst Cassirers Buch »Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen«; in Nr. 42 wird mitgeteilt:
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Ein unbekanntes Tagebuch von E. T. A. Hoffmann hat kürzlich Hans von Müller im Nachlasse Joseph Kürschners aufgefunden. In der Nr. 48 findet Kuczynski zwei Notizen interessant: die Aufgabenstellung des Berliner Architekten- Vereins für den Schinkel-Preis 1905. Geschaffen werden soll ein Architektur- Museum auf dem Restgrundstück der ehemaligen Tiergartenbaumschule an der Hardenbergstraße. Und: Rudolf Virchows etwa 7000 Bände umfassende Bibliothek ist von seiner Witwe der Berliner Medizinischen Gesellschaft geschenkt worden.
     Nicht zuletzt bemerkenswert ist, was J. K. in einem (6.) Kapitel, Soziale Struktur und wirtschaftliche Lage, aus zeitgenössischen Veröffentlichungen und - unvermeidlich - aus Lenins Werken zum alten und neuen Mittelstand zusammengetragen hat. Zum alten gehören die Handwerker, die Bauern, die Kleinhändler und die Mehrheit der Beamten, zum neuen - den es zu Marx' Zeiten noch nicht gab - zählen die Angestellten und die Intelligenz. Beide sind, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung bilden, eine Schicht ohne Perspektive in der kapitalistischen Gesellschaft, wie der Autor höchst irrtümlich mehrfach betont. In der Minderheit dagegen sind (auch) zu jener Zeit die vom Werner Sombart als »Vollblutproletarier« bezeichneten Lohnarbeiter in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten (ohne Landwirtschaft). Sombart errechnet, daß sie mit ihren Angehörigen nur 13 bis 14 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Sieht man von den Schlußfolgerungen des Autors ab, die - aus welchen Gründen auch immer - dem Zeitgeist der DDR in den 80er Jahren geschuldet sind, bietet das Buch eine Fülle von Quellen, die Einblicke in jenes »normale« Jahr 1903 geben. Zeugnisse einer ganz anderen Zeit, für die DDR Ende der 80er Jahre, finden sich im Anhang in Form von zwei Briefen: Dieter Fricke, Jahrgang 1927, Historiker in Jena mit zahlreichen Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte, äußert sich zum Manuskript des Buches, das ihm J.K. vorab zu kritischer Begutachtung übermittelt hatte. Darauf antwortet Kuczynski.
     Auch hier wird deutlich: Der alte Herr war eitel. Aus Frickes Brief habe er ersehen, daß es ihm - wie schon gelegentlich früher, insbesondere mit der »Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes« - gelungen sei, eine Pionierarbeit zu leisten. Offenbar konnte er der Versuchung nicht widerstehen, die Meinung des J. K. über den J. K. zu Papier zu bringen. Dabei hat sich Briefpartner Fricke in seinem Urteil doch recht zurückhaltend erwiesen: Es ist nur die Rede von relevanten und in den Jahren nach 1945 veröffentlichten Arbeiten Kuczynskis. Im übrigen schließt Fricke sich dem Urteil zweier Habilitanden an, denen er das Manuskript zu lesen gegeben hatte, und teilt mit: Mich hat Dein Manuskript immer wieder fasziniert; und zwar sowohl wegen der zeitgenössischen Quellenauszüge als auch wegen der guten, klugen Gedanken, mit denen Du sie eingeordnet und kommentiert hast.
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Kein Wort von Pionierarbeit. Vielmehr folgen vier Druckseiten mit fundierten kritischen Hinweisen und Fragen. Zum Beispiel: Wie ist es mit solchen Stichwörtern (hinter denen natürlich ganze Komplexe stehen) wie Staat, Jurisprudenz, Militär, Landbevölkerung? Oder um die Frage zu personifizieren: Warum tauchen bei Dir für das Jahr 1903 typische Namen wie Posadowsky, Althoff oder andere führende Vertreter der Ministerialbürokratie nicht auf?
     Ergänzen wir hier, daß Arthur Graf von Posadowsky- Wehner (1845-1932) von 1897 bis 1907 als Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren zugleich Stellvertreter des Reichskanzlers war und sowohl soziale als auch wirtschaftspolitische Reformen durchführte, die zu erwähnen, ja zu beurteilen dem Autor J. K. sehr wohl angestanden hätte. Und der allmächtige Ministerialdirektor Friedrich Althoff (1839-1909), auch der »heimliche Kultusminister Preußens« genannt, tat viel für den Ausbau der Universitäten und anderer wissenschaftlicher Institutionen.
     Warum finden Berlepsch und Ernst Francke keine Erwähnung, fragt Fricke weiter. Immerhin war Hans Hermann Freiherr von Berlepsch (1843-1926), von 1890 bis 1896 preußischer Minister für Handel und Gewerbe, auch nach seinem Rücktritt wegen des wachsenden Widerstandes gegen sozialpolitische Reformen weiter zugunsten der Arbeiterschaft tätig. Er gehört also durchaus in das Bild des Jahres 1903. Das gilt auch für den Sozialpolitiker Ernst Francke (1852-1921).
Er gab seit 1897 das führende sozialpolitische Fachblatt »Soziale Praxis« heraus und schuf 1904 in Berlin das Büro für Sozialpolitik als eine Arbeitsstelle für Sozialreformen.
     Fricke findet noch mehr weiße Flecken in Kuczynskis Darstellung des Jahres 1903. So vermißt er ein Wort zu den Kriegervereinen, jener 2. Armee im schwarzen Rock, wie Wilhelm II. sie genannt hat. Fazit: Fricke bemängelt, daß Kuczynskis alltagsgeschichtliche Grundkonzeption für die dokumentarische Geschichte eines normalen Jahres im imperialistischen Deutschland nicht ausreicht.
     Es mag wohl an der Geschwindigkeit und Menge gelegen haben, mit der J. K. Publikationen produzierte, sehr lesbare und faktenreiche und insgesamt höchst bemerkenswerte Publikationen, daß er diese Kritik einstecken mußte. Und es ehrt ihn, wie er damit umgeht: Er läßt sie abdrucken. Mehr noch - J. K. nimmt seine selbstgefällige These, Pionierarbeit geleistet zu haben, zurück: Zugleich aber wird mir wieder klar, daß ich nur ein recht kleiner Pionier bin. Es sei ihm tatsächlich nicht gelungen, die gesellschaftlichen Prozesse des Jahres 1903 in all ihrer Komplexität darzustellen. Dies jedoch, so läßt J. K. mit einem fast koketten Hinweis auf seine 81 Jahre durchblicken, könne man von ihm nicht erwarten, und er meint wohl, andere würden es ohnehin nicht bewältigen. Bleibt noch anzumerken, daß dieses Buch zum Jahr 1903 sich als geistreicher und inhaltsreicher Beitrag heraushebt aus den genormten Landschaften auch der wissenschaftlichen Publizistik im letzten Jahrzehnt der DDR.
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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