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Wie wird man unser Jahrhundert einst nennen?
Wer dieses Jahrhundert durchlebt hat, auch nur mit einem Mindestmaß von Gedächtnis - und ist kein Skeptiker geworden: dem ist nicht zu helfen.
Über hundert Jahre hinweg hat es immer wieder vielfältige Versuche gegeben, das 20. Jahrhundert zu definieren, ihm einen Namen zu geben, seine charakteristische Bezeichnung zu finden. Aus der reichhaltigen Literatur sollen hier in einer fiktiven Befragung einige Ansichten vorgestellt werden, wobei sowohl die unterschiedlichen Sichtweisen als auch der jeweilige Aspekt des Jahrhunderts, der in den Mittelpunkt gerückt wird, von Interesse sind. Wenn man unser Jahrhundert mit anderen, vorausgegangenen vergleicht, was kann man dabei feststellen? José Ortega y Gasset, 1923:
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Helmuth Plessner, 1928:
Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens. Jede Zeit bezeichnet damit etwas Verschiedenes, Vernunft hebt das Zeitlose und Allgemeinverbindliche, Entwicklung das rastlos Werdende und Aufsteigende, Leben das dämonisch Spielende, unbewußt Schöpferische heraus. Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: Gesammelte Schriften, Band IV, Frankfurt am Main 1981, S. 37 Paul Fechter, 1956:
Eric Hobsbawm, 1994:
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Wie würden Sie das 20. Jahrhundert ganz allgemein kennzeichnen?
Gustave Le Bon, 1895:
Hannah Arendt, 1970:
Hans Jonas, 1991:
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Wenn wir auf dem Gebiet des Erkennens bleiben, so kann man sagen, daß dies ein großes Jahrhundert war. Und man soll das nicht ganz vergessen über dem Grauenhaften, dem Elend, der Vernichtung, der Entwürdigung, der Schmach dieses Jahrhunderts, es gibt auch eine Größe des Jahrhunderts.
Erkenntnis und Verantwortung, Göttingen 1991, S. 80 und 83 Alain Finkelkraut, 1996:
Welchen Namen könnte man dem 20. Jahrhundert geben? Jean Améry, 1978:
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Wir werden zu verzweifelt geringen Zeitspannen kommen, die wirklich gewaltlos waren. Es gab viel fürchterlichere, wenn auch quantitativ nicht so umfängliche Epochen der Gewalt in der Geschichte als die, die wir erlebt haben.
Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, daß es ein Jahrhundert der Gewalt war und zugleich ein Jahrhundert des Humanismus und daß allzuoft die Gewalt im Dienste grundsätzlich humanistischer Ideen stand ... Der Grenzgänger, Göttingen 1992, S. 26 Ralf Dahrendorf, 1999:
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Wenn Sie eine Zeitdiagnose wagen würden, wenn Sie das vorherrschende Lebensgefühl im 20. Jahrhundert beschreiben sollten, was würden Sie da nennen?
Karl Joel, 1913:
Karl Jaspers, 1931:
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Klaus Mann, 1942:
Über Ursprung und Charakter der permanentakuten Krise, durch die wir gehen, weiß der einseitig-geniale Freud ebensoviel und ebenso Ungenügendes auszusagen wie der einseitig- geniale Marx, was bedeuten will, daß die Wurzeln unserer Bedrängnis gleichzeitig in individueller und sozialer, erotischer und ökonomischer Sphäre zu suchen sind. Die rebellische Libido ist nicht weniger explosiv als der revolutionäre Klassenkampf; die traumesdunkle Mahnung, der kryptische Protest aus den Tiefen des persönlichen Unterbewußtseins vermischt sich mit dem Grollen aus anderer Unterwelt - der gesellschaftlichen. Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1963, S. 329 Martin Buber, 1950:
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gewissermaßen schon bereitstehendes abgelöst wird, sondern alle Systeme, die alten und die neuen, stehen gleicherweise in der Krisis. Was durch sie in Frage gestellt wird, ist nicht weniger als das Sein des Menschen in der Welt überhaupt.
Pfade in Utopia, Heidelberg 1950, S. 234 Eric Hobsbawm, 1994:
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Eine notwendige Anmerkung
In der Vergabe von Namen an unser Jahrhundert ist man in den letzten Jahren nicht gerade sparsam gewesen: Jahrhundert der Kriege, Jahrhundert der Diktaturen (oder auch der Diktatoren), das amerikanische Jahrhundert oder das sowjetische Jahrhundert, das Jahrhundert des Faschismus oder des Kommunismus, das Jahrhundert der Entkolonialisierung und das Jahrhundert des Sieges der Demokratie sind nur einige der mehr oder weniger zutreffenden Kennzeichnungen der vergangenen hundert Jahre. Dabei wird man an Johann Gottlieb Fichte erinnert, der in seinen »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« - Vorlesungen aus seiner Berliner Zeit in den Jahren 1804 bis 1805 - mit feiner Ironie feststellte: »... war etwa unsere Ansicht der gegenwärtigen Zeit selbst nur eine Ansicht von dem Augpunkt dieser Zeit aus, und war während dieser Ansicht unser Auge selbst Produkt dieser Zeit, so zeugte das Zeitalter eben von sich selbst, welches Zeugnis durchaus verwerflich ist; und wir hätten, weit entfernt den Sinn des Zeitalters zu erforschen, lediglich die Anzahl der Phänomene desselben um ein sehr entbehrliches und zu nichts führendes vermehrt.« |
Die Besichtigung unseres Zeitalters wird wohl noch eine Zeitlang andauern. Wie weit es gelingen wird, eine treffsichere Diagnose zu finden, die Bestand haben wird, muß die Zeit zeigen. Bis dahin kann man sich über die verschiedenen Jahrhundertdeutungen ärgern oder freuen, man kann ihnen zustimmen oder mit ihnen polemisieren. Und man kann mit einer gewissen Genugtuung entdecken, daß sich bestimmte Schwierigkeiten bei der Einsicht in ein, in sein Jahrhundert immer zu wiederholen scheinen. Schrieb doch schon jener anonyme Autor des Jahres 1804, der sich des Namens Bonaventura bediente, in seinen »Nachtwachen des Bonaventura«: »In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbständige ... Der Zeitcharakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjacke, und das ärgste dabei ist - der Narr, der darin steckt, möchte ernsthaft scheinen.«
Zusammengestellt und kommentiert von Eberhard Fromm |
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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