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Wie wird man unser Jahrhundert einst nennen?

Wer dieses Jahrhundert durchlebt hat, auch nur mit einem Mindestmaß von Gedächtnis - und ist kein Skeptiker geworden: dem ist nicht zu helfen.
      Ludwig Marcuse

Über hundert Jahre hinweg hat es immer wieder vielfältige Versuche gegeben, das 20. Jahrhundert zu definieren, ihm einen Namen zu geben, seine charakteristische Bezeichnung zu finden. Aus der reichhaltigen Literatur sollen hier in einer fiktiven Befragung einige Ansichten vorgestellt werden, wobei sowohl die unterschiedlichen Sichtweisen als auch der jeweilige Aspekt des Jahrhunderts, der in den Mittelpunkt gerückt wird, von Interesse sind.

Wenn man unser Jahrhundert mit anderen, vorausgegangenen vergleicht, was kann man dabei feststellen?

José Ortega y Gasset, 1923:
Das neunzehnte Jahrhundert riecht von einem Ende zum andern nach dem Schweiß des Arbeitstages. Heute sieht es so aus, als wolle die Jugend aus dem ganzen Leben einen unbeschwerten Ferientag machen.
     Die Aufgabe unserer Zeit, in: Gesammelte Werke, Bd. II, Augsburg 1996, S. 133

Helmuth Plessner, 1928:
Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens. Jede Zeit bezeichnet damit etwas Verschiedenes, Vernunft hebt das Zeitlose und Allgemeinverbindliche, Entwicklung das rastlos Werdende und Aufsteigende, Leben das dämonisch Spielende, unbewußt Schöpferische heraus.
     Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: Gesammelte Schriften, Band IV, Frankfurt am Main 1981, S. 37

Paul Fechter, 1956:
Mit dem Jahr 1900 hatte eine neue Epoche der Welt begonnen: das alte Zeitalter des Werdens, das von Herder und Goethe und Hegel bis Darwin und Haeckel gereicht hatte, war prompt mit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts gestorben und hatte der neuen Ära des Seins den Platz räumen müssen.
     Paul Fechter, Das zwanzigste Jahrhundert, in: Mario Krammer, Berlin im Wandel der Jahrhunderte. Eine Kulturgeschichte der deutschen Hauptstadt, Berlin 1956, S. 236

Eric Hobsbawm, 1994:
Bei ihm zählt das »>Kurze 20. Jahrhundert< (von) ... den Jahren vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion«, und ist das »mörderischste Jahrhundert von allen, über die wir Aufzeichnungen besitzen«, im Gegensatz zum »>Langen 19. Jahrhundert<, das eine Periode des beinahe ununterbrochenen materiellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts schien.«
     Das Zeitalter der Extreme, München 1998, S. 20 und 28

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Wie würden Sie das 20. Jahrhundert ganz allgemein kennzeichnen?

Gustave Le Bon, 1895:
Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.
     Psychologie der Massen, Stuttgart 1961, S. 2

Hannah Arendt, 1970:
Unser Jahrhundert ist vielleicht das erste, in welchem der Wandel der Bewohner im Tempo weit hinter der raschen Veränderung der Dinge dieser Welt hinterherhinkt.
     Ziviler Ungehorsam, in: Zur Zeit. Politische Essays, Hamburg 1999, S. 139

Hans Jonas, 1991:
Was unser Jahrhundert anlangt, so würde ich sagen, daß es ein Jahrhundert völlig unvorhersehbarer Überraschungen war, leider meistens nach der schlechten, der unglückseligen Seite hin.
     Dieses Jahrhundert begann mit der Entdeckung der Quantentheorie durch Max Planck und der Relativitätstheorie durch Einstein. Ein Jahrhundert, das so beginnt und ganz große neue Theoriebildungen schafft über das Universum, über das Wesen der Materie, über die Naturgesetze ..., ist ein großes Jahrhundert.

Wenn wir auf dem Gebiet des Erkennens bleiben, so kann man sagen, daß dies ein großes Jahrhundert war. Und man soll das nicht ganz vergessen über dem Grauenhaften, dem Elend, der Vernichtung, der Entwürdigung, der Schmach dieses Jahrhunderts, es gibt auch eine Größe des Jahrhunderts.
     Erkenntnis und Verantwortung, Göttingen 1991, S. 80 und 83

Alain Finkelkraut, 1996:
Unser Jahrhundert ist schlechterdings das Jahrhundert des unnötigen Leidens.
     Verlust der Menschlichkeit, Stuttgart 1998, S. 147

Welchen Namen könnte man dem 20. Jahrhundert geben?

Jean Améry, 1978:
Wenn Sie mich persönlich fragen, hab ich's natürlich als ein Jahrhundert der Gewalt erfahren, nicht ausschließlich, aber doch wesentlich als ein Jahrhundert der Gewalt. Versuche ich jedoch historisch zu denken, dann muß ich mich allerdings fragen, wie viele Jahrhunderte der Geschichte, die wir aufgezeichnet haben, waren denn gewaltlos?

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Wir werden zu verzweifelt geringen Zeitspannen kommen, die wirklich gewaltlos waren. Es gab viel fürchterlichere, wenn auch quantitativ nicht so umfängliche Epochen der Gewalt in der Geschichte als die, die wir erlebt haben.
     Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, daß es ein Jahrhundert der Gewalt war und zugleich ein Jahrhundert des Humanismus und daß allzuoft die Gewalt im Dienste grundsätzlich humanistischer Ideen stand ...
     Der Grenzgänger, Göttingen 1992, S. 26

Ralf Dahrendorf, 1999:
Es war das Jahrhundert, in dem die beiden sozialen Kinder der Aufklärung, die kapitalistisch- industrielle Revolution und die bourgeoisstaatsbürgerliche, sich unter Schmerzen nahezu überall durchsetzten. Es war das Jahrhundert der vollendeten Modernisierung ...
     Es war auch das sozialdemokratische Jahrhundert, ... weil das sozialdemokratische Projekt die treibende, umstrittene, zuweilen erlahmende, am Ende aber siegreiche Kraft des kurzen Jahrhunderts war.
     Das 20. Jahrhundert - Bilanz und Hoffnung, in: Spiegel des 20. Jahrhunderts, Hamburg 1999, S. 18

Wenn Sie eine Zeitdiagnose wagen würden, wenn Sie das vorherrschende Lebensgefühl im 20. Jahrhundert beschreiben sollten, was würden Sie da nennen?

Karl Joel, 1913:
Alle Zeitalter hatten ein geistiges Haus, in dem sie wohnten, ob sie's nun selber gebaut hatten oder ererbt ...
     Heute aber - wo ist die gemeinsame Atmosphäre des Geistes, wo die Weltanschauung, die in uns klingt oder sich um uns, über uns spannt und wölbt als Himmel und Horizont? Sind wir nicht geistig Nomaden ohne Heim und Heimat, Versprengte ohne Gemeinschaft und Führung? Schwanken wir nicht ohne Steuer und Anker auf der hohen See der Erkenntnis? ...
     Wir haben das reichste Leben; aber es fehlt ihm die Ruhe und Geschlossenheit, die innere Harmonie, weil ihm der Sinn für das Ganze fehlt, für den Ausgleich von Mensch und Welt. So wird die Krisis der Philosophie zur Krisis der Zeit.
     Die philosophische Krisis der Gegenwart, Leipzig 1922, S. 18 f.

Karl Jaspers, 1931:
Auf die Frage, was denn heute noch sei, ist zu antworten: Das Bewußtsein von Gefahr und Verlust als das Bewußtsein der radikalen Krise.
     Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1960, S. 76 f.

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Klaus Mann, 1942:
Über Ursprung und Charakter der permanentakuten Krise, durch die wir gehen, weiß der einseitig-geniale Freud ebensoviel und ebenso Ungenügendes auszusagen wie der einseitig- geniale Marx, was bedeuten will, daß die Wurzeln unserer Bedrängnis gleichzeitig in individueller und sozialer, erotischer und ökonomischer Sphäre zu suchen sind. Die rebellische Libido ist nicht weniger explosiv als der revolutionäre Klassenkampf; die traumesdunkle Mahnung, der kryptische Protest aus den Tiefen des persönlichen Unterbewußtseins vermischt sich mit dem Grollen aus anderer Unterwelt - der gesellschaftlichen.
     Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1963, S. 329

Martin Buber, 1950:
Seit drei Jahrzehnten empfinden wir, daß wir am Anfang der bisher größten Krisis des Menschgeschlechts leben. Es wird uns immer deutlicher, daß auch die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahre nur als Zeichen dieser Krisis zu verstehen sind. Sie ist keineswegs bloß die Krisis eines wirtschaftlichen und sozialen Systems, das durch ein anderes,

gewissermaßen schon bereitstehendes abgelöst wird, sondern alle Systeme, die alten und die neuen, stehen gleicherweise in der Krisis. Was durch sie in Frage gestellt wird, ist nicht weniger als das Sein des Menschen in der Welt überhaupt.
     Pfade in Utopia, Heidelberg 1950, S. 234

Eric Hobsbawm, 1994:
Die Zukunft kann keine Fortsetzung der Vergangenheit sein. Es gibt nicht nur äußere, sondern gleichsam innere Anzeichen dafür, daß wir am Punkt einer historischen Krise angelangt sind. Die Kräfte, die die technisch- wissenschaftliche Wirtschaft freigesetzt hat, sind inzwischen stark genug, um die Umwelt, also die materiellen Grundlagen allen menschlichen Lebens, zerstören zu können. Und die Strukturen der menschlichen Gesellschaft selbst, eingeschlossen sogar einige soziale Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaft, sind im Begriff, durch die Erosion dessen, was wir von der menschlichen Vergangenheit geerbt haben, zerstört zu werden. Unsere Welt riskiert sowohl eine Explosion als auch eine Implosion. Sie muß sich ändern.
     Das Zeitalter der Extreme, a. a. O., S. 720

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Eine notwendige Anmerkung

In der Vergabe von Namen an unser Jahrhundert ist man in den letzten Jahren nicht gerade sparsam gewesen: Jahrhundert der Kriege, Jahrhundert der Diktaturen (oder auch der Diktatoren), das amerikanische Jahrhundert oder das sowjetische Jahrhundert, das Jahrhundert des Faschismus oder des Kommunismus, das Jahrhundert der Entkolonialisierung und das Jahrhundert des Sieges der Demokratie sind nur einige der mehr oder weniger zutreffenden Kennzeichnungen der vergangenen hundert Jahre. Dabei wird man an Johann Gottlieb Fichte erinnert, der in seinen »Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters« - Vorlesungen aus seiner Berliner Zeit in den Jahren 1804 bis 1805 - mit feiner Ironie feststellte: »... war etwa unsere Ansicht der gegenwärtigen Zeit selbst nur eine Ansicht von dem Augpunkt dieser Zeit aus, und war während dieser Ansicht unser Auge selbst Produkt dieser Zeit, so zeugte das Zeitalter eben von sich selbst, welches Zeugnis durchaus verwerflich ist; und wir hätten, weit entfernt den Sinn des Zeitalters zu erforschen, lediglich die Anzahl der Phänomene desselben um ein sehr entbehrliches und zu nichts führendes vermehrt.«

Die Besichtigung unseres Zeitalters wird wohl noch eine Zeitlang andauern. Wie weit es gelingen wird, eine treffsichere Diagnose zu finden, die Bestand haben wird, muß die Zeit zeigen. Bis dahin kann man sich über die verschiedenen Jahrhundertdeutungen ärgern oder freuen, man kann ihnen zustimmen oder mit ihnen polemisieren. Und man kann mit einer gewissen Genugtuung entdecken, daß sich bestimmte Schwierigkeiten bei der Einsicht in ein, in sein Jahrhundert immer zu wiederholen scheinen. Schrieb doch schon jener anonyme Autor des Jahres 1804, der sich des Namens Bonaventura bediente, in seinen »Nachtwachen des Bonaventura«: »In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbständige ... Der Zeitcharakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjacke, und das ärgste dabei ist - der Narr, der darin steckt, möchte ernsthaft scheinen.«

Zusammengestellt und kommentiert von Eberhard Fromm

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 4/2000
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