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Frank Eberhardt
31. März 1900:
Eröffnung des ersten Berliner Gewerkschaftshauses

Am 31. März 1900 erschien in der Beilage des »Vorwärts« ein längerer Artikel, überschrieben »Das Gewerkschaftshaus«. Darin heißt es: »Aus dem Grau nüchterner Mietskasernen steigt keck ein roter Ziegelsteinbau in die Lüfte. Es ist ein massives Haus, dem auch der Nichtfachmann die Solidität auf den ersten Blick ansieht. Massig und doch von einer fast koketten Formenschönheit mit seinem hohen Frontgiebel, seinen weiten, der Sonne geöffneten Fenstern, seinen anheimelnden gastlichen Torbogen. >Gewerkschaftshaus< steht an der Front zu lesen.«
     Dieses Berliner Gewerkschaftshaus hatte schon Vorgänger in Stuttgart, Frankfurt a. M. und anderen Städten, die jedoch alle durch Umbau bestehender Gebäude entstanden waren. Nun war in Berlin ein eigens für die Gewerkschaften entstandenes Haus erbaut worden, das erste in Deutschland.
     Mit seiner Errichtung ist untrennbar der Name Martin Leo Arons (1860-1919) verbunden.

Der Sohn eines jüdischen Bankiers war Physiker geworden und seit 1890 als Privatdozent an der Berliner Universität tätig. Auf ihn geht die Erfindung der Quecksilberbogenlampe und die »Aronssche Schwingungsröhre« zurück. Aber Arons war auch aktiver Sozialdemokrat. Allwöchentlich trafen sich in seiner Wohnung Arbeiter, Gewerkschafts- und Parteifunktionäre sowie Gelehrte. Dort wurde auch der Gedanke erörtert, ein eigenes Haus für Arbeiter zu errichten. Arons hat diese Idee tatkräftig gefördert und das erforderliche Anfangskapital zum Kauf des Grundstücks am Engelufer (heute Engeldamm) zur Verfügung gestellt. Dreißig Gewerkschaftsorganisationen gründeten eine GmbH zum Bau des Hauses. Es war ein völlig neuer Gebäudetyp, den die beiden Regierungsbaumeister Konrad Reimer (1853-1915) und Friedrich Körte (1857-1929) schufen. Im Vorderhaus hatten die meisten der damals 92 Berliner Einzelgewerkschaften ihre Büros. Außerdem saß dort die Berliner Gewerkschaftskommission, die mit der Eröffnung des Hauses am 31. März 1900 das neue Domizil bezog. Im Parterre war der zentrale Arbeitsnachweis untergebracht, dazu zwei Läden und ein Restaurant. Das erste Quergebäude enthielt Säle verschiedener Größe, Vereinszimmer und Kegelbahnen. Im größten Saal hatten über 1 000 Personen Platz. Für wandernde Handwerksgesellen, beschäftigungssuchende Arbeiter und
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Erstes Berliner Gewerkschaftshaus am Engelufer, Straßenfront
 
reisende Gewerkschafter standen im zweiten Quergebäude 200 Betten bereit, dazu Baderäume und Waschküche.
     Das Haus war damals eine Sehenswürdigkeit und entsprach »allen modernen Anforderungen an Schönheit, Geschmack, Bequemlichkeit und praktischen Einrichtungen«. Es war ein »echter Ausdruck unserer klaren, aufgeklärten und manchmal ein
wenig nüchternen Zeit«, wie es in der zeitgenössischen Presse hieß.
     Die Neugier der Berliner auf das Gewerkschaftshaus war groß. Schon vor der Eröffnung erfolgten jeden Sonntag Führungen, und das blieb auch danach so. Eine der ersten offiziellen Besichtigungen wurde von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion durchgeführt.
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Karikatur auf die Lex Arons in »Der Wahre Jakob«
Aber auch Berliner Professoren schickten ihre Studenten, um die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten dieses Hauses zu untersuchen. Ebenso kamen viele Einzelpersönlichkeiten, wie der damalige Präsident des Preußischen Herrenhauses oder der berühmte französische Schriftsteller Anatole France (1844_1924).
     45 Jahre diente dieses Haus den Gewerkschaften. Am 2. Mai 1933 wurde es wie alle Gewerkschaftshäuser in Deutschland von der SA besetzt und in »Haus der deutschen Arbeit« umbenannt. Nun saß hier die faschistische Gewerkschaft. Doch dann trat ein Wechsel in der Nutzung ein. Nachdem schon im Ersten Weltkrieg ein Teil der Betten vom Roten Kreuz belegt worden war, diente das Gebäude auch ab 1945 zuerst als Notkrankenhaus und wurde in den folgenden Jahren zum Krankenhaus Mitte ausgebaut.
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Der erste Querflügel war allerdings den Bomben zum Opfer gefallen. Das Krankenhaus bestand wiederum etwa 45 Jahre. Dann zog das Tropeninstitut des Landes Berlin hier ein. Auch sein Bleiben währte nicht lange.
     1999 erfolgte wiederum ein Wechsel der Nutzung. Aber es waren nicht die Gewerkschaften, die ihr altes Gebäude wieder in ihre Regie nehmen wollten. Ein privater Investor ließ das Vordergebäude und das zweite Quergebäude zu Wohnungen umbauen. Mit seiner immer noch imposanten Backsteinfront, dem hier schon wiederhergestellten Grünzug im ehemaligen Luisenstädtischen Kanal zugewandt, wird es seinen neuen Bewohnern sicherlich ein angenehmes Zuhause sein. Im Erdgeschoß und im wieder teilweise aufgebauten Zwischenbau soll Gewerbe einziehen.
     Der Name »Gewerkschaftshaus« jedoch ist nicht mehr an der Front zu lesen.

Die Lex Arons

Eine besondere Beziehung besteht zwischen dem ehemaligen Gewerkschaftshaus und seinem Mitbegründer Leo Arons. Arons initiierte nicht nur den Bau und stellte Geld zum Erwerb des Grundstücks zur Verfügung. Er gehörte auch weiterhin dem Aufsichtsrat an und förderte die im Haus geleistete Arbeit mit Rat und Tat. Diese und vor allem seine Aktivitäten in der Sozialdemokratie brachten ihn in Konflikt mit der preußischen Politik.

Um ihn von der Universität ausschließen zu können, wurde 1898 ein spezielles Gesetz für Privatdozenten erlassen. Wenn diese die Pflichten verletzten, die ihnen ihre Stellung als akademischer Lehrer auferlegte, oder sich durch ihr Verhalten »in und außer dem Berufe« der Achtung, des Ansehens oder des Vertrauens, die ihre Stellung erfordert, unwürdig zeigten, konnte die Dozentur entzogen werden. Arons wurde 1899 auf der Grundlage dieses Gesetzes von der Privatdozentur suspendiert. Dieses Gesetz ging als »Lex Arons« in die Literatur ein.
     Leo Arons starb am 10. Oktober 1919. Seine Urne wurde am 20. Juli 1920 - nach Erteilung der polizeilichen Genehmigung - auf dem Gelände des Berliner Gewerkschaftshauses am Engelufer 14/15 (alte Nummerierung F. E.) beigesetzt. Als Ort wird der kleine Hof des 1907 erfolgten Anbaus an das Gewerkschaftshaus genannt. Nach der Besetzung durch die Nazis wurden Einfriedung und Gedenktafel der Begräbnisstätte zerstört. Die genaue Lage läßt sich heute nicht mehr rekonstruieren.
     Zum Gedenken an Arons wird an dem ehemaligen Gewerkschaftshaus eine Tafel angebracht werden.

Bildquellen: Archiv des Autors

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 3/2000
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