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Ruth Freydank
Berlin als Theaterhauptstadt

Ein Kapitel Nachkriegsgeschichte

Der Zweite Weltkrieg hatte in einem Inferno geendet. Am 8. Mai 1945 unterzeichneten in Berlin- Karlshorst in einer ehemaligen Pionieroffiziersschule Generalfeldmarschall Keitel, Generaladmiral von Friedeburg und Generaloberst Stumpff für die deutsche Wehrmacht, Marschall Shukow für die Rote Armee und Luftmarschall Sir Tedder für die alliierten Expeditionsstreitkräfte die Kapitulationsurkunde. Ab 23.01 Uhr schwiegen in Deutschland die Waffen. Mit ihren Unterschriften hatten die Militärs die totale Niederlage der zwölf Jahre währenden Diktatur des deutschen Faschismus besiegelt.
     Die Einwohner Berlins, die in jenen Tagen aus den Kellern ihrer zerbombten Häuser stiegen und die endlich die dumpfe Enge der Bunker verlassen konnten, fanden ihre Stadt in ein riesiges rauchgeschwärztes Trümmermeer verwandelt. Darüber wölbte sich jedoch der klare stille Himmel eines unwiderstehlichen schönen Frühlings. Inmitten dieses allgemeinen Chaos von geborstenen Gas- und Lichtleitungen, unwegsamen Straßen, zerstörten öffentlichen

Gebäuden, ohne Wasser, ohne funktionierenden Verkehr fanden Menschen wieder den Mut, Theater zu spielen.
     In dieser Welt, in der es noch kaum Kommunikation gab, wurde das Theater so etwas wie ein Forum für erste Verständigungsversuche. Dabei sah es sich unerwartet von den Siegern unterstützt. Die Kulturoffiziere der Roten Armee taten alles, um deutsche Initiativen zu fördern. In seinem Befehl vom 16. Mai 1945 - einem der ersten, den der sowjetische Stadtkommandant erließ - wurde den Berliner Theatern die Spielerlaubnis erteilt. Am 18. Mai gab es das erste Konzert nach dem Kriege. Es spielte das Orchester der Deutschen Staatsoper; am 19. Mai hatten schon wieder 30 Kinos geöffnet; am 26. Mai veranstalteten die Berliner Philharmoniker ihr erstes Konzert, und am 27. Mai erlebte Berlin im Renaissance- Theater mit Schönthans »Raub der Sabinerinnen« seine erste Nachkriegspremiere.
     In den folgenden Wochen befand sich die Stadt in einem regelrechten Premierenfieber: Am 1. Juni spielte die Tribüne in ihrem halb zerbombten Haus; die total zerstörte Städtische Oper wagte mit einem Ballettabend in ihrem Provisorium im Theater des Westens am 15. Juni ihren Neubeginn; am 17. Juni eröffente Franz Fiedler in der Freiherrvom-Stein-Schule die Kammerspiele Spandau; am 26. Juni gab es im Deutschen Theater in der Schumannstraße die erste Vorstellung. In der Eile hatte man auf
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ein Repertoire- Stück der Staatlichen Schauspiele zurückgegriffen: »Der Parasit« von Schiller. Es spielten: Elsa Wagner, Antje Weisgerber, Paul Bildt, Walter Franck und Aribert Wäscher. Am 30. Juni meldete sich die Deutsche Staatsoper zu Wort. An der feierlichen Eröffnungsveranstaltung im Deutschen Theater waren Erna Berger, Tiana Lemnitz, Margarete Klose und Peter Anders beteiligt. Am 1. Juli folgten das Theater am Nollendorfplatz mit Walter Kollos Operette »Die Frau ohne Kuß« und das Volkstheater Pankow, das sich in dem ehemaligen Kino Tivoli etabliert hatte, mit »Der Kreidekreis« von Klabund. Trotz des Hungers und der Kälte des ersten schweren Nachkriegswinters erlebte die Stadt einen Theaterboom. Es war, als müßte im Zeitraffertempo all das nachgeholt werden, was Goebbels' Propagandaministerium dem deutschen Theaterpublikum vorenthalten hatte. Die wiedergewonnene Freiheit äußerte sich in einem ungeheuren Nachholbedürfnis sowohl an großer nationaler wie internationaler Dramatik als auch an purer Unterhaltung. Inmitten der Trümmer, denn etwa 70 Prozent seiner traditionsreichen Theatergebäude waren zerstört oder schwer beschädigt und damit nicht bespielbar, war Berlin unerwartet wieder Deutschlands Theaterhauptstadt. Angesichts der im ganzen Lande herrschenden Zerstörungen, fehlender Verkehrswege und des sich erst langsam entfaltenden Presse- und Kommunikationswesens blieb es in dieser Rolle jedoch eher unerkannt und auf sich bezogen.
     Die noch lange anhaltende Unwegsamkeit der Stadt hatte eine Vielzahl kleiner Spielstätten entstehen lassen, die voneinander kaum Kenntnis nahmen, geschweige denn von außen in ihrer Gesamtheit überschaubar waren. Das Theater im Kiez - heute ein modisch gewordener Begriff - ist wohl niemals lebendiger gewesen als in den ersten Nachkriegsjahren. Die großzügige Vergabe von Lizenzen durch die Besatzungsmächte hat diese Entwicklung nachhaltig beeinflußt.
     Waren es zunächst die Sowjets, die mit dieser Politik ihre Kulturkonzeption zu verwirklichen trachteten, so folgten die seit Juli 1945 gleichfalls in der Stadt postierten Westalliierten erst einmal auch dem in der Antihitlerkoalition erarbeiteten gemeinsamen Konzept: Die Umerziehung der Deutschen mit den Mitteln der Kunst beinhaltet die Befreiung dieser Kunst von allen faschistischen, rassistischen, militaristischen und reaktionären Ideen und Tendenzen.1) Als nach dem gemeinsam errungenen Sieg jedoch die alten politischen und ideologischen Gegensätze wieder offen zutage traten, begann diese als Zweckbündnis entstandene Gemeinsamkeit schnell zu zerfallen. Die ersten Risse zeigten sich für die Kultur im Bereich des Theaters. Die Stadt hatte nur einen kurzen Augenblick nach dem Kriege das Bewußtsein ihrer Einheit und Freiheit erlebt.
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Die daran geknüpften Erwartungen erwiesen sich als trügerisch. Berlin war längst zu einer Vier-Sektoren- Stadt geworden. In diesen entschied das Hoheitsrecht der jeweiligen Besatzungsmacht.2)
     In den ersten Nachkriegsspielzeiten repräsentierten zwei Bühnen
unterschiedlichen ideologischen und politischen Lagern unter dem weitgefaßten Gedanken des Humanismus zusammenzuführen.
     Auf humanistische Traditionen konnten sich bürgerliche Demokraten, Christen, Pazifisten und Marxisten gleichermaßen
das Zeittheater, und sie zeigten es zugleich in höchster künstlerischer Vollendung: das Hebbel-Theater in der Stresemannstraße mit Karl-Heinz Martin als Intendanten und das Deutsche Theater in der Schumannstraße, zunächst unter Gustav von Wangenheim und ab 1946 unter Wolfgang Langhoff.
     Die Deutschen, insbesondere die deutsche Intelligenz, standen nach dem verlorenen Krieg vor dem Dilemma, ohne ein eigenes geistiges Konzept mit der Aufarbeitung ihrer jüngsten Geschichte konfrontiert zu sein. Der Rückgriff auf das künstlerische Erbe der deutschen und internationalen Klassik und Aufklärung bot die Möglichkeit, die Kräfte aus


Eingang zum Deutschen Theater

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berufen, gab es doch keinen Zwang, das jeweils dahinterstehende gesellschaftliche Konzept deutlich machen zu müssen; im Gegenteil - die Werke der Klassiker boten für das Nachkriegstheater eine einzigartige Chance der Aktualisierung. In seiner Selbsterkenntnis stiftenden Funktion wurde dem Theater im besiegten Nachkriegsdeutschland eine aktive gesellschaftliche Rolle zuteil,


Beim Aufbau des Deutschen Theaters: Wolfgang Langhoff und seine Frau
wie sie Schiller Ende des 18. Jahrhunderts im Interesse des im Aufbruch befindlichen Bürgertums gefordert hatte. Die Erschließung der unter den Nazis verbotenen Autoren sowie der Exildramatik gestaltete sich indessen weitaus schwieriger. Nicht minder deutlich zeigte sich die Polarisierung der Interessen, als es um den Anschluß an das internationale Theater ging.

Die politische Spaltung und ihre Folgen

Die von den deutschen Theaterleuten gewollte Erneuerung hatte zunächst auch im Interesse der Alliierten gelegen. Je deutlicher sich jedoch das politische Klima zu verschlechtern begann,

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desto entschlossener suchte jede Seite, ihre ideologischen Positionen auch oder vielmehr gerade auf dem Gebiet der Kultur durchzusetzen. Die Spielplanpolitik der Berliner Bühnen in den ersten Nachkriegsjahren ist ohne die Einflußnahme der Alliierten nicht zu denken. Die Verteilung der Werke amerikanischer, englischer, französischer und russisch- sowjetischer Autoren markierte den Verlauf der Fronten. Die Bühne wurde zum ideologischen Kampffeld.
     Den ersten spektakulären Anlaß zu offener Konfrontation gab am 3. Mai 1947 im Deutschen Theater die Premiere von Konstantin Simonows »Russischer Frage«, eines stalinistischen Agitationsstückes, das sich den Vorwurf des Antiamerikanismus machen lassen mußte. Der Kalte Krieg auf dem Theater war eröffnet. Die Spaltung der Stadt - auf dem Theater hatte sie sich längst angekündigt. Die Parteien bezogen Stellung. Die Theater waren politisiert, begleitet von einer Presse, die das Bühnengeschehen in erster Linie kulturpropagandistisch beurteilte.3) Berlin war zwischen die Fronten geraten.
     Ab Mitte 1947 nahmen die Gegensätze zwischen Ost und West immer deutlicher Kurs auf die direkte Konfrontation. Mit der Schließung der Verkehrswege von und nach Westberlin begann im Juni 1948 die Berliner Blockade4) und damit die erste großangelegte Geiselnahme politischen Stils der Nachkriegszeit.

Auch die Schauspielerin Inge Keller ist beim Enttrümmern dabei

Die Konsolidierung der beiden politischen Blöcke war nicht mehr aufzuhalten. Im Mai 1949 mußten die Sowjets jedoch aufgeben. Eisenbahnen und Autos rollten wieder. Die Gründung der beiden deutschen Teilstaaten und ihre feste Einbindung in das jeweilige Bündnissystem war der vorläufige Endpunkt. Berlin fand sich in seinem sowjetisch

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Hilfe beim Aufbau der Volksbühne
 
besetzten Teil wieder als Hauptstadt der DDR, in seinem von den drei Westmächten besetzten Teil als Land der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Einbindung in das jeweilige Währungssystem war die politisch bereits vollzogene Spaltung der Stadt nun auch wirtschaftlich vollendet. Nach der Konstituierung des politischen Raumes Berlin begannen die Alliierten, offiziell in den Hintergrund zu treten. Die Viermächtekontrolle blieb jedoch erhalten.
     Für die Theater war es der Beginn der kulturpolitischen Grabenkämpfe. Boykottaufrufe sollten die Berliner daran hindern, die
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Aufführungen im jeweils anderen Teil der Stadt zu besuchen. Die meisten Kritiker der westlich lizenzierten Zeitungen sagten den Besuch der Ostberliner Theater ab und brachten nur noch selten Besprechungen. Die östliche Presse verhielt sich nicht anders. Der Wettbewerb der Berliner Theater wurde Teil der politischen Realität des Kalten Krieges und der besonderen Bedingungen in der geteilten Stadt. Für die Künstler, die im jeweils anderen Teil ihren Wohnsitz hatten, verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen. Viele zogen daraus die Konsequenzen. Für die im Ostteil gelegenen Theater bedeutete das oft den Verlust ihrer besten Kräfte. Die entstandenen Lücken konnten nur langsam geschlossen werden. In etlichen Fällen blieb ein unwiederbringlicher Verlust, wie im Falle von Fritz Wisten, des ersten Intendanten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz, der 1963 sein Haus verlassen mußte. Bis auf die Ära Benno Besson hat dieses Theater dann nur in einzelnen Inszenierungen an die Leistungen der Anfangsjahre Anschluß finden können. Gleichzeitig zwang jedoch dieser politisch bedingte Aderlaß dazu, daß neue Kräfte gesucht und gefunden wurden. So waren die Ostberliner Bühnen, was die künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten ihrer Ensembles betraf, ein sehr lebendiges Theater. Erst nach dem Bau der Mauer führte die selbstgeschaffene Isolierung zu gewissen Stagnationen. Auch die als soziale Errungenschaft gepriesene Unkündbarkeit der Schauspieler ist in den nachfolgenden Jahrzehnten nicht ohne negative künstlerische Folgen geblieben.

Quellen und Anmerkungen:
1 Befehl der SMAD über die Wiedererrichtung und die Tätigkeit von Kunstinstitutionen vom 25. Mai 1945
2 Der Kritiker Friedrich Luft berichtet, daß die Inszenierung von Thornton Wilders »Unsere kleine Stadt« am Deutschen Theater auf Befehl des sowjetischen Kulturoffiziers abgesetzt werden mußte, weil die Friedhofsszene des letzten Aktes für das ohnehin mit einer tristen Wirklichkeit konfrontierte Publikum zu traurig sei. Im englischen Sektor setzte der zuständige Major Georg Kaisers »Oktobertag« ab, denn das Stück würde gegen die guten britischen Sitten verstoßen
3 Beispielhaft für die damalige Situation waren die Pressereaktionen auf Jürgen Fehlings Inszenierung von Sartres »Fliegen« am Hebbel-Theater. Im Streit um den existentialistischen Freiheitsbegriff Sartres traten die weltanschaulichen Gegensätze offen zutage
4 Am 18. Juni 1948 erfolgte die Unterbrechung des Personenverkehrs und am 23. Juni die des Güterverkehrs durch die sowjetischen Militärbehörden

Bildquelle:
Stadtmuseum Berlin, Fotos Eva Kemlein (3)

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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