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Eberhard Fromm
»Ich komme aus dem Staunen nicht heraus«

Rosa Luxemburg (1871-1919)

Ich war noch ein junger Bursche, als ich zum erstenmal etwas von Rosa Luxemburg las. Voller Neugier hatte ich mir ein schmales Bändchen gekauft, das 1950 im Dietz Verlag erschienen war. »Briefe aus dem Gefängnis« klang genau nach dem, was ich damals von dieser Frau wußte: Sie hatte die KPD mitbegründet und war im Januar 1919 ermordet worden. Doch dann kam die Überraschung. Die Briefe sprachen von Nachtigallen und Silberpappeln, von Stimmungen und Gefühlen, von Literatur und Musik. Ich lernte in den Briefen eine weichherzige, gefühlsbetonte Frau kennen, die so gar nicht zu den Vokabeln »Klassenkampf« und »Revolution« zu passen schien. Und dieser erste Eindruck ist mir nie aus dem Kopf gegangen, was immer ich später noch von und über Rosa Luxemburg gehört und gelesen habe. Nicht die politische Führerin, nicht ein »Adler der Revolution«, sondern jene einsame Frau im Gefängnis, die solche Briefe schreiben konnte - das war mein ganz persönliches Bild von ihr. Erst viel später las ich in dem großen vierbändigen Roman

»November 1918«, daß schon Alfred Döblin so empfunden haben muß, wenn er seine Rosa Luxemburg sagen läßt: »Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.«

Ein heißes Leben

Als Rosa Luxemburg am 16. Mai 1898 nach Berlin kam, war sie eine junge 27jährige Frau. In Zamosc in Polen am 5. März 1871 geboren, schloß sie sich früh der sozialistischen Bewegung ihres Landes an und gehörte zu den Mitbegründerinnen der polnischen sozialdemokratischen Partei. Wegen drohender politischer Verfolgung lebte sie einige Jahre in der Schweiz, wo sie Staatswissenschaften studierte und ihre Dissertation zum Thema »Die industrielle Entwicklung Polens« verteidigte. Um nach ihren Plänen in Berlin leben und ungehindert politisch arbeiten zu können, erwarb sie die preußische Staatsbürgerschaft: Im Frühjahr 1898 ging sie eine Scheinehe mit dem Schriftsetzer Gustav Lübeck ein; 1903 erfolgte die Scheidung.
     Rosa Luxemburg kam nach Berlin, um hier in der sozialdemokratischen Partei aktiv zu sein. Schon nach wenigen Tagen schrieb sie ihrem damaligen Lebensgefährten, dem polnischen Revolutionär Leo Jogiches (1867-1919), den sie 1890 in der Schweiz kennengelernt hatte, daß sie nicht in der Ecke sitzen könnte, während überall Versammlungen zur bevorstehenden Reichstagswahl stattfänden.

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Sie traue sich durchaus ein Wahlreferat zu »nicht schlechter als Bebel; ich würde gleich den höchsten Ton anschlagen, d. h. den eines alten Genossen, der mit der Arbeit absolut vertraut ist und sich auf der Tribüne wie in seinem Schlafzimmer fühlt«.1)
     Und tatsächlich wurde sie vom Parteivorstand im Wahlkampf eingesetzt; allerdings nicht in Berlin, sondern in Oberschlesien.
     Von dieser Zeit an begann das rastlose Leben der R. L. Wenn man die zwanzig Jahre betrachtet, die ihr bis zu ihrem gewaltsamen Ende zur Verfügung standen, dann muß man mit Hochachtung auf eine so umfangreichen Arbeitsleistung und ein derart intensives Leben blicken. Es ist nicht verwunderlich, daß das Leben und Wirken der Rosa Luxemburg immer wieder untersucht und beschrieben worden ist.2) Wie kaum an einem anderen Zeitgenossen lassen sich diese Jahrzehnte deutscher und europäischer Geschichte an der Persönlichkeit dieser Frau darstellen.
     Ein Hauptfeld ihrer Aktivitäten lag seit 1898 innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Von Anfang an hatte sie deutlich gemacht, daß ihr Platz bei den innerparteilichen Auseinandersetzungen dieser Zeit - insbesondere in den Debatten mit Eduard Bernstein und seinen Anhängern - auf dem linken Flügel war. Das brachte ihr natürlich nicht nur Freunde ein. »Trotz der merkwürdigen Aufnahme, der ich, wie andere Nichtdeutsche, nicht >de la maison< (einheimische) Genossen,
und zwar nicht bloß seitens der Opportunisten, begegnete, entzog ich mich doch bis jetzt keiner Gelegenheit, mir Prügel zu holen, und dachte nicht daran, mich, wenn auch nicht in den Schmollwinkel, so doch in den mir viel lieberen Winkel der ruhigen wissenschaftlichen Studien zu setzen!«, schrieb sie wenige Jahre nach ihrer Übersiedlung nach Berlin an August Bebel (1840-1913).3)
     Erstaunlich war schon, wie schnell sich die junge Frau Freunde und Gegner in der Partei, die nun auf Jahre ihre politische Heimat sein sollte, verschaffte. Zu ihrem Freundeskreis gehörten bald Franz Mehring (1846-1919) und seine Frau Eva, Clara Zetkin (1857-1933), Karl Kautsky (1854-1938) und seine Frau Luise. Später kamen Karl Liebknecht (1871-1919) und seine Frau Sophie hinzu. Auch ihr Verhältnis zum Parteivorsitzenden August Bebel war recht freundschaftlicher Natur. Allerdings änderten sich manche dieser Beziehungen durch die Veränderung der politischen Standorte. Das trifft vor allem für das Verhältnis zu Karl Kautsky zu. Blättert man im Briefwechsel von Rosa Luxemburg mit Kautsky, so endeckt man, wie aus der »hochgeehrten Redaktion« (1896) der »liebe Freund« (1900) und sogar der »liebste Karl« (1906) wird, um dann wieder bei dem sachlichen »an die Redaktion« (1915) zu enden.
     Innerhalb der Sozialdemokratie übernahm Rosa Luxemburg die verschiedensten Aufgaben.
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Sie war als Redakteurin bei verschiedenen Parteizeitungen tätig, trat auf den Parteitagen mit eigenständigen Beiträgen auf, gehörte viele Jahre als Lehrerin der Parteischule in Berlin an und vertrat die Partei auch auf internationalen Zusammenkünften. Stets ging sie dabei davon aus, daß im Zentrum aller Anstrengungen, aller praktischen Arbeit und auch aller taktischen Maßnahmen der Kampf für die Verwirklichung des Endziels stehen müsse, nämlich des revolutionären Sturzes der kapitalistischen Gesellschaft. »Da wir mit der Entwicklung der Gesellschaft fortschreiten müssen, so ist ein beständiger Umwandlungsprozeß auch in unserer Kampfesweise die Vorbedingung unseres Wachstums, dieser ist aber nicht anders als durch die unaufhörliche Kritik unseres theoretischen Besitzstandes zu erreichen«, schrieb sie 1899. »Alle Kritik, die unseren Klassenkampf zur Verwirklichung des Endziels kräftiger, klarer, zielsicherer macht, verdient den größten Dank. Eine Kritik aber, die dahin strebt, uns zurückzuentwickeln, uns überhaupt
Rosa Luxemburg mit Paul Levy 1914 in Berlin
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zum Verlassen des Klassenkampfes und zum Aufgeben des Endziels zu bringen, diese Kritik ist nicht mehr ein Faktor des Fortschritts und der Entwicklung, sondern des Verfalls und der Zersetzung.«4)
     So konsequent sich Rosa Luxemburg innerhalb der sozialdemokratischen Partei mit Auffassungen und Praktiken auseinandersetzte, die nach ihrer Meinung falsch waren oder der Partei schadeten, so energisch trat sie für die Partei nach außen ein. Ihr öffentliches Wirken beschränkte sich nicht nur auf ihre umfängliche publizistische Arbeit. Sie war eine glänzende Rednerin und trat auf den unterschiedlichsten Veranstaltungen in allen Teilen Deutschlands auf. Schon bald war sie in der Öffentlichkeit als Repräsentantin einer konsequent linken Position bekannt.
     Auf internationaler Ebene gehörte ihr besonderes Interesse natürlich der Entwicklung in ihrer polnischen Heimat und den revolutionären Ereignissen in Rußland. So hielt es sie nach dem Ausbruch der Revolution 1905 nicht mehr in Berlin. Unter falschem Namen reiste sie Ende des Jahres nach Warschau, wo sie jedoch schon nach wenigen Wochen verhaftet wurde. Erst im Sommer 1906 kam sie frei. Durch die Kontakte mit ihren polnischen Parteifreunden sowie mit Vertretern der russischen Sozialdemokraten, sowohl der Menschewiki als auch der Bolschewiki, gewann sie gründliche Einblicke in die Abläufe der revolutionären Ereignisse, in die Methoden des Kampfes und in die
unterschiedlichen Positionen der Beteiligten.
     Bereits frühzeitig hatte sich Rosa Luxemburg mit dem Militarismus beschäftigt. »In dem Militarismus kristallisiert sich die Macht und die Herrschaft ebenso des kapitalistischen Staates wie der bürgerlichen Klasse, und wie die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die ihn prinzipiell bekämpft, so gehört auch umgekehrt die prinzipielle Bekämpfung des Militarismus zum Wesen der Sozialdemokratie«,5) schrieb sie bereits 1899 in ihrer Schrift »Sozialreform oder Revolution?«. In dem Maße, wie sich in Europa die politischen Auseinandersetzungen verschärften und die Kriegsgefahr wuchs, nahmen Umfang und Intensität der Beschäftigung mit diesem Thema zu. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges mußte Rosa Luxemburg im Februar 1915 eine einjährige Gefängnisstrafe antreten, die sie noch vor dem Krieg wegen ihres Auftretens gegen Soldatenmißhandlungen erhalten hatte. Nur wenige Wochen nach ihrer Freilassung wurde sie im Juli 1916 erneut inhaftiert. Wie es in einem Schreiben des Oberkommandos der Marken vom 17. Juli 1916 hieß, sei über die »bekannte radikal-sozialistische Agitatorin ... im Interesse der öffentlichen Sicherheit bis auf weiteres die militärische Sicherheitshaft verhängt worden«.6) Bis auf weiteres hieß in diesem Falle bis zum Ende des Krieges; denn erst mit der Novemberrevolution 1918 kam sie wieder auf freien Fuß.
     Während der vielen Monate im Gefängnis in Berlin, Wronke und Breslau arbeitete Rosa Luxemburg
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an der theoretischen und politischen Position der linken Kräfte innerhalb der Sozialdemokratie, für die seit der Zustimmung zu den Kriegskrediten und der Haltung zum Krieg durch die Mehrheit der sozialdemokratischen Führer eine neue Situation entstanden war. So entstand 1916 unter dem Pseudonym Junius ihre Broschüre »Die Krise der Sozialdemokratie«. Seit sie am 10. November 1918 wieder in Berlin war, begann eine Zeit intensivster Anstrengungen, um die revolutionäre Entwicklung zu befördern und zugleich den eigenen organisatorischen Rahmen für die politische Tätigkeit zu schaffen. Gemeinsam mit Karl Liebknecht leitete sie die Zeitung »Die Rote Fahne« und veröffentlichte hier fast täglich ihren Standpunkt. Die Gründung des Spartakusbundes innerhalb der USPD noch im November reichte den Linken um Liebknecht und Luxemburg nicht aus; Ende des Jahres kam es zum Gründungsparteitag der KPD, auf dem Rosa Luxemburg zum Programm der Partei sprach. Nur wenige Tage darauf, am 15. Januar 1919, wurde sie zur gleichen Zeit wie Karl Liebknecht ermordet.

Kein »Götzendiener des Sozialismus oder des Marxismus«

In ihren theoretischen Arbeiten widerspiegeln sich die vielfältigen Interessen, die Rosa Luxemburg antrieben. Natürlich drehte sich alles um den Marxismus, seine konsequente

Anwendung, seine Verteidigung, aber auch seine Entwicklung und seine innere Selbstkritik. Auf der einen Seite ging sie davon aus, daß sich der Marxismus als lebendige Wissenschaft mit der sich verändernden Wirklichkeit auch selbst verändern müsse. Auf der anderen Seite polemisierte sie gegen eine - nach ihrer Ansicht prinzipienlose - Revision des Marxismus à la Bernstein. Diese Linie durchzieht alle ihre Arbeiten, vom kleinen Artikel über die kämpferische Broschüre bis zum wissenschaftlichen Buch.
     Als Nationalökonomin wandte sie sich vor allem den ökonomischen Veränderungen in der kapitalistischen Gesellschaft zu und suchte nach genaueren Bestimmungen des sich ausprägenden Imperialismus. Hier sind vor allem ihr Buch »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus« aus dem Jahr 1913 sowie die ergänzende Antikritik, eine Stellungnahme zu ihren Kritikern, die erst 1921 erschien, zu nennen. Damit gehörte Rosa Luxemburg zu den wenigen marxistischen Autoren, die in dieser Zeit - also noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges - den Versuch unternahmen, zu einer Wesensbestimmung des Imperialismus vorzudringen.
     In verschiedenen Arbeiten - von einem Kapitel für Franz Mehrings Marxbiographie über eigene Artikel zu Marx und ausführliche Rezensionen zur Herausgabe Marxscher Werke -
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nahm Rosa Luxemburg zur Theorie von Marx, seinem Erbe für die sozialdemokratische Bewegung und zur aktuellen Nutzung Stellung. Kleine Kostbarkeiten sind auch ihre Beiträge zu Schriftstellern wie Wladimir Korolenko (1853-1921), Adam Mickiewicz (1798-1855), Leo Tolstoi (1828-1910) oder Gleb Uspenski (1843-1902).
     In all ihren Arbeiten geht es der Theoretikerin Luxemburg stets um die Beziehung der behandelten Probleme zur Arbeiterbewegung und um ihre sozialistischen Zielstellungen. Ebendeshalb ließ sie sich nie auf eine »rein« theoretische Diskussion ein und attackierte jenen Gelehrtentyp innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie, der seine Aufgabe darin sieht, »die Geschichte zu erkären, indem er sie zerfasert, das soziale Leben zu beeinflussen, indem er sozialpolitische Einsicht tauben Ohren predigt, und die Wissenschaft in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen, indem er der herrschenden Reaktion dient«.7)
     Die Verknüpfung von gründlicher Analyse, theoretischer Bewertung und praktischen Konsequenzen befähigte Rosa Luxemburg zu scharfsichtigen Einschätzungen und Voraussichten. Keineswegs ohne Fehler und falsche Schlußfolgerungen in ihren Arbeiten, konnte sie jedoch gerade auf ihrem ureigensten Feld, der theoretischen Durchdringung der revolutionären Kämpfe ihrer Zeit, Positionen entwickeln, die sich in der Folgezeit gegen alle Verunglimpfungen und
Abwertungen als richtig erwiesen haben. Das gilt natürlich - und aus heutiger Sicht in besonders aktuellem Maße - vor allem für die Konsequenzen der revolutionären Entwicklung in Rußland, die Rosa Luxemburg seit 1905 immer wieder ausgewertet und beschrieben hat. Der grundsätzlichen hohen Einschätzung der russischen Revolution mit all ihren inneren und äußeren Konsequenzen stellt sie zugleich die Notwendigkeit einer kritischen Sichtung der bisherigen Wege der Revolution zur Seite. Für sie ist es selbstverständlich, daß die Strategie der russischen Bolschewiki nicht als »erhabenes Muster« angesehen werden darf, für das es dann nur kritiklose Bewunderung und eifriges Nachahmen gäbe. In ihrer bekannten und immer wieder zitierten Kritik an der Diktaturtheorie von Lenin formuliert sie als Randbemerkung: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der >Gerechtigkeit<, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die >Freiheit< zum Privilegium wird.«8)
     Heute, da die sozialistische Bewegung mehr als eine bloße Denkpause eingelegt hat, da man den Marxismus kaum noch als theoriewürdig ansehen möchte, erscheinen
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die Ansichten der Marxistin und Revolutionärin Luxemburg wenig zeitgemäß. Aber was man auch über und gegen diese Frau sagen mag, eines stimmt in keinem Falle: daß ihr Denken, ihr Leben und ihr Kampf antiquiert ist.

Denkanstöße

In Marxens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter der Aktion einherzugehen und für alles, was von den »obersten Behörden« der Sozialdemokratie jeweilig getan oder gelassen wird, einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei führend vorauszugehen, um die Partei zur ständigen Selbstkritik anzustacheln, um Mängel und Schwächen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.
Das Offiziösentum der Theorie. In: Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 318/319

Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen

Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.
Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. In: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin 1975, S. 391/392

Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel liegt ... Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen: Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen ... Nur ungehemmtes, schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil

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es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.
Zur russischen Revolution. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 359/360

Die russische Literatur war unter dem Zarismus wie in keinem Lande und zu keiner Zeit eine Macht im öffentlichen Leben geworden, und sie blieb ein Jahrhundert lang auf dem Posten, bis sie von der materiellen Macht der Volksmassen abgelöst, bis das Wort zum Fleisch ward. Die schöne Literatur war es, die dem halbasiatischen Despotenstaat einen Platz in der Weltkultur erobert, die vom Absolutismus aufgerichtete Chinesische Mauer durchbrochen und eine Brücke zum Westen geschlagen hatte, um hier nicht nur als Nehmende, sondern auch als Gebende, nicht bloß als Schülerin, sondern auch als Meisterin zu erscheinen. Man braucht nur die drei Namen Tolstoi, Gogol, Dostojewski zu nennen.
Einleitung zu Wladimir Korolenko: Die Geschichte meiner Zeitgenossen. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 303

Tolstoi ist gerade darin vielleicht ein einziger in der Weltliteratur, daß bei ihm zwischen dem eigenen inneren Leben und der Kunst völlige Identität besteht, die Literatur ist ihm nur ein Mittel, seine Gedankenarbeit und seinen inneren Kampf auszudrücken. Und weil diese unermüdliche Arbeit und dieser qualvolle Kampf den Menschen ganz erfüllten und bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufhörten, deshalb ist Tolstoi der gewaltige Künstler geworden und hat der Quell seiner Kunst bis an sein Lebensende in unerschöpflichem Reichtum und immer größerer Klarheit und Schönheit gesprudelt.
Tolstois Nachlaß. In: Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 186

Quellen:
1 Rosa Luxemburg an Leo Jogiches v. 22. 5. 1898. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 1. Berlin 1982, S. 124 f.
2 - John Peter Nettl, Rosa Luxemburg, 1967
- Annelies Laschitza/ Günter Radczun, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung. Berlin 1980
- Ossip K. Flechtheim, Rosa Luxemburg zur Einführung. Hamburg 1985
- Max Gallo, Rosa Luxemburg. Eine Biographie. Zürich 1993
3 Rosa Luxemburg an August Bebel v. 11. 10. 1902. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 1, Berlin 1982, S. 648
4 Rosa Luxemburg, Zum kommenden Parteitag. In: Gesammelte Werke, Band 1, Erster Halbband. Berlin 1972, S. 527
5 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: ebenda, S. 456
6 Vgl. Jürgen Lampe, Rosa Luxemburg. Berlin 1984, S. 41
7 Rosa Luxemburg, Im Rat der Gelehrten. In: Gesammelte Werke, Band 1, Zweiter Halbband, Berlin 1972, S. 382
8 Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 359 (FN)

Bildquelle: Joachim Thurn
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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 2/2000
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