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Herbert Schwenk
Für eine lebenswerte Zukunft Berlins

Ein Report analysiert den Berliner Agenda-Prozeß

Ist in Berlin alles in Ordnung? Oder müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen, beispielsweise zum Thema Erwerbslosigkeit? Wird uns die Zukunft unserer Stadt bereits vorgegeben, oder sollten wir versuchen, sie aus eigener Kraft gemeinsam zu gestalten?
     Mit diesen rhetorischen Fragen beginnt Peter Meyer (SPD) das Vorwort zu einem der bedeutendsten Dokumente der Berliner Stadtentwicklung seit der Wiedervereinigung, des 538 Seiten langen Reports »Zukunftsfähiges Berlin«, den eine Enquete- Kommission des Abgeordnetenhauses von Berlin (13. Wahlperiode) erarbeitet hat.1) Die Kommission hatte den Bericht nach fast 15monatiger Tätigkeit und 21 Kommissions- Sitzungen erstellt und am 1.Juli 1999 übergeben.
     Die Kommission setzte sich aus acht Mitgliedern der Fraktionen der CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Grüne sowie sieben externen Sachverständigen, darunter WissenschaftlerInnen der TU Berlin und der Universität Lüneburg, zusammen. Vorsitzender war Peter Meyer. Der Bericht gilt als erste

systematische Beschreibung einer Berliner Agenda 21 und ist damit ein zukunftsweisendes Dokument für die Gestaltung einer lebenswerten Stadt im kommenden Jahrhundert. Aber trotz seines hohen Informations- und Erkenntniswertes blieb das politische Gewicht des wissenschaftlichen Werkes bislang begrenzt. Zum einen, weil die Kommission selbst zukünftige Entwicklung nur auf »eine regulative Idee, die in einem gerichteten Such- und Lernprozeß zu konkretisieren ist«2), reduziert, und zum anderen, weil es bisher zu dem Dokument weder eine parlamentarische Debatte noch einen förmlichen Beschluß des Senats zu einer gesamtstädtischen Initiative gab. So wichtig es ist, auch eine politisch- institutionelle Nachhaltigkeits- Dimension zu kreieren, die die Verantwortung des Staates und die Kooperation aller Akteure in Politik, Verwaltung und Gesellschaft einfordert: Sie blieb bislang Appell und im Unverbindlichen verhaftet. Darüber hinaus wird der inhaltliche Zugang durch den Umfang des Werkes und vielfach auch durch verklausulierte Formulierungen erschwert. Die Eckpunkte des Berichtes »Zukunftsfähiges Berlin« orientieren sich an dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung mit seinen erklärten Zielen ökonomische Leistungsfähigkeit, ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit. Die Initiative zur Erstellung des Berichtes und seines Leitbildes war von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und
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Entwicklung (UNCED) ausgegangen, die im Juni 1992 in Rio de Janeiro stattgefunden hatte (BM 4/92). Damals hatten sich 178 Staaten, darunter Deutschland, mit der Agenda 21 auf der größten Regierungskonferenz in der Geschichte der Menschheit erstmals auf ein gemeinsames Leitbild und Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert verständigt. Jenes Weltentwicklungsprogramm, das 115 Themenbereiche umfaßt, zielt darauf, auf nationaler und kommunaler Ebene für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu sorgen. Dabei wird seit 1987 unter nachhaltiger Entwicklung verstanden, daß die Bedürfnisse der heutigen Generation erfüllt werden sollen, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und einen eigenen Lebensstil zu wählen.3) 1992 war an alle Unterzeichnerstaaten der Auftrag ergangen, bis 2002 eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Strategie zu verabschieden. Zugleich forderte die Agenda 21 in Kapitel 28 (»Initiativen der Kommunen zur Unterstützung der Agenda 21«) alle Städte und Gemeinden der Erde auf, sie mögen sich »gemeinsam mit ihren Bürgern einem Diskussionsprozeß unterziehen und eine Einigung hinsichtlich einer >Lokalen Agenda 21< für die Gemeinschaft erarbeiten«.
     Zwar gab es bereits unmittelbar nach der Rio-Konferenz auf Berliner Bezirksebene erste Agenda- Aktivitäten, auf Stadtebene jedoch verlief die Umsetzung schleppend.
Auftrieb erhielt der Prozeß durch die Europäische Konferenz über zukunftsbeständige Städte und Gemeinden vom Mai 1994 in Aalborg/ Dänemark. In der »Charta von Aalborg« verpflichteten sich 80 europäische Kommunen, darunter Berlin, in ihren Orten bis Ende 1996 »einen Konsens über eine Lokale Agenda 21 zu suchen«. Diese Initiative aufgreifend und fördernd setzte das Abgeordnetenhaus von Berlin auf gemeinsamen Antrag der Fraktionen von PDS und Bündnis 90/Die Grünen in seiner Sitzung am 19. Februar 1998 die Enquete- Kommission »Zukunftsfähiges Berlin« ein. Im Einsetzungsbeschluß wird die Kommission beauftragt, »parlamentarische Entscheidungen über Leitbilder, langfristige Planungen und Maßnahmen zur nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung Berlins sowie über die Schaffung dafür notwendiger Rahmenbedingungen vorzubereiten. Damit verleiht sie dem Prozeß der Erarbeitung einer >Lokalen Agenda 21 für Berlin< entscheidende Impulse.«4) Die Kommission erhielt den Auftrag, zwei Schwerpunkte zu erarbeiten: 1. Ziele und Kriterien für eine auf Dauer umweltgerechte, zukunftsfähige Entwicklung, 2. Rahmenbedingungen, die für eine zukunftsfähige Entwicklung Berlins unerläßlich sind, aus denen entsprechende Handlungsschritte abzuleiten sind.
     Die Kommission richtete Arbeitsgruppen ein, vergab Studien an externe Wissenschaftler und führte zahlreiche Anhörungen und Fachgespräche durch.
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Der im Sommer 1999 vorgelegte Report der Enquete- Kommission des Abgeordnetenhauses vermittelt ein Bild über bisherige Ergebnisse und Diskussionen, aber auch noch zu lösende Aufgaben auf dem Weg Berlins ins 21. Jahrhundert, um mit der Berliner »Lokalen Agenda 21« zur Erfüllung des Auftrages der Rio-Konferenz beizutragen. Im Vorwort räumt der Kommissionsvorsitzende ein, daß es bei allen Bemühungen, Beschlüsse grundsätzlich im Konsens herbeizuführen, Punkte gegeben habe, »an denen wir gescheitert sind«, beispielsweise beim Thema Probleme und Chancen der Migration. Die im Bericht enthaltenen sogenannten Minderheitsvoten lassen erkennen, wo es nicht gelang, Kompromisse zu schließen. So konnte keine Übereinstimmung darüber erzielt werden, nach welchen Leitbildern in Berlin eine nachhaltige Stadtentwicklung für die soziale Dimension gestaltet unddementsprechende Handlungsempfehlungen erarbeitet werden sollten.5)
     Der Bericht enthält alle wichtigen Angaben zur Arbeit der Kommission, eine Übersicht über die vorliegenden Verpflichtungen und Beschlüsse für Berlin, eine Darstellung der Leitbilder, Ziele und Indikationssysteme für die Meßbarkeit einer nachhaltigen Entwicklung Berlins (und in einem Exkurs auch Brandenburgs), eine Bestandsaufnahme und Analyse der Aktivitäten der Berliner Verwaltung zur Durchführung einer nachhaltigen Entwicklung sowie vergleichende Hinweise zur Lokalen Agenda 21 in einigen deutschen Städten.
Im Zentrum der Überlegungen der Kommission stehen die Analyse und Empfehlungen zu den Dimensionen der Nachhaltigkeit sowie die Handlungsfelder des »Zukunftsfähigen Berlins«. Sie gelten dem Bemühen, die sogenannten Nachhaltigkeitsdimensionen Stärkung ökonomischer Tragfähigkeit, sozialer Ausgleich und Umweltvorsorge miteinander zu vereinen. Denn nach ihrer Auffassung bedeutet nachhaltige Wirtschaftsweise vor allem »ein Optimum an Versorgung der Bevölkerung unter Erhaltung und Erneuerung des produktiven Potentials der natürlichen Umwelt.«6) Den Zielen nachhaltigen Wirtschaftens wird der aktuelle Zustand der Berliner Wirtschaft mit einer Erwerbslosenquote von 17,6 Prozent, einem Haushaltsdefizit von ca. 8 Mrd. DM und einem Wirtschaftswachstum von 0,5 bis 1,0 Prozent gegenübergestellt. Mittelfristig (ca. 7 Jahre) werde sich die ökonomische Situation »ohne eine aktive Politik nicht wesentlich bessern«7). Potentiale für nachhaltige Entwicklung bieten sich im wirtschaftlich verflochtenen Raum Berlin- Brandenburg durchaus an. Dazu ist jedoch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wirtschaften dringend erforderlich. Das gilt zum Beispiel für den Ausbau der ökologischen Wirtschaftsförderung. Einer der zukunftsfähigen Ansätze für nachhaltiges Wirtschaften könnte ein sogenanntes Stoffstrommanagement in Berlin sein.
     Es hat zum Ziel, »ökologische Prinzipien
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entlang der gesamten Stofflußkette (von der Rohstoffentnahme bis zur Abfallentsorgung und der Rückführung der Stoffe in den Naturhaushalt) in ökonomische Prozesse zu integrieren«.8) Dies würde nicht nur Widersprüche zwischen Ökonomie und Ökologie langfristig aufheben, sondern die regionale Wirtschaft, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, bereits kurz- und mittelfristig stärken. Bei der praktischen Umsetzung eines regionalen und lokalen Stoffstrom- und Ressourcenmanagements bauen die Kommissionsmitglieder und Experten auf bereits vorliegende Erfahrungen, zum Beispiel in Köpenick (Arbeitsloseninitiative »Innovations- und Ideenbörse für den Lokale Agenda 21-Prozeß«) sowie Marzahn und Hellersdorf (Konzept zur »kommunalen Verwertung biogener Abfälle/nachwachsender Rohstoffe zur Energiegewinnung in Marzahn und Hellersdorf«).
     Ausgehend von der kritischen Feststellung, daß in der Debatte um die nachhaltige Entwicklung »bisher die Dimension der sozialen Entwicklung vernachlässigt«9) wurde, erhalten Überlegungen zur sozialen Stadtentwicklung entsprechenden Raum. Die Enquete-Kommission macht sich keine Illusionen über die schwierige soziale Ausgangslage in Berlin, darunter das Problem wachsender sozialer Differenzierung in den Stadtteilen, etwas verbrämt als »seit den neunziger Jahren laufende sozialräumliche Ausdifferenzierung Berlins«
beschrieben. Sie skizziert Ansätze von Leitbildern und Leitlinien, Rahmenbedingungen und Handlungsfeldern und unterbreitet ihre Vorstellungen zum Thema Erwerbslosigkeit mit berlinspezifischen Konzepten zur Zukunft der Arbeit. Chancen für günstige Beschäftigungseffekte zeichnen sich in einigen Branchen ab, beispielsweise in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Hotelund Gaststättengewerbe, Medien, Bildungs-, Gesundheits- und soziale Dienste, Kunst und Kultur und im Handwerk. Aber Stärken und Schwächen liegen in Berlin dicht nebeneinander: »Die Zukunftsfähigkeit Berlins wird unter anderem auch davon abhängen, wie es mit seinen Stärken und Schwächen umgeht.«10)
     Erheblichen Raum erhalten die Anliegen nachhaltiger Mobilitätsentwicklung, die Anforderungen an eine dauerhaftnachhaltige Umwelt-, Verkehrs- und Wohnungspolitik mit ihren vielschichtigen Dimensionen und Zukunftsproblemen. So muß zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit der CO2-Ausstoß im Verkehrswesen bis Mitte des nächsten Jahrhunderts um 80 bis 90 Prozent gesenkt und der CO2-Ausstoß bzw. der Energieverbrauch Berlins von 1990 bis 2010 um 25 Prozent reduziert werden; von 1990 bis 1995 hatten die CO2-Emissionen im Verkehr nochmals um 15 Prozent zugenommen. Oder: Bis zum Jahr 2005 soll in einem ersten Schritt eine 90prozentige Reduktion der Benzol-, Dieselruß- und PAK-Emissionen zu 1988 erreicht werden (PAK = polyzyklische
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aromatische Kohlenwasserstoffe). Ähnliche Zielsetzungen gelten auch für den Flächenverbrauch. Im Zeitraum von 1950 bis 1990 wurde in Berlin eine jährliche Umwandlungsrate von Freifläche in Siedlungs- und Verkehrsfläche von durchschnittlich 475 ha errechnet. Eine Fortsetzung dieses Trends würde für Berlin im Jahr 2060 bedeuten, daß nur noch die Wasserflächen nicht in Siedlungs- und Verkehrsfläche umgewandelt wären. Eine Verringerung dieser Umwandlungsrate ist daher unerläßlich für die Zukunftsfähigkeit Berlins.
     Die Berliner Aktivitäten zur nachhaltigen Stadtentwicklung sind an internationale Prozesse und Zusammenhänge gebunden und darin eingebettet – auch Berlin lebt in der »Einen Welt«. Deshalb ist es bedeutsam, daß die Kommission Umweltverträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und sozialen Ausgleich als Dimensionen zukunftsfähiger Entwicklung um eine weitere Dimension ergänzt: die politisch- institutionelle. Ihr Nachhaltigkeits- Konzept zielt auf »tragfähige und dauerhafte politische Entscheidungen sowie auf eine effiziente und wirksame Administration ab«. Dazu sei Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren, Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger sowie eine führende, den gesellschaftlichen Prozeß aktivierende Rolle des Staates notwendig.11)
     Alle Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit Berlins münden im Begriff der »Lokalen Agenda 21«. Eine zusammenfassende
Darstellung des Berliner Agenda- Prozesses betont vor allem die Situation und den Handlungsbedarf im Bereich Zukunftsfähiges Bauen und Wohnen. Angesichts »des Entwicklungsrückstandes und der vergleichsweise geringen Anziehungskraft Berlins«12), aber auch des hohen Modernisierungs- und Sanierungspotentials, komme diesem Bereich eine Schlüsselfunktion zu. Empfehlungen zur Bearbeitung weiterer Handlungsfelder für eine Enquete- Kommission in der nächsten Wahlperiode bekräftigen das Grundanliegen: Der in Gang gekommene Prozeß bedarf im Interesse der Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Metropole dringend der Fortsetzung und noch großer Anstrengungen.

Quellen:
1     Vgl. Zukunftsfähiges Berlin. Bericht der Enquete- Kommission »Zukunftsfähiges Berlin« des Abgeordnetenhauses von Berlin, 13. Wahlperiode. Hrsg.: Abgeordnetenhaus von Berlin, Berlin 1999
2     Ebenda, S. 317
3     Vgl. ebenda, S. 17
4     Zit. nach ebenda, S. 18
5     Vgl. ebenda, S. 179 f.
6     Ebenda, S. 149
7     Ebenda, S. 153
8     Ebenda, S. 158
9     Ebenda, S. 173
10     Ebenda, S. 189
11     Vgl. ebenda, S. 317
12     Ebenda, S. 432

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© Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 1/2000
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