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83 Geschichte und Geschichten![]() | Silvester-Brauch ![]() ![]() |
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rend mit den Männern auf oben
geschilderte Weise verfahren wurde. Kein
vorüberfahrender Wagen wurde verschont, die
Kutscher mit Eis geworfen, die Scheiben zertrümmert und die Insassen
insultiert. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich an der Ecke des Dönhofsplatzes und war von den angeblich seitens der Polizei
getroffenen Sicherheitsmaßregeln nichts zu
entdecken; in der ganzen Länge der Leipziger
Straße war weder ein Schutzmann noch
sonstiger Sicherheitsbeamter zu sehen. Ich halte
es weit mehr im Interesse der öffentlichen Ruhe und Ordnung geboten, daß
derartige Vorfälle durch die Presse veröffentlicht und auf Abhilfe derselben hingewirkt werde, als daß sie v e r t u s c h t werden. Es
wäre nicht mehr wie billig, daß gegen
derartige Exzedenten ohne alle Schonung verfahren werde.«
Bei dieser skurrilen Erscheinungsart Berliner Brauchtums spielten offenbar etliche Faktoren eine nicht gerade rühmenswerte Rolle: Erstens dürfte die infolge des gewaltigen Bevölkerungswachstums ebenfalls zunehmende Zahl städtischen Janhagels, zweitens die aus der Industriellen Revolution erwachsende schroffe soziale Kluft mit ihrer Konsequenz, dem natürlichen Sozialneid, drittens der beim Jahreswechsel traditionelle reichliche Alkoholgenuß zu Buche geschlagen haben. Dabei ist nicht auszuschließen, daß die Grenze zwischen »humoriger« und verbrecherischer Aktivi- | |||
Kurt Wernicke In der Silvesternacht: Hut ab! Unter der Rubrik »Eingesandt«
veröffentlichte die »Berliner Volks- Zeitung« in ihrer Ausgabe vom 6. Januar 1870 einen Augenzeugenbericht über brutale Vorgänge in der Silvesternacht 1869. Der darin geschilderte, etwas merkwürdige Berliner
»Humor« erregte allerdings nicht zum erstenmal
die einheimischen Gemüter: Die silvesterliche »Hut ab!«-Bewegung war in der
preußischen Hauptstadt als gnadenloser
Silvesterscherz bereits bekannt.
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tät hier und da bewußt verwischt
wurde. Die »Vossische Zeitung« zitierte z. B. am 7. Januar 1870 eine Meldung aus der »Berliner Volks- Tribüne«, die sich ebenfalls
auf ein Vorkommnis in der Silvesternacht bezog und da möchte man schon annehmen, daß der »Humor« nur den Einstieg in
weitergehende Zielsetzungen darstellen sollte. »Einem Arzt«, heißt es da, »der in
seinem Wagen mit seiner Gattin nach Hause fuhr, wurde plötzlich von einem Pöbelhaufen Halt geboten; man riß die Wagentüren
auf, prügelte das Ehepaar, den Kutscher, die Pferde und suchte den Wagen zu zertrümmern. Der Entschlossenheit des
Kutschers, der den Wagen zum plötzlichen
Fortfahren brachte, ist es zu danken, daß das
Ehepaar ohne lebensgefährliche Verletzungen
davonkam.«
Ein vierter Grund für das lange Fortbestehen des mit Bestimmtheit nicht unumstrittenen Brauchs des silvesterlichen Hutabschlagens in Berlin könnte die gewohnte Überforderung der Ordnungsmacht in Spitzenzeiten flächendeckender Verstöße gegen die geheiligte Verordnungs- Ordnung gewesen sein. Aber gegen dieses Argument werden doch Bedenken geweckt, wenn man einen zwei Jahrzehnte später verfaßten Bericht über die »humorige« Unsitte liest. In ihrer Weihnachts- Sondernummer 1891 (mit Datum 28. 11. 1891) gab die Pariser illustrierte Wochenschrift »L'Illustration« u. a. einen Überblick über Silvesterbräuche |
in anderen Ländern. Dabei berichtete
der Berliner Korrespondent der Zeitschrift: »In Deutschland, will sagen in Berlin,
wird der Sylvesterabend in einer einzigartigen
Weise um es nicht drastischer auszudrücken gefeiert. Der unglückliche
Provinzler oder der Ausländer, der mit den Berliner Sitten unbekannt ist und das Pech hat, an jenem Abend auszugehen oder sich einfach nur auf der Straße zu befinden, und mit einem hohen Hut bedeckt ist, hört es plötzlich hinter sich schreien >Hut ab!
Hut ab!< Er dreht sich erstaunt um und sieht sich sogleich von einer Bande Schreihälse bedrängt. Stöcke und Fäuste sind gegen ihn erhoben, er will protestieren, aber man läßt ihm keine Zeit. Ruten und
Fäuste prasseln auf seinen Rücken nieder, auch auf seinen Kopf: das Ziel der Menge ist es, seinen Hut in einen Faltenbalg zu
verwandeln. Man beachte die Feinheit des Verfahrens! Geräuschvolles Füßestampfen und Lachen begleiten den Unglücklichen, wenn er, bestürzt und geblendet, seinen Hut
bis auf den Kragen, ja bis auf die Schultern heruntergedrückt, die Arme nach vorn reckt und verzweifelt nach Hilfe schreit.
Nicht weit von ihm steht ein Schutzpolizist (übrigens ist die gesamte Polizei in dieser Nacht auf den Beinen): Sie glauben vielleicht, er fliegt herbei zur Hilfeleistung für das Opfer? Überhaupt nicht er bleibt der Szene gegenüber passiv und bescheidet den Unglücklichen voller Geringschätzigkeit: | ||
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»Hut ab!«
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>Nu, weshalb gehen Sie denn aus?< Ein
bißchen dick aufgetragen für einen
Scherz, nicht wahr?
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zwischen der deutschen und der
französischen Presse leider gang und gäbe), dann hatte sich der »Hut ab!«-Brauch
schon so in das Berliner Lokalkolorit integriert, daß ihn selbst die Polizei
augenzwinkernd respektierte. Die Bezugnahme auf
1848 scheint nicht ganz aus dem Nirgendwo hergeholt, denn tatsächlich läßt sich am Vorabend der Märzrevolution in Berlin ein etwas merkwürdiger Verein nachweisen, der aus B ü r g e r stolz die von ihm als kleinbürgerlich apostrophierte »lästige
Sitte« des Hutabnehmens in geschlossenen, nichtsdestoweniger aber öffentlichen Orten abschaffen wollte.
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polizeiliche Konzession und führte nun
regelmäßige wöchentliche
Versammlungen mit musikalischen, deklamatorischen
und rhetorischen Veranstaltungen durch eigentlich war es offensichtlich ein gesellschaftliches Organ, in dem sich Berliner Bürger Kaufleute, Unternehmer, Beamte unter einem harmlosen Vorwand ein
Gremium zum Gedankenaustausch geschaffen hatten. Das Hut-Problem schien vielen Vereinsmitgliedern schon nach einem
Jahr Vereinsexistenz nicht mehr die zentrale Lebensfrage zu sein: Es fand ein Namenswechsel zu »Verein der Freimütigen«
statt. Wie es aber im deutschen Vereinsleben zu sein pflegt, blieb ein Teil der Mitglieder dem ursprünglichen Ideal treu und konstituierte sich 1847 neu als »Verein der
Hutfreunde«, der seine wöchentlichen Versammlungen immer mittwochs ab 8
Uhr abends in den Räumen des Gesellschaftstheaters »Urania«, Kommandantenstraße
73, abhielt.
Der absichtlich zur Schau gestellte Bürgerstolz provozierte möglicherweise besonders ruppige Vertreter der Berliner Unterschichten zu demonstrativen Gegenaktionen, und der Polizeipräsident sah möglicherweise in solcherart »Bestrafung« für Bürgerstolz (angesichts des immer etwas angespannten Verhältnisses zwischen Berliner Bürgerschaft und dem Polizeipräsidenten als direktem Machtorgan des Hofes in der Residenzstadt) kein besonders strafwürdiges |
Vergehen besonders nicht in der
Silvesternacht, in der auch das eigentlich strikt
verbotene Abfeuern von Schüssen und Feuerwerkskörpern nicht geahndet wurde und so allen möglichen »Späßen« Tür und Tor geöffnet waren. Nachdem sich die polizeiliche Nachsicht bei »Hut ab!«-Vorgängen erst einmal herumgesprochen hatte, konnten diese sich offensichtlich bald mit
dem Rang einer Berliner Lokalsitte schmücken.
Weshalb starb der »Hut ab!«-Brauch dann wohl unbemerkt aus? Ein entscheidender Faktor wird die verbesserte soziale Lage der Unterschichten gewesen sein, denn schon zur Jahrhundertwende setzte sich auch in der Berliner Arbeiterschaft der »gute Anzug« durch, zu dem ein Hut gehörte! Damit fiel der Hut als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht weg, und eventueller immanenter Sozialneid mußte wenigstens auf dem Sektor der »Hut ab!«-Bewegung verpuffen ... Der Pariser Schilderung dieser Berliner Merkwürdigkeit verdanken wir auch eine bildliche Darstellung solcherart lokalspezifischer Silvestersitten in der Hohenzollern- Metropole. Berliner Bildquellen schweigen sich über dieses jahrzehntelang geübte Berliner Brauchtum aus ... Bildquelle:
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de