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enthalt und eine baldige Rückkehr.
Neben Berlin wurde Paris das zweite Zentrum der russischen Emigration, wohin seit 1924
und besonders ab 1933 viele aus Berlin weiterreisten.
»Charlottengrad«, so nannte man in den zwanziger Jahren Charlottenburg. Es gab russische Tages- und
Wochenzeitungen, Zeitschriften, Theater- und
Musikgruppen und viele Restaurants. Die
verschiedenen politischen Gruppen bekämpften sich
lautstark und übertrafen sich in ihren Prognosen über das baldige Ende der Regierung
in Moskau.
Sie träumten von baldiger Rückkehr und großzügiger Entschädigung Neben den Vertretern der politischen Emigration von den Monarchisten über die Kadetten bis zu den Linksliberalen, von den Menschewiki, den Narodniki bis zu ehemaligen Bolschewiki waren Tausende nach Berlin gekommen, denen die
Enteignungen nach der Revolution die Lebens- und Unterhaltsmöglichkeiten genommen hatten. Auch sie träumten von
baldiger Rückkehr und großzügiger
Entschädigung. Inmitten dieser Gruppen, teilweise mit ihnen verbunden, teilweise mit ihnen zerstritten, lebten Hunderte Künstler
Dichter, Schriftsteller, Maler, Architekten und
Journalisten.
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Annette Vogt
Die Pasternaks in »Charlottengrad« Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges kamen viele Menschen aus Rußland nach
Berlin. Die »Russen«, die zwischen 1919 und 1933 in der Stadt lebten, gehörten ganz
verschiedenen politischen, sozialen,
religiösen, ethnischen und kulturellen Gruppen
an. Und es waren auch nicht alles Russen, wie man sie in Westeuropa bezeichnete; sie
kamen aus der Ukraine, dem Baltikum und aus anderen Teilen des riesigen
ehemaligen Zarenreiches. Dort hatte es im Februar
1917 die erste und im November die zweite Revolution gegeben, nach der ein
grausamer Bürgerkrieg tobte. Wer als Gegner
der Bolschewiki fliehen mußte oder wer es finanziell ermöglichen konnte, versuchte, dem Bürgerkrieg, dem Hunger und der Kälte, den Krankheiten und Wirren zu entkommen.
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künstlerischen Intelligenz in Berlin ist
ausführlich in der Literatur behandelt und beschrieben
worden.1) Man denke an Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg und Vladimir
Nabokov, an die Gastspiele und Auftritte von
Vladimir Majakovskij und dem Theater Meyerhold, an Vernissagen bekannter Maler. Zu den russischen Intellektuellen gesellten sich die kürzer oder länger in Berlin
weilenden offiziellen Reisenden aus
Sowjet-Rußland bzw. der UdSSR, sofern sie sich nicht
an strikte Verbote der Kontaktaufnahme, besonders zu Emigranten-Kreisen, zu
halten hatten. In Berlin geographisch zwischen Moskau und Paris gelegen lebte in
den zwanziger Jahren die größte Gruppe der heterogen zusammengesetzten russischen Kolonie. Anhänger der
russisch-orthodoxen Kirche konnten in der Stadt nach
ihrem Glauben leben, auf dem russischen Friedhof sollten viele, die in Berlin Zuflucht
gefunden hatten, ihre letzte Ruhestätte
finden. So die Väter von Vladimir Nabokov und von Sergej Eisenstein.
Besucher und in Berlin lebende Russen trafen sich beispielsweise regelmäßig in der Wohnung des Forscher-Ehepaares Elena und Nikolaj Timoféeff-Ressovsky in Berlin.2) Man kam zusammen, tauschte Neuigkeiten aus, übermittelte Grüße und Nachrichten über Verwandte, beklatschte die russische Kolonie, schwelgte in Erinnerungen an das alte Rußland und sang die alten Lieder. Im August 1921 kam die Familie Pasternak | in die Stadt: der Maler Leonid Osipovic
Pasternak (18621945) und seine Frau, die Pianistin Rosalia Isidorovna Kofman
(18671939, auch Rosa Kaufmann), die zwei
Töchter Josephine Leonidovna (19001993) und Lydia Leonidovna
(19021989).3) Die beiden Söhne Boris Leonidovic (18901960)
und Aleksandr Leonidovic (18931982) blieben in Sowjet-Rußland. Im Winter 1922/23 kam Sohn Boris zu Besuch nach Berlin,
Sohn Aleksandr besuchte die Familie 1924/25.
Leonid Pasternak porträtierte Einstein und Harnack Die Pasternaks, auch sie wohnten in Charlottenburg, nahmen am Leben der
russischen Kolonie lebhaften Anteil. Sie dachten
allerdings nicht an Emigration und behielten die russische bzw. sowjetische
Staatsbürgerschaft.
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Das letzte Familienfoto in Moskau vor der Abreise nach Berlin, Leonid, die Großmutter, Rosa, Lydia, hinter ihnen Alexander und Boris (von links nach rechts) | ||||||||
Universität. Lydia Pasternak
promovierte 1926 an der Philosophischen Fakultät mit einer chemischen Arbeit.4) Ihre Dissertation »Beitrag zur Kenntnis der halogenierten Tyrosinderivate« war im Pharmazeutischen Institut der Universität angefertigt und von Direktor Hermann Thoms (18591931) sowie Alfred Stock (18761946) begutachtet worden. Thoms bescheinigte ihr, »dass sie mit experimentellem Geschick eine Anzahl Verbindungen gewinnen konnte, die unsre Kenntnisse von dem Verhalten des Tyrosins erweitern«. In der mündlichen Prüfung wurde sie im Hauptfach Chemie von Thoms, im Nebenfach Physik von Walther Nernst (18641941) | sowie in den Nebenfächern Botanik und
Philosophie geprüft und erhielt die Note
»cum laude«.
Von 1919 bis 1921 hatte Lydia Pasternak an der zweiten Moskauer Universität an der medizinischen Fakultät studiert, 1921 war sie zur naturwissenschaftlichen Fakultät an die erste, die Lomonossow-Universität, gewechselt, wo sie Anatomie, Physik, Chemie und Botanik belegt und bereits praktische Examina abgelegt hatte. Dennoch wurden die Moskauer Studienjahre nicht voll anerkannt, und sie mußte noch nach Fertigstellung ihrer Dissertation ein Semester studieren, um die geforderte Mindestzahl von sechs Semestern nachweisen zu | |||||||
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können. 1925 bestand sie die für
Ausländer(innen) notwendige
Ergänzungsprüfung am Institut für Ausländer der
Universität, ohne die sie nicht hätte promovieren
dürfen. Sie besaß sehr gute
Deutsch-Kenntnisse, denn in ihrer Familie sorgten eine
französische, eine englische und eine
deutsche Gouvernante für Sprachkenntnisse der Kinder. (Auf einer Zeichnung von Leonid Pasternak aus dem Jahre 1908 sind die deutsche Gouvernante und die beiden Töchter porträtiert.)
Josephine Pasternak studierte in Berlin Philosophie, heiratete aber schon 1924 ihren Cousin Fedja Pasternak (18801976) und folgte ihm nach München, wo er für die Crédit Lyonnais arbeitete. In München wurde 1926 Josephines erstes Kind geboren. Tätigkeit im Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie in München Am 21. Dezember 1926 wurde Lydia Pasternak die Promotionsurkunde überreicht.
Danach suchte sie lange eine Beschäftigung.
| Jahren noch nicht schlecht, aber sie
gehörte als Frau und Ausländerin zu den
Benachteiligten. Trotz des familiären
Hintergrunds, der sie nicht zuletzt großer materieller Sorgen enthob, war die Suche nach einer interessanten, sie befriedigenden Arbeit
nicht leicht.
Sie fand sie schließlich im Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Psychiatrie in München, wo sie am 1. August 1928 eine Tätigkeit in der chemischen Abteilung aufnahm, die von Irvine H. Page (geboren 1901) geleitet wurde. Der amerikanische Chemiker und Mediziner war 1928 als wissenschaftlicher Gast an das KWI für Psychiatrie gekommen und baute eine Abteilung auf, die sich mit Fragen zum Stoffwechsel im Gehirn und der Entstehung der Arteriosklerose beschäftigte.6) Die Finanzierung der Forschungen erfolgte mit Mitteln der Rockefeller Foundation.7) Lydia Pasternak veröffentlichte mit Page zwischen 1931 und 1934/1935 regelmäßig Artikel in der angesehenen »Biochemischen Zeitschrift«. Ihre Arbeiten befaßten sich mit den Einwirkungen spezieller Chemikalien auf den Stoffwechsel im Gehirn. Dank Lydia Pasternaks Ausbildung in Moskau, wo sie zunächst Biologie, einschließlich Anatomie, studiert hatte, und ihrer Ausbildung in der Chemie besaß sie genau die Kenntnisse, die Page für sein Forschungsprogramm an der Schnittstelle von Medizin und Chemie benötigte. Es bestanden somit gute Chancen für sie, sich | |||||
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Auf der Datsche in Otschakowa, vorne links Lydia, hinter ihr Leonid, rechts Boris Pasternak | ||||||||
ihm ging sie nach Großbritannien, das
sich als rettendes Exilland erweisen sollte.
Lydia Pasternak und Eliot Slater hatten sich oft im Kasino des Instituts für Psychiatrie getroffen, wo bis 1934 einige Bilder ihres Vaters ausgestellt waren. Der Psychiater Baeyer beschrieb in seinen Erinnerungen, wie österreichische Nazi-Kollegen im Kasino »die dort ausgestellten Bilder des Vaters von Lydia Pasternak entfernten und die >Aufhängung des Führerbildes< erzwangen«.10) Lydia Pasternak war offenbar musisch begabt und verfaßte zur Faschingsfeier | ||||||||
in der Wissenschaft eine geachtete
Position zu erwerben.
Die Schließung der Abteilung im Jahre 1935 hing mit den Entwicklungen in Nazi-Deutschland zusammen. Auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war davon betroffen.8) Irvine H. Page ging zurück in die USA. Lydia Pasternak hatte Glück im Unglück. Sie hatte im Institut den englischen Mediziner und Psychologen Eliot Trevor Oakeshott Slater (19041983) kennengelernt, der von 1934 bis 1935 dank eines Rockefeller-Stipendiums in Berlin und München war.9) Mit | ||||||||
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1934 ein Gedicht. Während von ihr und
über sie sonst keine Archivalia mehr
existieren, ist dieses Gedicht erhalten geblieben,
und Matthias M. Weber hat es in seiner 1993 erschienenen Rüdin-Biographie
auszugsweise publiziert (Seite 238239). Es heißt darin unter anderem:
Die Rasse ist rund, wie ein Gummiballon
Es ist offensichtlich, daß Lydia Pasternak danach nicht mehr am Institut bleiben konnte. Eliot Slater und Lydia Pasternak heirateten im Dezember 1935 in Oxford. Sie bekamen zwei Töchter und zwei Söhne. Schon | allein dadurch wurde es für sie
unmöglich, weiter in ihrem Beruf zu arbeiten.
Außerdem waren die Berufschancen für
emigrierte Wissenschaftlerinnen noch geringer als für ihre männlichen Kollegen. Für Lydia Pasternaks Familie bedeutete ihre Heirat nach Oxford eine Rettung, denn nach
dem Januar 1933 war für die Pasternaks in
Berlin kein Bleiben mehr. Sie waren jüdisch, auch wenn sie selbst sich als assimilierte Russen fühlten. Sie zogen 1936/37 zu
Lydia Pasternak-Slater nach Oxford, erst nach dem Pogrom am 9. November 1938 folgte Schwester Josephine mit ihrer Familie.
Als Lydias Bruder Boris Pasternak 1958 den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam, erhielt sie eine neue Aufgabe. Sie übersetzte in den folgenden Jahren seine Poeme ins Englische. Aber diese Arbeiten brachten ihr nicht nur Anerkennung, Freude und Befriedigung. Während sie in den zwanziger und dreißiger Jahren in Deutschland und nach 1945 auch in Großbritannien die Tochter des großen russischen Impressionisten Leonid Pasternak war, wurde sie ab 1958 die Schwester des Nobelpreisträgers. Ihr ehemaliger Chef Irvine H. Page meinte es sicher gut, wenn er in seinem Artikel über die Entstehung der Neurochemistry 1962 extra anführte, daß die Schwester von Boris Pasternak in seinem Laboratorium in München gearbeitet hatte. Nach einem langen Leben starb Lydia Pasternak 1989 in Oxford. | |||||
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Quellen und Anmerkungen
1 Vgl. Ilja Ehrenburg, Visum der Zeit. Leipzig, Reclam 1982, Berliner Begegnungen. Ausländische Künstler in Berlin. 1918 bis 1933, Dietz-Verlag, Berlin 1987 2 Vgl. Annette Vogt, Berlinische Monatsschrift Heft 8/1998, S. 17 3 Folgende Biographien wurden benutzt: Leonid Pasternak, A Russian Impressionist. 18621945. By David Buckman, Maltzahn Gallery Ltd., London 1974 Christopher Barnes, Boris Pasternak. A Literary Biography. Vol. 1, 18901928. Cambridge Univ. Press, Cambridge, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1989. Der zweite Band soll im Herbst 1998 erscheinen. Lazar Fleishman. Boris Pasternak. The Poet and His Politics. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, London 1990 Evgenij Pasternak, Boris Pasternak. Materialy dlja biografii. (Russ.) Moskau 1989 Paul J. Mark, Die Familie Pasternak. Erinnerungen, Berichte, Aufsätze, Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 1997 4 Archiv Humboldt-Universität, Phil. Fak. Nr. 650, Bl. 231258, Gutachten von Thoms 5. 6. 1926, Bl. 232, Protokoll der Prüfung am 29. 7. 1926, Bl. 233, Lebenslauf von Lydia Pasternak Bl. 236237 5 Pasternak-Archive, Oxford, Briefe von Lydia Pasternak an einen Freund (1926 bis 1928), an ihre Eltern (1934 und Frühjahr 1935); Briefwechsel Lydia Pasternaks mit Margarete Bülow und Eugen Müller (1952 bis 1964) sowie mit Irvine Page (1959 bis 1965) | 6 Vgl. Tätigkeitsberichte der KWG bzw. des
KWI für Psychiatrie, in: »Die Naturwissenschaften« 17 (1929) bis 24 (1936), zu Irvine H. Page
vgl. Poggendorff, Biographisch-Literarisches Handwörterbuch der exakten
Naturwissenschaften, Bd.VI, S. 1937 und Bd. VII b, S. 38063822
7 Matthias M. Weber, Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Springer-Verlag, Berlin 1993 8 Einen ersten Überblick über die Vertreibungen gab Kristie Macrakis in ihrem Artikel »Exodus der Wissenschaftler aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft«, in: Wolfram Fischer u. a. (Hrsg.) Exodus von Wissenschaften aus Berlin, Berlin 1994 9 Who was who, Vol. VIII: 19811990, London 1991 10 Matthias M. Weber, a. a. O., S. 247 11 Bezog sich auf das Projekt von Adele Juda (18881953) über Hochbegabte, in dem sie ab 1933 auf Veranlassung Rüdins jüdische Begabte weglassen sollte. Vgl. 7, S. 244 12 Theobald Lang war seit 1933 Mitarbeiter 13 Rüdin kam 1929 aus Basel zurück ans Institut; ab 1934 holte er Forscher aus Wien, die Mitglieder der NSDAP waren, und verlangten, daß die Bilder von Leonid Pasternak aus dem Kasino entfernt wurden. Vgl. 7, S. 247 Bildquelle:
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