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Hans-Heinrich Müller
»Ein ganzes Hemd ohne Naht . . .« Wissenschaft und Praxis im 18. Jahrhundert Wenn Friedrich II., im Gegensatz zu seinem Vater voller literarischer und wissenschaftlicher Ambitionen, bei der Neubegründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin im Jahre 1744 auch die Pflege der praktischen Wissenschaften, die Förderung der Produktion durch die Wissenschaft forderte, so erfolgte dies aber in Preußen vor allem auf Anregung und Befehl des Generaldirektoriums, der obersten Verwaltungs- und Wirtschaftsbehörde des Staates. Bei der Neubegründung der Akademie hatte der Monarch auch das Commerz- und Manufakturkollegium reorganisiert. Durch die Zusammenarbeit beider Institutionen erhoffte sich der König, die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Entwicklung der Technik und Wirtschaft nutzbar machen zu können. Die bedeutendste kulturelle und wissenschaftliche Instanz des preußischen Staates besaß so gut wie keinen offiziellen Auftrag, die öffentlichen Angelegenheiten im positiven Sinne verändern zu helfen. | Initiativen der Akademie auf diesem
Felde, im Produktionsbereich vor allem, waren höchst ungern gesehen und blieben
dem Generaldirektorium vorbehalten, das auch die Akademie mit vielfältigen Aufgaben
betraute. Vor allem die Mitglieder der experimental-philosophischen Klasse, die
Praktiker unter den Akademikern, haben zahlreiche praktische und produktionstechnische Aufgaben bewältigt. Von 2 000 Sitzungen,
die die Berliner Akademie in der Zeit von 1746 bis 1806 abgehalten hat, waren allein
350 praktisch-ökonomischen Problemen
gewidmet.1) Viele »erlauchte Geister« sind in
die niederen Regionen des alltäglichen Lebens hinabgestiegen und haben sich Fragen
der unmittelbaren Produktion angenommen. Besonders viel Zeit haben die Mitglieder
der experimental-philosophischen Klasse auf die Gutachtertätigkeit verwandt. Nicht nur
die Regierung, auch Privatpersonen, ökonomische Gesellschaften und andere
institutionelle Einrichtungen traten vor ihr Forum und baten um Auskünfte,
Stellungnahmen oder Bestätigungen. Die Akademie
nahm faktisch die Aufgabe einer technischen
Prüfungsanstalt und eines Patentamtes wahr. Wenn die Akademie auch oft viel Arbeit
auf lächerliche »Erfindungen«
verschwenden mußte, so gab es aber auch zahlreiche
ernstzunehmende Projekte und Anregungen.
So wurde der bedeutende Mathematiker Leonhard Euler (17071783) zu mannigfaltigen königlichen Aufträgen herangezogen. | |||
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Er wurde mit der Regulierung von
Kanälen und Deichen beauftragt, mußte 1749
eine Pumpe für die Wasserkünste in
Sanssouci berechnen, prüfte 1749 eine Sämaschine
mit einer doppelten Pflugschaar, deren Funktionstüchtigkeit auf Geheiß des Königs
auf den Äckern der Charité und des
Invalidenhauses erprobt werden mußte,
übernahm 1755 die Berechnung der Gradierung
der Schönebecker Salzsohle. Er entwickelte
auf Wunsch des Generaldirektoriums eine Methode des Wasserhebens und befaßte
sich mit Rammen. Einen wichtigen Platz nahm die Begutachtung von
wissenschaftlichen Geräten, Maschinen und Instrumenten
ein. Von 1746 bis 1766 hat Euler mehr als 25 Gutachten dazu verfaßt. 1751 äußerte er
sich über eine hydraulische Maschine des
Göttinger Professors Johann Andreas von Segner
(17041777), dessen Erfindung in die Geschichte einging, da sie das erste Mal
die Idee der Turbine entwickelte. Euler berichtete 1754 über einen Vorschlag zur
Verbesserung von Mühlen womit nur ein
Bruchteil seiner Gutachtertätigkeit genannt
ist.2)
Große Aufmerksamkeit schenkte das Generaldirektorium den technischen Erfindungen in England und Frankreich. Die Akademie wurde laufend über Reise-, Sammel- und Spionagetätigkeit unterrichtet, und ein umfänglicher Aktenband über die »eingekommenen Vorschläge zu verschiedenen Maschinen . . . und die Gutachten, die darüber erfordert« wurden, zeugen von einer | ausgedehnten Nachrichtenbelieferung.
Die Akademie sollte entscheiden, inwieweit die genannten Maschinen für die
preußische Wirtschaft brauchbar waren. Selbst
Modelle wurden beschafft und der Akademie zur Prüfung zugestellt. Das
Generaldirektorium war z. B. von einer Erfindung einer
neuen Spinnmaschine sehr angetan, die ein Mechaniker namens Brifont konstruiert
hatte und von der Pariser Akademie mit 5000 Livres ausgezeichnet wurde. Er habe
eine Maschine »inventiert, bei welcher 150
Personen zugleich spinnen können, so daß
nur bloß die Finger in Bewegung sind und den Faden eine größere Feine und Gleichheit
geben. Bei angestellter Probe hat man gefunden, daß eine Person 141 Faden in eben
der Zeit gesponnen, da ein anderer auf einem Doppelrade nur 64 Faden hat liefern
können.«3) Die Akademie wurde ersucht, ein englisches Fuhrwerk zu begutachten, »welches ohne Pferde oder sonsten gezogen zu werden, die größte Last fortbringen kann«, wie sie auch die Erfindung eines irischen Gerbers in Augenschein nahm, »nach welcher das Leder in ganz wenig Zeit viel schöner, dauerhafter und um die Hälfte wohlfeiler denn bisher bereitet werden kann«.4) Untersucht hat die Akademie das von einem Halberstädter Domkämmerer eingereichte Modell einer Feuerspritze.5) Beifall durch die Akademiemitglieder fand ein aus Soest stammender Leinentuchmacher und Bild- | |||
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weber, der »ein ganzes Hemd ohne Naht,
mit Kragen und Bändern ohne Zutun einer Nähnadel auf einem ordinairen
Webstuhl verfertigen« kann, für dessen breite
Anwendung in Preußen aber alle
produktionstechnischen Voraussetzungen fehlen
würden.6)
In der Glashütte zu Neustadt an der Dosse überwachte die Akademie die Glasfabrikation, insbesondere die »Versuche über die Verschiedenheit der Gläser«, die für den optischen Instrumentenbau und für die elektrische Leitfähigkeit benötigt wurden. Akademiemitglied und Bergrat Karl Abraham Gerhard (17381821) referierte 1783 über die neue Methode der Glasherstellung für Flaschen und Spiegel. Mittels diverser chemischer Zusätze gelang ihm in mühseligen Experimenten die Herstellung von Kristall und von künstlichem farbigen Glas. Gleichzeitig beschäftigte sich die Akademie mit der Glasbereitung aus Natron, die um so wichtiger wurde, je mehr sich die bisher verwendete Pottasche infolge der Waldabnahme verteuerte. Zugleich wurde das Projekt des Charlottenburger Schmelzfabrikanten Johann Peter Regy geprüft, der eine feuerfeste Masse fabriziert hatte, die in Glashütten und Hochöfen die bisher aus dem sächsischen Pirna bezogenen Steine ersetzen sollte. Andreas Sigismund Marggraf (17091782) und Joseph-Louis Comte de Lagrange (17361813) meldeten aber Vorbehalte an, da sie im Vergleich zu den Pirnaischen Steinen von geringerer Qualität seien. Ferner untersuchten | die akademischen Praktiker
eingereichte Proben feuerfesten bzw. schwer
brennbaren Materials, das für den Bau von
öffentlichen Gebäuden, Schauspielhäusern oder
Schiffen gedacht war.7)
Zu den Aufgaben der Akademie gehörte die Prüfung einer eingesandten »Konstruktion einer Kartoffelmühle«, die zur Herstellung von Kartoffelmehl dienen sollte.8) Der Chemiker Marggraf war von Friedrich II. beauftragt worden, zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, aus Sand Steine herzustellen, und zusammen mit Franz Carl Achard (17531821) unterzog er sich der Aufgabe, »Versuche zur Verbesserung des Kalks und Mörtels« anzustellen; es wurden Mischungen aus Ton und Sand gebrannt, Mörtel für »ordinäres Mauerwerk, zum Schutze von Mauern in feuchten Gewölben, zum Verputzen von Wasserleitungen und Zisternen, für künstliche Steine, ungebrannte Mauersteine und Statuen« erzeugt und in 132 Versuchen auf seine Tauglichkeit ausprobiert.9) Die Akademie hatte verschiedene eingereichte Schriften über Elektrizität, Telegraphen und Blitzableiter zu begutachten. Zu diesem Zweck führte sie eine ganze Reihe eigener Experimente durch und erörterte dabei theoretische Fragen der Elektrophysik. Franz Ulrich Theodor Aepinius (17241804), Achard, Daniel Bernoulli (17001782), Lagrange, Gerhard und Euler trugen mit ihren Arbeiten zur Entwicklung dieses neuen Hauptzweiges der Physik nicht | |||
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unwesentlich bei. Eine Folge dieser
Arbeiten war die Einführung von Blitzableitern
an Getreidemagazinen, Pulverfabriken, an Privathäusern und auf den Türmen des
Französischen und Deutschen Domes 1784 durch
Achard.10)
Die zunehmende Holzverknappung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sorgte für Schmelzversuche mit Steinkohlen und für Überlegungen zur Einsparung von Brenn- und Bauholz. 1765 veröffentlichte die Akademie eine Preisaufgabe über verbesserte, weniger Brennholz verbrauchende Stubenöfen, und die eingegangenen Preisschriften hatten die Mitglieder der experimental-philosophischen Klasse, später physikalische Klasse genannt, zu begutachten und die nach ihrer Meinung beste Lösung zum Preis vorzuschlagen. Bernoulli verfaßte eine Schrift über die Einsparung von Holz in Küchen, die im Dezember 1766 in der Akademie verlesen wurde.11) Von den Akademiemitgliedern wurden Stellungnahmen zu Betriebs- und Fabrikgründungen verlangt und abgegeben. So begrüßte Achard 1794 die Anlage eines Betriebes für Brillen in Neuruppin, vorausgesetzt, sie bedeute keine Konkurrenz für Berliner Brillenproduzenten.12) Nicht nur auf gewerblichem Gebiet hatte die Akademie ihre Ansichten und Urteile in Gutachten, Berichten und Schriften zu begründen und darzustellen, sondern sie befaßte sich auch mit landwirtschaftlichen | Fragen, die von aktueller und
ökonomischer Wichtigkeit waren. Das
Generaldirektorium bat die Akademie, Vorschläge zu prüfen
oder zu unterbreiten, wie Getreidevorräte in
Magazinen vor Verlusten geschützt werden können, welche Vor- oder Nachteile
Ventilatoren oder »Luftfrischer« bieten und
Dürreöfen aus Frankreich und der Schweiz zu
testen.13) Es wurden Stellungnahmen
für »Präservativmittel wider die
Hornseuche« erbeten, die Impfung von Kälbern
befohlen und ihre Auswirkungen zu untersuchen. Die Mitglieder der physikalischen Klasse
berieten gegen Ende des 18. Jahrhunderts allgemeine Fragen der landwirtschaftlichen
Entwicklung, befaßten sich mit
Kartoffelanbau und Züchtung neuer Sorten, der
Verbesserung von Baumpflanzungen, der Wiesen- und Kleekultur, der Verschiedenheit
der Bodenarten, »Pflug- und
Zugmaschinen«, Beinverletzungen des Rindviehes,
»Aufklärung im Feldbau«, Koppelwirtschaft, dem
Abbau von Domänenämtern, Neuerscheinungen landwirtschaftlicher Literatur
und anderen Dingen.14) Die Absicht der Akademie bzw. des Generaldirektoriums, den allgemeinen Wohlstand fördernde Kenntnisse zu verbreiten, zeigte sich z.B. in der vorgeschlagenen Preisfrage »Über die Gewinnung von Öl in der Landwirtschaft« (1800). Sie war von der Hoffnung getragen, Rohstoffe im eigenen Lande zu erschließen und zu nutzen, die einheimische Industrie gemäß herrschenden merkantilistischen Wirt- | |||
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schaftsprinzipien von kostspieligen
Einfuhren aus dem Ausland unabhängig zu machen.
In zwei eingegangenen Preisschriften wurden als Rohstoffe für die Ölgewinnung Mohn-,
Lein- und Rapssamen, auch Bucheckern,
Haselnüsse und Sonnenblumen genannt und die
technische Zubereitung des Öls beschrieben.
Akademiemitglied und Minister Johann Christoph Wöllner
(17321800), einer der Gutachter, hielt beide Beantwortungen für preiswürdig
und schlug vor, aus ihnen eine zusammenfassende Arbeit für den Landmann anzufertigen.
»Diese kleine Schrift wäre von ausgebreiteten
Nutzen und würde unter der Autorität der
Akademie nicht nur viel Sensation machen, sondern
auch vielleicht des Königs Majestät zum
gnädigsten auffallen, da das Objekt eine Sache von
Wichtigkeit ist«.15)
Die Akademie handelte ganz im Sinne des Leibnizschen Mottos »Theoria cum praxi«. Die »Praktiker«, die Mitglieder der physikalischen Klasse, haben einen gewiß nicht geringen Teil ihrer Arbeitskraft und Forschung für ökonomische und technische Entwicklungen und Projekte verausgabt, haben zur wissenschaftlichen Klärung oder zur Lösung brennender wirtschaftlicher und technischer Fragen und damit auch zur Entwicklung der Natur- und Technikwissenschaft beigetragen. Die vielfach spärliche Quellenüberlieferung gibt allerdings nur wenig Auskünfte darüber, wie, in welcher Form und ob überhaupt ihre Gutachten und Vorschläge in der unmittelbaren Praxis verwirklicht wurden. Die Akademie besaß im ab | solutistischen Preußen keine unmittelbare
Einflußnahme auf die Wirtschaft und
Produktion. Friedrich II. achtete sehr darauf, daß sie
von den »Staatsgeschäften« ferngehalten
wurde. Nach seinem Tode war sie bis zur
Reorganisation im Jahre 1812 ebenfalls vielfältigen
bürokratischen Hindernissen und
Verwaltungshürden ausgesetzt.
Quellen
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de