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Karl Lärmer
Schinkels wertvolles Reisetagebuch In Großbritannien hatte die Industrielle Revolution in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts durch die Erfindung und
rasche Verbreitung von Spinnmaschinen eingesetzt. Innerhalb weniger Jahrzehnte stieg
das Land zur mächtigsten Industrienation auf, wurden weitere Teile der Produktion
mechanisiert, gelang durch die Dampfkraftnutzung u. a. eine nachhaltige
Steigerung der bergbaulichen Produktion und die Revolutionierung des Verkehrswesens.
Neue chemothermische Verfahren bewirkten tiefgreifende Verbesserungen in der
Metallurgie. Der Maschinenbau begann
aufzublühen. Britische Industrieerzeugnisse eroberten
die Märkte des europäischen Festlandes.
Großbritannien suchte diese
technisch-ökonomische Vormachtstellung u. a. durch
Exportverbote für die jeweils neuesten
Maschinen und Auswanderungsverbote für
bestimmte Fachkräfte zu zementieren. Ausländern wurden Fabrikbesichtigungen untersagt.
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Dachkonstruktion in der Börse, 1826 | ||||||||
gen außer Landes zu bringen, Fachkräfte auszuschleusen. Die Atmosphäre, in der sich dieser »Technologietransfer« vollzog, beschrieb der Technikhistoriker Matschoss so: »Die Welt befand sich im Kampf mit England und im Krieg gelten Mittel, die sonst die bürgerliche Moral verurteilt. Eine Spionage, als ob es gelte eine feindliche Festung zu erobern, wurde ausgebildet ...«1) Die Fortschritte, die seit dem Beginn der Industriellen Revolution in Großbritannien gegeben und weiterentwickelt worden waren, wirkten auch auf preußische Staatsbeamte und Unternehmer wie ein Magnet. Seit dem Beginn der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts reisten sie auf eigene bzw. Staatskosten in wachsender Zahl nach England. Obwohl keiner dieser Reisenden mit leeren Händen zurückkam, fand Preußen über Jahrzehnte keinen Anschluß an die britische Entwicklung. Zwei von vielen Fakten mögen dies belegen. | ||||||||
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Gaswerk in Edinburgh, 1826 | |||||||
1820 lag der Wert der englischen Fabrik und Manufakturproduktion pro Kopf der Bevölkerung bei 10,96 Pfund Sterling. In Deutschland, und das gilt in der Tendenz auch für Preußen, dagegen nur bei 2,22 Pfund Sterling.2) Das preußische Finanzministerium schätzte 1825 die Ausstattung der Baumwollverarbeitung so ein: »Die Baumwollspinnerei u. -weberei ... steht gegen die englische um 20 Jahre zurück. Die neuesten englischen Maschinen sind ... völlig unbekannt.«3) Was für die Baumwollverarbeitung zutraf, galt nicht minder für die anderen Produktionszweige. Die | Chancen, diesen Rückstand aufzuholen, waren am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts allerdings günstiger
als noch zehn Jahre zuvor, denn die merkantilistische Wirtschaftspolitik war
liberaleren Prinzipien gewichen, die feudalen
Bindungen der Agrarproduzenten begannen zu schwinden, der Zunftzwang hatte der
Gewerbefreiheit Platz gemacht, die innerstaatlichen Zollgrenzen waren gefallen.
Mit Christian Beuth (17811853) trat 1818 ein Liberaler an die Spitze der Gewerbeverwaltung Preußens; ein Mann, der seine | ||||||
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Zielsetzung in die Worte faßte: »Erzieht Männer von tiefem Wissen und Können ...«4) Dafür notwendige Voraussetzungen schuf er u. a., als er 1819 auch die Leitung der Technischen Deputation, der höchsten gewerblich-technischen Beratungsinstitution des Landes, an sich zog. Beuth förderte das Erscheinen von Literatur, in der über die modernsten Technologien berichtet wurde. Dazu zählten die von der Technischen Deputation herausgegebenen »Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker«, deren erste Ausgabe 1821 erschien. Im gleichen Jahr gründete Beuth den »Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen«, dessen Vorsitz er übernahm. In das Jahr 1821 fiel auch die von ihm initiierte Schaffung einer technischen Fachschule in Berlin, deren Rektorat von vornherein in seinen Händen lag. Er koordinierte wohlüberlegt sogenannte »Technologische Reisen« nach Westeuropa und hielt sich selbst 1823 und 1826 mehrere Monate in Großbritannien auf, um die Möglichkeiten zu | |||||||
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Skizzen von London Docks und Westindia Docks, 1826 | |||||||
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sondieren, die dieses Land für die
Industrialisierung Preußens konkret bot.
Mit dem Namen Karl Friedrich Schinkel (17811841) verbindet sich in der Regel die Vorstellung eines international renommierten Architekten, der allein in Berlin fast fünfzig Bauwerke schuf. So das Denkmal auf dem Kreuzberg, die Neue Wache, die Schloßbrücke, das Schauspielhaus, das Alte Museum, die Werdersche Kirche und vieles mehr. Weniger bekannt ist, daß der Geheime Oberbaurat und Professor der Baukunst, das Mitglied der Technischen Deputation und des Senats der Bauakademie seine Fähigkeiten auch in den Dienst der Industrialisierung Preußens stellte. So begleitete er 1826 Beuth auf einer mehrmonatigen Reise nach Frankreich und Großbritannien. Beuth verband mit seiner zweiten Englandreise die Absicht, sich mit den dort seit 1823 erzielten industriellen Fortschritten bekannt zu machen. Schinkels Begleitung erschien ihm nützlich, weil dieser das Gesehene zeichnerisch festzuhalten vermochte. Die Reise begann Mitte April 1826. Sie führte zunächst nach Paris. Auf dem Wege dahin besichtigten Beuth und Schinkel neben Steingutfabriken u. a. ein Eisen und Kupferwalzwerk und eine Dampfmühle. In Paris galt ihr Interesse z. B. einem eisernen Dampfschiff. Zu den Anziehungspunkten für Schinkel gehörte die Börse, die eine Dampfheizung und ein »eisernes Dach« besaß. Schließlich suchten sie eine bei Paris | gelegene, von Briten betriebene
Maschinenbauanstalt auf, die Dampfmaschinen produzierte, mit Dampfhämmern
ausgestattet war und das für ihre Produktion
notwendige Schmiedeeisen mit Hilfe des Puddelverfahrens gewann.
Dem Aufenthalt in Paris, angefüllt auch mit vielen Gesprächen, schloß sich eine Rundreise durch die Industriezentren Großbritanniens an. Schinkels Aufmerksamkeit galt in besonderer Weise Kanal- und Brückenbauten, eisernen Dachkonstruktionen, Fabrikgebäuden, Dockanlagen, Markthallen etc. Er gewann dabei neue Einsichten über die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten von Backsteinen in Verbindung mit den Baustoffen Eisen und Glas. Der große Vorzug der in England schon verbreiteten Glas-Eisen-Architektur bestand in ihrer leichten Herstellbarkeit, ihrer Billigkeit und in der Widerstandsfähigkeit der Baustoffe. Diese Architektur erlaubte es u. a., große Räume mit stark belastbaren Decken auszustatten. Der letztgenannte Vorzug war nicht nur für die konstruktive Gestaltung von sakralen Bauten und Kulturbauten von Gewichtigkeit, sondern er war ebenso nützlich beim Bau weiträumiger Fabrikhallen. Die große Zahl der Skizzen von Produktionsstätten in Schinkels Tagebuch läßt erkennen, daß er sich dieses Aspekts bewußt war. Schinkels Skizzen unterstreichen aber auch, daß er mit der gleichen Gewissenhaftigkeit Maschinen und deren Funktionsweise zeichnerisch | |||||
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festhielt und die technische Ausstattung von Fabriksälen etc. erfaßte. Selbst
Belüftungsanlagen, die Gestaltung der
Lichtverhältnisse und die hygienischen
Einrichtungen bis hin zum Wasserklosett entgingen seinen Augen nicht.
Beuth dagegen konzentrierte sich vor allem auf technische Neuerungen in Hüttenwerken und Fabriken, er suchte das Fachgespräch mit Unternehmern und Technikern und war bemüht, Geschäftsverbindungen aufzubauen bzw. Maschinen zu bestellen. Ausgehend von den Erfahrungen, die Beuth im Verlauf seiner Englandreise 1823 gewonnen hatte, bereisten er und Schinkel fast | ren sie schon bald nach ihrer Ankunft
in London in die Grafschaft Leicester, um Rasseschafe aufzukaufen und der im
Entstehen begriffenen preußischen Wollverarbeitungsindustrie eine qualitativ
hochwertige Rohstoffbasis zu schaffen. Die Besichtigung von Dampfmühlen und Gerbereien, ihre Bemühungen, sich mit der
Arbeitsweise von mit Dampfkraft betriebenen
Sägewerken vertraut zu machen, die Technik des Steinsägens und Steinschleifens zu erkunden, hielten sie für ebenso wichtig.
Auch moderne Glasfabriken, Steingut- und Porzellanfabriken, Gaswerke, wie das in Edinburgh, standen auf ihrem Programm. | ||||||||
50 zwischen Calais und dem Norden Schottlands gelegene Industriestandorte. Sie konzentrierten sich dabei auf Produktionszweige, an deren Schaffung bzw. Weiterentwicklung in Preußen ein dringlicher volkswirtschaftlicher Bedarf vorlag. Dazu zählten auch die Landwirtschaft bzw. die landwirtschaftlichen Nebenindustrien. So fuh- |
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Baumwollspinnereien in Manchester, 1826 | |||||||||
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Ihr Hauptinteresse galt jedoch
zweifelsfrei der Hüttenindustrie, der Textilindustrie
und dem Maschinenbau. Über den Besuch des Hüttenwerkes bei Dudley notierte
Schinkel voller Bewunderung: »Grandioser
Anblick von Tausenden von Obelisken (hier
übertreibt Schinkel die Zahl der Schornsteine natürlich K. L.), welche rauchen.
Größtenteils Förderungsmaschinen, um
Steinkohlen, Eisen und Kalk aus den Gruben zu
bringen.«5) Ähnliche Begeisterung riefen
Anlage und technische Ausstattung der Wednesbury Eisenwerke hervor.
Nicht minder groß wie in der Metallurgie war der Informationsgewinn in der Textilbranche. Die Briten hatten bis zur Mitte der 20er Jahre immer neue und bessere Maschinen zur Verarbeitung von Baumwolle, Wolle, Flachs und Seide entwickelt. Angenehm überrascht registrierte Beuth, daß die Fabrikanten deutlich im Gegensatz zu seinem Besuch 1823 bereitwillig ihre Fabrikationsräume zur Besichtigung freigaben. So z. B. ein Seidenverarbeitungsbetrieb in Leeds, der mit »neuesten Maschinen zur Bearbeitung der verschiedenen Arten von Seidengarn« ausgerüstet war.6) Analoge Erfahrungen machten die Reisenden in Derby, wo ihnen die Besichtigung einer Fabrik, die Spitzen produzierte, komplikationslos ermöglicht wurde.7) Über die Ausstattung einer Flachsspinnerei in Derby notierte Schinkel: »... vorzügliche Maschinen und Verarbeitung, schöne Mädchen unter den | Arbeiterinnen. Gewölbtes Gebäude,
Wasserreservoir, große Dampfmaschine, 75
Pferdestärken, Eisenweg, wo 28 Wagen mit
Steinkohle von einer Maschine fortbewegt werden.«8) Natürlich suchten Beuth
und Schinkel mit Nutzen die Tuchfabrik bei Stroud ebenso auf wie die Hochburgen
der britischen Baumwoll- und Wollverarbeitung in Manchester und Liverpool. Sie
nahmen mit den Augen, aber auch in Schinkels Skizzenbuch alles auf, was für Preußen neu war. Selbst in Sheffield hergestellte
Nähnadeln bereicherten ihr Gepäck.
Beuth und Schinkel sahen den Sinn ihrer Reise nicht nur darin, Maschinen und technologische Anlagen in Funktion beobachten zu können, sondern vor allem darin, Kenntnisse zu erwerben, wie und mit welchen Mitteln die Fabriktechnik produziert wurde, wie man der britischen Maschinentechnik habhaft werden konnte. Deshalb suchten sie den Kontakt zu Maschinenbauern des Landes. Schon in London gelang es ihnen, mit einem der kreativsten Maschinenbauer seiner Zeit, mit Henry Maudslay (17711831), der dort einen Betrieb unterhielt, ins Gespräch zu kommen. Maudslay, der sich u. a. um die technischen Voraussetzungen für die Massenfertigung von austauschbaren Maschinenteilen verdient gemacht hatte, gestattete nicht nur die Besichtigung seiner Werkstatt, sondern er war gern bereit, eine Drechselbank in Auftrag zu nehmen. Ähnlich kooperativ verhielt sich u. a. ein Maschi- | |||||
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nenbauer in Belper, er verfügte über Drehbänke, Hobel- und Bohrmaschinen neuester Bauart und produzierte u. a. Wasch und Wringmaschinen für die Textilindustrie. In Leeds spürten die Reisenden einen Mechaniker auf, der bereit war, eine Maschine zur Petinetfabrikation zu einem so niedrigen Preis zu verkaufen, daß Beuth durch diesen Kauf seine Reisekosten gedeckt sah. Durch den Nachbau dieser Maschine wurde Preußen in die Lage versetzt, Spitzen maschinell zu erzeugen.9) Darüber hinaus gelang es im Verlauf der Reise, zum Nachbau geeignete sogenannte Mustermaschinen aufzukaufen. Es handelte sich dabei u. a. um eine schwere Drehbank, eine Eisenhobelmaschine, um verschiedenartige Spinnmaschinen, um Appreturmaschinen, eine Bürstenmaschine und eine Tuchschermaschine. Obwohl für einen Teil dieser Maschinen Ausfuhrverbote bestanden, gelang es mit Hilfe von Mittelsmännern, die Maschinen aus dem Lande zu schmuggeln.10) Dem Schmuggelgeschäft kam entgegen, daß die Ausfuhrverbote zwar immer noch dem wirtschaftlichen Gesamtinteresse Großbritanniens entsprachen, aber nicht uneingeschränkt den Profitinteressen des einzelnen Unternehmers, der verkaufen wollte und mußte. Dies erst recht, weil die britische Wirtschaft 1825/26 von der ersten zyklischen Überproduktionskrise geschüttelt wurde. Als Beuth und Schinkel Ende August 1826 wieder in Berlin eintrafen, brachten sie nicht nur sehr konkrete Vorstel- | lungen von der industriellen
Zukunft Preußens mit, sondern ein mit 119
Skizzen gefülltes Reisetagebuch. Nicht wenige
dieser Skizzen wurden in der Schriftenreihe
»Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker« der Fachwelt zugänglich gemacht.
Quellen:
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© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de