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Berlin kehrte er erst 57jährig, kurz vor seinem Coup, zurück.
     Immerhin ist dem Mann, 90 Jahre nach seiner Tat, am historischen Ort ein Denkmal gesetzt worden. Auch wurde die »Köpenickiade« gerade erst das dritte Mal verfilmt. Zudem raubt der »Hauptmann«, verkörpert durch einen Schauspieler, jedes Jahr beim »Köpenicker Sommer« immer wieder die Kasse. Ja, selbst Werbestrategen haben ihn entdeckt und eine bewegliche Voigt-Skulptur in einem neueingeweihten Konsumtempel am Bahnhof Köpenick aufgestellt. Das Thema hat also Hochkonjunktur, da darf man doch fragen, ob wir uns die richtigen Vorstellungen vom »Hauptmann« und seinem Umfeld machen. Zuckmayer nannte sein Stück »ein deutsches Märchen«, auch wies er ausdrücklich darauf hin, daß »die tatsächlichen Begebenheiten ... nur den Anlaß zu diesem Stück (bilden). Stoff und Gestalten sind völlig frei behandelt.«2) So hat er, um ein offensichtliches Beispiel zu nennen, den von Voigt verhafteten Bürgermeister Dr. Obermüller genannt, obwohl das wirkliche Köpenicker Stadtoberhaupt von 1906 Dr. Georg Langerhans hieß. Aus Gründen der künstlerischen Freiheit, des Persönlichkeitsschutzes und der Reputation von Betroffenen und deren Angehörigen war dies 1930 gewiß legitim.
     Mich interessierte nun, fast 70 Jahre später, wer Wilhelm Voigts Verwandte tatsächlich
Norbert Stein
Spurensuche

Wer waren die Vorfahren und Verwandten des »Hauptmanns von Köpenick«?

Der »Hauptmann von Köpenick«, Wilhelm Voigt, wurde durch seinen Kassenraub, über den alle Welt lachte, aber mehr noch durch das Zuckmayersche Theaterstück und die darauf aufbauenden Filmversionen zu einem wirklichen Berliner Original. Dabei lag der Hauptschauplatz des Spektakels vom 16. Oktober 1906 seinerzeit noch gar nicht in Berlin. Und viel bedeutsamer: Der Akteur hat keineswegs berlinert, wie es uns diverse Darsteller – nach des Dichters Vorgabe – suggerieren. Voigt stammte aus dem ostpreußischen Tilsit, wo er am 13. Februar 1849 geboren wurde. Bis zum 16. Lebensjahr blieb er in seiner Heimatstadt. Zwar verbrachte er die Zeit zwischen dem 18. und dem 30. Lebensjahr im Zuchthaus Moabit bzw. in der Haftanstalt Sonnenburg, doch auch dort hat die märkische Mundart nicht abgefärbt, wie seine auf Platte gebannte Stimme bis heute beweist.1) Anschließend ging er auf mehrjährige Wanderschaft durch verschiedene Länder und saß dann wieder lange Zeit ein, doch nun in der Provinz Posen. Seine ostpreußische Mundart hat Voigt bis ins Alter bewahrt. Nach

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waren, wer sich z. B. hinter Schwester und Schwager »Marie« bzw. »Friedrich Hoprecht« verbarg.

Voigts eigene Aussagen

Zunächst sah ich mir Wilhelm Voigts Autobiographie3) unter diesem Aspekt an. Familienangehörige werden zahlreich erwähnt, aber nur einen einzigen nennt er namentlich – einen »Onkel Patzig«, den relativ früh verstorbenen ersten Ehemann einer Schwester seiner Mutter, der großen Einfluß auf den Knaben gehabt haben soll. Im jüngsten Fernsehfilm zu dem Thema mutierte Patzig zum Geburtsnamen der Mutter des späteren »Hauptmanns«. Das wäre jedoch nur bei einer eventuellen Ehe zwischen Cousine und Cousin gleichen Namens möglich gewesen. Auch dies galt es aufzuklären.
     Vater und Mutter kommen in Voigts Buch natürlich vor, auch eine ältere und eine jüngere Schwester – doch nie ein Name. Von der jüngeren Schwester war zumindest das Geburtsjahr errechenbar. Denn als der Bruder 1867 von Tilsit fortzog, sei sie elf Jahre alt gewesen, müßte also 1856 zur Welt gekommen sein. Der falsche Hauptmann schreibt auch von »Familiemitgliedern in Rußland«, die er vor dem Weggang aus der Heimat noch besucht haben will. Die ältere Schwester hätte ebendahin, also nach Rußland, geheiratet, ging aber später nach Berlin. Bei dieser hielt er sich 1906 vor der »Köpenic

kiade« und 1908 nach der Entlassung aus der Haftanstalt Tegel jeweils für kurze Zeit auf (ein weiterer Unterschied zum jüngsten Film: in ihm wird Voigt als »großer Bruder« dargestellt).
     Auch die schon erwähnte Schwester der Mutter sei Anfang der 60er Jahre mit ihrem zweiten Ehemann nach Berlin gezogen. Der Gatte soll früher Schneider gewesen sein, hätte aber in Berlin ein Photographengeschäft und nebenbei eine Kunsthandlung betrieben. Laut Wilhelm Voigt eröffnete er auch eine Zweigstelle in Köln am Rhein, die von der Tochter der Tante aus erster Ehe geführt wurde. Diese Cousine müßte demnach eine Patzig gewesen sein. Sie blieb nach seiner Aussage in Köln unverheiratet. Später soll auch die jüngere Schwester Voigts zur Cousine nach Köln gezogen sein. Dort habe sie später geheiratet und wäre in der Folgezeit angeblich nach München gelangt. Erst Anfang 1906, als er nach 15jähriger Haft aus dem Zuchthaus Rawitsch entlassen wurde, hätte er über Umwege die Möglichkeit gehabt, den Kontakt wiederherzustellen.
     Zu seinen Eltern teilt Wilhelm Voigt ebenso Einzelheiten mit. So soll der Vater sein Schuhmachergeschäft, einen Garten und ein Feld durch Spielleidenschaft verloren haben. Die Mutter sei im März 1878 angeblich an Gehirnschlag verstorben. Bei einem späteren Besuch in Tilsit will der Sohn von dem Gerücht erfahren haben, daß ihr Tod in Wahrheit die Folge von Schlägen durch
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   41   Probleme/Projekte/Prozesse Vorfahren des »Hauptmanns«  Vorige SeiteNächste Seite
ihren Ehemann gewesen war. Im Oktober jenes Jahres habe sein Vater wieder geheiratet. Die neue Frau, so ist anzunehmen, kann höchstens zehn bis fünfzehn Jahre älter als der Stiefsohn gewesen sein, denn nach seiner Aussage brachte sie noch einen Jungen zur Welt, d. h. einen etwa 30 Jahre jüngeren Halbbruder. Dieser sei jedoch sehr jung wieder gestorben. Der Vater der beiden habe 1896 das Zeitliche gesegnet. Die Stiefmutter traf der spätere »Hauptmann« 1906 erst nach 17 Jahren zum ersten Mal wieder. Im selben Jahr gab es auch mit der älteren Schwester nach 25 Jahren ein erstes Wiedersehen. Sie war inzwischen in Rixdorf mit einem als Privatier lebenden Buchbinder verheiratet (vom Zuckmayerschen Magistratsbeamten keine Spur). Als sich Voigt bei ihnen für einige Zeit einquartierte, lebten keine Kinder bei dem schon älteren Ehepaar.

Die Akten und Kirchenbücher

Bei so vielen biographisch-genealogischen Hinweisen, nahm ich an, müßte der eine oder andere Fakt überprüfbar sein. Ich schaute zunächst in die Polizeiakte.4) Das erwähnte Geburtsdatum, der Geburtsort und die evangelische Konfession Wilhelm Voigts sind dort ebenso festgehalten wie sein gesamtes Strafregister von der ersten Verurteilung wegen Diebstahls zu 14 Tagen Gefängnis im Jahre 1863 bis zu den Nachstellungen der preußischen Polizei nach seiner Haftent-

lassung von 1908 und der Übersiedlung nach Luxemburg zwei Jahre später. Mein Hauptinteresse galt aber der Frage, ob Verwandte erwähnt sind. Die Suche lohnte sich. Auf Blatt 4 erscheinen erstmals die Namen der Eltern: Karl Voigt und Helene, geb. Ulossat (dieser Familienname deutet auf litauische bzw. pruzzisch/altpreußische Abstammung der Mutter hin). Auf Blatt 112 verändert sich der Name der Mutter zu Eleonora, geb. Ussat. Sowohl beim Vornamen als auch beim Familiennamen scheinen verschiedene Varianten in Gebrauch gewesen zu sein.
     (Die Filmleute von 1997 werden nicht in die Akten geschaut haben, denn sie nannten die Eltern »Rudolph« und »Martha«.)
Auch der Name der älteren Schwester wird in der Polizeiakte enthüllt: Auf Blatt 28 hat Bertha Menz, geb. Voigt, den Empfang der Ausweisungsverfügung für ihren nicht anwesenden Bruder quittiert (im »deutschen Märchen« tut er es selber). Ihre Adresse war aus zeitgenössischen Publikationen bereits bekannt: Rixdorf, Kopfstraße 27. Tatsächlich ist in den Berliner Adreßbüchern von 1905 und 1907 unter dieser Anschrift ein Wilhelm Menz, Seifenhandlung (immerhin, dieses Detail wurde von Zuckmayer übernommen), registriert. Und 1909 wird ein einziges Mal – offenbar war sie inzwischen Witwe geworden – Bertha Menz, geb. Voigt, erwähnt. Sie wohnte im Parterre, also offenbar direkt neben dem Seifengeschäft. Vermutlich ist auch sie bald darauf gestorben.
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Allerdings sagen die Rixdorfer Kirchenbücher der Jahre 1906 bis 1910 nichts über beider Tod aus. Jedenfalls war nun klar, daß »Marie« und »Friedrich« in Wirklichkeit Bertha und Wilhelm hießen.
     Mit diesen Fakten ausgerüstet, schaute ich in die Tilsiter Kirchenbücher5), von denen ich bereits wußte, daß eine Taufe Wilhelm Voigts nicht überliefert ist. Aber: In dem ab 1851 vorhandenen Taufverzeichnis einer 2. Pfarrstelle sind drei Kinder des Bürgers und Schuhmachermeisters Johann Carl Voigt und seiner Ehefrau Helene, geb. Ussat notiert, auch die Adresse: In den Gärten bzw. Gartenstraße (nach Wilhelm Voigts Lebensbericht lag die Wohnung genau gegenüber dem Litauischen Infanterie-Regiment). 1853 wurde demnach Auguste Helene geboren, 1856 Marie Auguste und 1858 Johann Carl. Letzterer starb bereits nach einem Monat an Krämpfen. Dieselbe Todesursache wurde für Auguste Helene vermerkt, die auch nur sechs Monate alt wurde. Von diesen drei Kindern hat also nur Marie Auguste, Wilhelm Voigts jüngere Schwester, überlebt. Im Sterberegister jener 2. Pfarrstelle wird unter dem 28. 12. 1850 zudem ein totgeborener Sohn des Schuhmachergesellen Carl Voigt, wohnhaft Zwischen den Gärten, genannt. Summa summarum hat Wilhelm Voigts Mutter drei Töchter und drei Söhne zur Welt gebracht, von denen jedoch die Hälfte als Babys verstarb.
     Zwar sind die Taufbücher der 2. Pfarrstelle
vor 1851 nicht überliefert, zum Glück existieren aber die Trauregister noch. Sie enthalten unter dem 22. Oktober 1848 die Eheschließung der Eltern, nämlich von »Johann Carl Christian Voigt, hiesiger Schuhmachergeselle«, und Eleonore Ussat. Die Eintragung ist mit ungewöhnlich ausführlichen Anmerkungen versehen. Es heißt dort unter anderem: »Er ist in Kalkappen geboren, hat seiner Militärpflicht genügt, ging auf die Wanderschaft nach Rußland, war in Mitau, Riga, Petersburg. Er ist 3/4 Jahr zurück (...) Brautleute haben offen 1846 ein uneheliches Kind erzeugt.« Hier haben wir einen Hinweis auf die ältere Schwester Bertha gefunden, die nach der Eheschließung der Eltern offenbar als legitimiert galt und sich damit später »geborene Voigt« nennen konnte. Auch ihr Bruder war bereits unterwegs, als die Eltern heirateten. Er kam knapp vier Monate nach der Trauung zur Welt.
     Wilhelm Voigt spricht in seinem Lebensbericht einmal von den beiden Großvätern. Auch sie sind im Trauregister genannt: der Müller Gottfried Voigt aus Kallkappen und der Arbeiter Christian Ussat aus Casemegken (Kaszemeken) – ein Dorf, das nach dem ostpreußischen Ortsverzeichnis von Goldbeck 1785 gerade einmal sechs Feuerstellen besaß und am Flüßchen Cammohn im Kirchspiel Coadjuthen lag. Diese Gegend, jenseits des Memelstromes gelegen, gehörte seit 1815 zum Kreis Tilsit-Land und kam nach dem Ersten Weltkrieg zum Memelgebiet, das in den
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   43   Probleme/Projekte/Prozesse Vorfahren des »Hauptmanns«  Vorige SeiteNächste Seite
zwanziger Jahren Litauen angeschlossen wurde und auch heute zu dieser Republik gehört.
     Die 1848 mit 26 Jahren angegebene Braut Eleonore, Voigts Mutter, hätte also 1822 zur Welt gekommen sein müssen. Kirchenbücher aus Coadjuthen sind überliefert.6) Es stellte sich aber heraus, daß sich die Taufregister der fraglichen Zeit ausschließlich auf »Samogitien«, also auf Dörfer jenseits der russischen Grenze beziehen (Coadjuthen lag in Grenznähe). Für die zu Preußen gehörenden Dörfer des Kirchspiels endet deren Überlieferung bereits 1799. So konnte man wenigstens hoffen, Wilhelm Voigts Großvater mütterlicherseits mit einem Taufeintrag zu finden. Doch auch ein Christian Ussat war nirgends vermerkt. Dabei hätte er durchaus auftauchen können, denn der Familienname Ullosatis (die ursprüngliche litauische Langform) kommt mehrfach vor. Durch irgendein Mißgeschick sind jedoch die jeweils rechten Seiten des Taufbuches von 1782 bis 1799 bei der Herstellung der Filmkopien in den dreißiger Jahren oder später beim Umkopieren verlorengegangen. Die Originalbücher existieren nicht mehr.
     Aus den Taufeinträgen der linken Seite geht aber hervor, daß es zu der Zeit mit Jons bzw. Mikkel(is) Ullosatis zwei Familien dieses Namens im Kirchspiel gab. Einer von ihnen könnte Wilhelm Voigts Urgroßvater gewesen sein. Beide lebten im Dorf Ackmonischken, das direkt an der Grenzlinie zu Rußland lag. In den späteren, schon erwähn
ten Taufregistern aus »Samogitien« tauchen ebenfalls zwei Familien Ullosatis auf, wobei in einem Falle Ackmonischken als Herkunftsort des Bräutigams genannt ist. Der »kleine Grenzverkehr« hat dort offenbar wunderbar funktioniert. Auf beiden Seiten lebten Protestanten litauischer Herkunft. Dies könnte also die »russische Verwandtschaft« des späteren »Hauptmanns« sein.
     Auf preußischer Seite läßt sich der Name Ullosatis weiter zurückverfolgen. Ein Jurgis, womöglich Vater bzw. älterer Bruder der vorher genannten Familienoberhäupter, taucht 1778 erstmals in Ackmonischken auf, nachdem er vorher mehrfach im Dorfe Stumbragirren genannt wurde. Und in den Prästationstabellen des königlichen Amtes Baubeln7) läßt sich für die siebziger/achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts in jenem Ort (1785: 12 Feuerstellen) ein Schaarwerksbauer Johns Ullosatis nachweisen. Nach der 1772 aufgestellten Mühlenconsignation gehörten neben den Eltern auch sechs Kinder zur Familie. Da aber die letzte Gewißheit fehlt, daß dies wirklich die Vorfahren Wilhelm Voigts waren, habe ich den Familiennamen Ullosatis nicht weiter zurückverfolgt.

Viele Spuren sind verweht

Kehren wir zurück zu Wilhelm Voigts Vater: Vom 29jährigen Bräutigam im Jahre 1848 konnte sofort auf den Taufeintrag im Kirchenbuch Tilsit-Land zurückgegriffen wer

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den. Johann Carl Christian kam am 21. Dezember 1819 im zwei Kilometer südlich der Stadt gelegenen früheren Tilsitschen Kämmereidorf Kallkappen zur Welt. Er war ein Sohn des Müllergesellen Gottfried Vogt (der damals noch ohne i geschrieben wurde) und der Catharine, geb. Knoch. Das Dorf hatte 1785 auch nur 14 Feuerstellen besessen, muß aber später sehr viel größer geworden sein. Nach einem Ortslexikon von 1905 lebten dort bereits über 1 200 Einwohner. Später ist Kallkappen nach Tilsit eingemeindet worden. Eine jüngere Schwester Carls – Juliane Henriette – wurde 1825 ebenfalls in Kallkappen geboren. Von ihr ist nichts weiter bekannt, andere Geschwister sind nicht nachweisbar.
     Die noch vorhandenen Trauregister der Tilsiter Land- wie auch der Stadtgemeinde enthalten jedoch keinen Eintrag betreffs der ehelichen Verbindung zwischen Gottfried Vo(i)gt und Catharine Knoch. Zudem ist am 3. April 1795 der einzige Gottfried Vo(i)gt in Tilsit (Stadt und Land) im Zeitraum zwischen 1780 und 1800 als Sohn des gleichnamigen Branntweinbrenners zur Welt gekommen. Ob er jedoch mit dem Großvater Wilhelm Voigts identisch ist, muß eher bezweifelt werden, da später mehrere Namensvettern in Tilsit und Umgebung genannt wurden. Zum Abgleich der Daten fehlt nicht nur der Traueintrag mit möglichen Abstammungshinweisen, sondern auch das Sterberegister von Tilsit-Land, aus dem vermutlich das Geburtsjahr des von uns gesuchten Gott-
fried Vo(i)gt hätte errechnet werden können.
     So bleibt auch in dieser Linie nur eine Spekulation, die sich aus dem Sterbeeintrag eines anderen Voigt ergibt: Der 58jährige Schuhmachergeselle Carl Voigt, wohnhaft Zwischen den Gärten, starb 1859 an Entkräftung. Er hinterließ ein Kind und zwei Enkel. Dazu der Vermerk: »gebürtig aus Bennigkeiten, Kirchspiel Piktupönen«. Könnte er nicht ein Bruder Gottfried Vo(i)gts gewesen sein, wobei dessen Sohn nicht nur nach dem Onkel benannt wurde, sondern auch noch denselben Beruf erlernte und letztlich im selben Tilsiter Kiez gewohnt hat? Beweisen läßt sich jedoch auch diese Vermutung nicht, da die Kirchenbücher von Piktupönen (später ebenfalls im Memelgebiet) offenbar komplett abhanden kamen (vermutlich sind sie schon im Ersten Weltkrieg verbrannt, da später auch nichts verfilmt wurde). Über die Herkunft von Wilhelm Voigts Großmutter väterlicherseits, Catharine Knoch, läßt sich gleichfalls nur spekulieren. Zwar ist im Kirchspiel Tilsit-Land (dieses erstreckte sich auf Dörfer südlich der Stadt, also diesseits der Memel) 1791 ein Mädchen auf den Namen Catharina Elisabeth Knoch getauft worden – eine Tochter des Schultzen Andreas Knoch aus Raukotienen. Sie wird aber eher nicht die Gesuchte gewesen sein, da die Trauung mit Gottfried Voigt dann sicher in der Tilsiter Landgemeinde stattgefunden hätte.
     Die zweite Heirat des Vaters ist noch nach
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zutragen. Die Trauung wurde im Kirchenbuch unter dem 11. Oktober 1878, sieben Monate nach dem Tode der ersten Frau, vermerkt. Die Braut hieß Louise Zack- oder Zeckstadt (beide Schreibweisen tauchen auf), Tochter des verstorbenen (Land-)Wirts gleichen Namens, wobei aber der Herkunftsort nicht angegeben ist. Als Anschrift wurde nun die Kasernenstraße in Tilsit genannt. Der kleine Halb- bzw. Stiefbruder Wilhelm Voigts wurde am 6. Oktober 1879 geboren und auf den Namen Carl Leopold Emanuel getauft. Unter den Taufzeugen taucht ein Robert Voigt auf, über dessen Wohnort und vermutlichen Verwandtschaftsgrad allerdings überhaupt keine Aussage getroffen werden kann. In der Autobiographie hatte Wilhelm Voigt ausgeführt: »Ich habe es mir stets zum Grundsatz gemacht, nur das niederzuschreiben, von dem ich annehme, daß es der Wahrheit entspricht.« Wenn wir dieser Aussage folgen, war der »Hauptmann«, wie er an anderer Stelle schrieb, nie verheiratet gewesen. Von eigenen Kindern erwähnt er ebenfalls nichts. Da gibt es jedoch einen Widerspruch in der Überlieferung. In einem zeitgenössischen Prozeßbericht8) heißt es nämlich, vor dem Richter habe Wilhelm Voigt ausgesagt, er sei Witwer mit vier Kindern, die in Böhmen lebten.
     Vermutlich wird dies eine Notlüge gewesen sein, durch die er sich ein milderes Urteil versprach. In dem nach der Freilassung verfaßten Lebensbericht ist jedenfalls da-
von keine Rede mehr. Dagegen kann in etwa nachvollzogen werden, daß Voigt in den achtziger Jahren eine Zeitlang auch in Prag gewesen sein muß (andere Stationen zwischen 1879 und 1889: Erfurt, Eisenach, Budapest, Jassy, Odessa, Lodz, Riga, Tilsit und Posen, wo er dann wieder verhaftet wurde). Daß er in dieser Zeit Vater von vier Kindern in Böhmen wurde, scheint eher unwahrscheinlich zu sein.

Gibt es noch lebende Verwandte?

Bleibt, um die genealogische Forschung zum »Hauptmann« abzurunden, noch die Frage, ob der am 3. Januar 1922 in Luxemburg verstorbene und auf dem dortigen Friedhof Notre-Dame in einem Armengrab beigesetzte Friedrich Wilhelm Voigt (so sein vollständiger Name) heute noch lebende Verwandte hat. Dafür kämen eventuelle Nachfahren der erwähnten Tante (Schwester der Mutter) sowie seiner beiden eigenen Schwestern in Betracht. Im Falle der Tante konnte der Familienname des zweiten Mannes bislang nicht in Erfahrung gebracht werden. Es gab nach den Berliner Adreßbüchern jener Zeit schon damals sehr viele Photographen und Kunsthändler in der Reichshauptstadt. Auch ein Vergleich mit dem Kölner Adreßbuch von 1886 (dem frühesten in Berlin verfügbaren) wegen der von Cousine Patzig betriebenen Filiale brachte keine Ergebnisse.
     Es fiel zudem auf, daß dieser einzige von

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Wilhelm Voigt erwähnte Familienname unter seinen Verwandten in den erhaltenen Tilsiter Sterberegistern nicht vermerkt ist. Schwierig ist es ebenso mit der jüngeren Schwester Wilhelm Voigts, Marie Auguste. Um ihren Familiennamen nach der Heirat herauszufinden, müßte man wohl zunächst bei den Kölner Standesämtern auf die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gehen.
     So konzentrierte sich dieser Forschungsteil auf die ältere Schwester Bertha – jene, die auch bei Zuckmayer eine Rolle spielt. Immerhin, soviel war herauszufinden: Die Eheschließung des Buchbinders Ferdinand August Wilhelm Menz mit Johanna Friederike Bertha Voigt fand erst am 2. Februar 1901 im Standesamt 9 von Berlin statt. Beide lebten zu dem Zeitpunkt in der Hirtenstraße 9. Da waren sie bereits 59 bzw. 55 Jahre alt, konnten also keine gemeinsamen Kinder mehr bekommen. Von früheren Ehen ist jedoch im Standesamtseintrag keine Rede, obwohl eine solche zumindest beim Bräutigam nachzuweisen ist. Ob Bertha – wie der Bruder schrieb – tatsächlich in Rußland schon einmal verheiratet war, bleibt somit offen, ob sie eigene Kinder hatte, ist gleichfalls ungewiß.
     Ich hatte nur noch die Möglichkeit, die Stiefkinder Berthas aus der ersten Ehe von Wilhelm Menz nachzuweisen, die – obwohl allesamt schon erwachsen und eigenständig, als ihr Vater noch einmal heiratete, und noch mehr, als der Kassenraub von Köpe-
nick geschah – sozusagen Stiefneffen und nichten des »Hauptmanns« waren. Wilhelm Menz, also Voigts Schwager, war 1842 zu Magdeburg geboren (auch hier wieder freie Gestaltung durch Zuckmayer, der aus ihm eine jüngere Figur machte), hatte im Januar 1870 mit 27 1/2 Jahren das erste Mal geheiratet. 1873 kam Tochter Johanna Louise Gertrud zur Welt, es folgten 1875 Sohn Wilhelm Gustav Georg und 1879 Tochter Louise Auguste Hedwig. Sowohl die Trauung als auch die drei Taufen fanden in der Sophienkirche statt, in deren Nähe er damals lebte. Später zog er in die Zionskirchstraße, bevor die schon bekannten Adressen in der Hirtenstraße und der Rixdorfer Kopfstraße relevant geworden sind.
     Da der weitere Lebensweg von Töchtern ohne übermäßigen Aufwand meist nicht zu erforschen ist, blieb Georg Menz als Hoffnungsträger übrig. 25jährig trat er als Trauzeuge bei der Heirat des Vaters mit Bertha Voigt in Erscheinung, damals wohnte er in der Schönhauser Allee 21 und war Mechaniker. Er läßt sich in den Adreßbüchern bis 1943 in Berlin-Oberschöneweide, Klarastr. 1, nachweisen. (Zufall oder Absicht? Bei Zuckmayer kommt Voigt aus einem Ort »bei de Wuhlheide«.)
Auch die nächste Generation war teilweise noch nachzuvollziehen. Vier Kinder des Mechanikers Georg Menz wurden in zwei Ehen zwischen 1901 und 1910 geboren: Erich, Juliane und zwei weitere Töchter.
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Erich Menz, Fleischer und Stiefgroßneffe Wilhelm Voigts, taucht ab 1932 als Kaufmann in der Oberschöneweider Westendstr. 12 a (heute Fritz-Kirsch-Zeile) im Adreßbuch auf. Zwei Jahre später ist er unter dieser Anschrift als Bücherrevisor vermerkt. Zuletzt wird auch er 1943, nunmehr als »Buchprüfer«, erwähnt, und zwar schon seit mehreren Jahren in O 17, Persiusstr. 15.
     Ein Blick ins aktuelle Telefonbuch und ein Anruf brachten letztlich Gewißheit, daß von dieser Generation die zwei jüngeren Schwestern – hochbetagt – noch leben, eine von ihnen in München. Beide möchten aber nicht genannt werden. Die in Berlin wohnende alte Dame bestätigte, daß die zweite Frau ihres Großvaters, also Wilhelm Voigts ältere Schwester, noch vor dem Ersten Weltkrieg gestorben sein muß. Sie hat sie als fünfjähriges Mädchen nur ein einziges Mal gesehen. Auf den jüngst ausgestrahlten Fernsehfilm angesprochen, meinte sie, daß im familiären Umfeld natürlich »alles ganz anders« war.
     Die beiden noch lebenden Schwestern haben keine Kinder. Zu denen der bereits verstorbenen älteren Geschwister brach der Kontakt schon vor langem ab. Zumindest einer der Neffen soll sich im Stuttgarter Raum niedergelassen haben. Vielleicht erfährt er durch die Publikation von der Forschung und meldet sich. Für die Nachgeborenen dürfte es mehr als 75 Jahre nach dem Tod Wilhelm Voigts nicht mehr ehrenrührig
wie noch zu Zuckmayers Zeiten sein, wenn sich eine entfernte Verbindung zum ostpreußisch gefärbten »Berliner Original« herausstellt.9)

Quellen und Anmerkungen:
1 Die Schallplatte wird im Heimatmuseum Köpenick aufbewahrt.
2 Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten. Fischer Bücherei, Frankfurt am Main und Hamburg, 2. Auflage 1963, S. 5
3 Wilhelm Voigt: Wie ich der Hauptmann von Köpenick wurde. Mein Lebensbild, Julius Püttmann, Leipzig und Berlin 1909
4 Landesarchiv Berlin. Pr.Br.Rep. 30 Acc. 414 Nr. 1091 (auf Film)
5 Evangelisches Zentralarchiv: Ostdeutsche Kirchenbücher Nr. 1719 ff. (auf Mikrofiches)
6 Deutsche Zentralstelle für Genealogie, Leipzig: Film-Nr. AS 2663 ff. und AS 2754 ff.
7 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: XX.HA, PT Baubeln Nr. 7
8 Der Hauptmann von Cöpenick vor Gericht. Aktenmäßig dargestellt mit zahlreichen Abbildungen. Aktuelle Bibliothek. Band II. Berlin 1906
9 Der Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des Vortrags, den der Autor im November 1997 vor der Interessengemeinschaft Genealogie Berlin in der Berliner Stadtbibliothek hielt.

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