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Dorfschule bereitete ihm keine Schwierig- keiten. Mit zwölf ging er täglich nach Guben zur Lateinschule. Daß er später gutes Latein schreibt, hat hier seinen Grund; vielleicht auch die Liebe zu Musik und Gesang, denn beides gehörte zum Lehrprogramm. Letztlich auch die Kurrende. So nannte man den Knabenchor, der unter Leitung des Kantors bei vielerlei religiösen Anlässen gegen Geld geistliche Lieder sang. In drei Jahren Latein- schule hatte Johann die »Fundamenta Literarum« gelegt, nun folgte der nächste Lebensabschnitt. Der Fünfzehnjährige wurde 1613 Scholar, wandernder Schüler. Sein erstes Ziel hieß Sorau, älteste Stadt der Niederlausitz, von Guben in fünf bis sechs Stunden zu Fuß erreichbar, aber sie blieb nur kurz sein Zuhause. Im selben Jahr zog er nach Breslau, wo er im Winter das Elisabethgymnasium besuchte. Während des Frühlings 1614 brach er zum 300 Kilometer entfernten katholischen Olmütz in Mähren auf. Hier lernte der junge Lutheraner, seltsam genug, am Jesuitenkolleg. Noch im selben Jahr brachte er die 700-Kilometer-Etappe zu der Freien Reichsstadt Regensburg hinter sich. Hier begann seine musikalische Ausbildung, Kantor Paulus Homberger wurde sein Lehrer, der in dem Jungen allerdings nur geringes musikalisches Talent vermutete. Nach einem Jahr intensiver Studien ging Crüger erneut auf die Walz. Sein Weg führte ihn durch Bayern, Böhmen und Österreich, durch das habsburgische
Dietrich Nummert
Mit 24 schon Musikdirektor

Kantor und Lehrer Johann Crüger
(1598–1662)
 

Johann Crüger war, wie viele berühmte Berliner, kein gebürtiger Berliner. Seine Wiege schaukelte im Krug von Groß Breesen, einem Dorf nördlich von Guben in der Niederlausitz. Er kam am 9. April 1598 als Sonntagskind zur Welt. Vater Georg war, was der Familienname besagt: Krüger, Gastwirt also. Und nach allem, was wir wissen, war er begütert und gottesfürchtig.
     Hätte er sonst die Pfarrerstochter Ulrike Kohlheim zum Traualtar führen dürfen? Seinerzeit begann in deutschen Landen die Gegenreformation, in Frankreich brachte 1598 das Edikt von Nantes den Protestanten Gleichberechtigung, im Habsburgerreich gewann die Rekatholisierung Boden; aber bis in die Niederlausitz, die ja zu Habsburg gehörte, reichte der Jesuiten Arm nicht. Trotzdem werden die Crügers um ihren Glauben gebangt und gebetet haben. Und um Wohlergehen, denn Pest, Brände, kriege- rische Heimsuchungen und Wegelagerei, Hexenprozesse und Pogrome wechselten einander ab. Und Johann? Die Breesener

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Ungarn, Mähren und Sachsen, von wo aus er, das Jahr 1615 neigte sich, die Doppelstadt an der Spree erreichte. Der inzwischen Siebzehnjährige wurde Hauslehrer der Kinder des Hauptmanns Blumenthal vom kurfürstlichen Mühlenamt, brach dann wieder auf, nun zu kürzeren Touren. Gegen Ende des Jahres 1616 trat er in das Berlinische Gymnasium ein – Abschluß seiner Scholarenzeit, Vorbereitung auf das Theologiestudium.
     Verglichen mit Regensburg war Berlin zwar Provinz, dennoch wurde der aufmerksame Johann Crüger Zeuge vielerlei bildender Ereignisse: die Politik von Rat und Ständen, kleine Aufstände, Glaubensstreitigkeiten, geheime alchimistische Künste.
     Natürlich galt Crügers Hauptaugenmerk dem Lernen, wozu das kluge Rektorat des Magisters Peter Vehr das seinige beitrug.

Titelblatt zur
»Praxis Pietatis Melica«,
Berlin 1666

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Schließlich machte er sich auf die letzte Etappe. Am 18. Oktober 1620 trug Crüger sich ins Matrikel der Universität Wittenberg ein. Jene berühmte Bildungsanstalt, in der bereits Luthers Enkel lehrten und die Urenkel studierten, in der jedoch immer noch der Atem des großen Reformators zu wehen schien, wurde ihm für zwei Jahre Heim, geistige und geistliche Heimat.
     Bedeutende Professoren lehrten an der Theologischen Fakultät – Meißner, Balduin, Hunnius, Schmidt, Buchner, Franckenberg, Rhodius, Martini. Von einem Musiklehrer, einem Organisten, dem Crüger begegnete, der ihn gar inspiriert hätte, erfahren wir nichts. Wohl aber wissen wir von seiner ersten größeren Komposition mit dem etwas umständlichen Titel »Musikalischer Meditationen erstes Lustgärtlein« (Meditationum musicarum Paradisus primus).
     Im Jahre 1622 beendete er seine Studien in Wittenberg, folgte einem Ruf aus Berlin, wo er am 23. Juni 1622, einem Sonntag, eintraf. Der Ehrsame Rat hatte ihn in das Doppelamt des Kantors zu St. Nikolai und des Gymnasiums zum Grauen Kloster berufen: Leiter des Kirchenchores, Organist, Vorsänger – Berlinischer Musikdirektor. Crüger war 24!
     Seine erste Wohnung lag nahe dem Kalandshof. Wenige Minuten hatte er es bis zum Gymnasium in der Klosterstraße, wenige Minuten zur Nikolaikirche. Die
Aufgaben aber nahmen ihn vom Morgen bis zum Abend in Anspruch. Der Lohn hingegen blieb karg. Per Quartal standen ihm 10 Taler zu, in Naturalien drei Scheffel Roggen. Ein Scheffel waren rund 55 Liter. Eine weitere Einnahmequelle bestand in Akzidentien, wie man damals sagte, Gefälligkeiten.
     Crügers Amtsantritt war vom Krieg überschattet, der seit 1618 die Menschen in Mitteleuropa plagte, wenn vorerst die Schlachten und Scharmützel, das Morden und Brennen auch fern von Berlin und der Mark tobten. Plagen gab es genug. Inflation grassierte, Mißernten brachten Not, und die Ruhr säte Tod. Der seit 1620 regierende Kurfürst Georg Wilhelm (1595–1640) erwies sich als wenig begabter Staatsmann. Am unmittelbarsten berührten den jungen Musikdirektor aber die religiösen Gegensätze, der eifernde Streit, denn die protestantische Gemeinde war übel zerstritten.
     Johann Crüger sah Wichtigeres. Während der Wanderjahre hatte er Toleranz erlebt und selbst Toleranz geübt. Katholiken, Lutheraner, Kalvinisten – sie waren ihm alle lieb, wenn nur ihr Gottesglaube ehrlich war. Ohnehin kümmerte Crüger zuerst sein Amt.
     Die täglichen Gottesdienste waren kantoral zu begleiten, im Gymnasium
lehrte er die Knaben das Singen, musikalische Werke »lesen«, Musiktheorie. Auch Arithmetik gab er.
Hinzu kamen die Aufgaben des Kan-
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tors »bei allen städtischen und kirchlichen Festen, bei Leichenfeiern und Schulumzügen, bei Hochzeiten und Kindtaufen« (Joachim Hoffmeister, Der Kantor zu St. Nikolai, Berlin 1964, S. 54). Dann die Kurrende, die er bereits selbst kennengelernt hatte und zu der am Grauen Kloster 24 ärmere Gymnasiasten zählten.
     Nach kurzer Tätigkeit bereits muß Crüger erkannt haben, woran sowohl der Unterricht an der Schule wie auch die Andachten in der Kirche litten. Seine Reaktionen werfen ein Licht auf sein Denken. Er verfaßte musiktheoretische Schriften für den Musikunterricht, wobei er neben eigenen Erkenntnissen alles zusammenfaßte, was zum Thema gehörte, aber andere vor ihm publiziert hatten. Er veröffentlichte die »Synopsis musica«, damals die erste vollständige Kompositionslehre.
     Leider weiß man nicht, unter welchen Umständen Crüger Maria Beling kennengelernt hatte. Beide schlossen am 3. August 1628 den Bund fürs Leben. Maria, Tochter des Bernauer Bürgermeisters, war bereits einmal verheiratet, und zwar mit Michael Aschenbrenner, »Ratsverwandter«, Apotheker, Sproß einer der führenden Berliner Familien.
     Einem Manne wie Crüger war die Familie, aus der fünf Kinder hervorgingen, Basis für gottgefälliges Schaffen. Aber Not und Elend, Krieg, Pest, Ruhr, Hungersnöte bedrückten die Menschen, die Stadt und das Land.
Crügers Familie blieb davon wie von persönlichem Unglück nicht verschont. 1632 verlor Crüger seine bei ihm lebende Mutter.
     Eines seiner Kinder starb, ein zweites.
     Dann, 1636, mußte er seine Gattin begraben. Dieser Schicksalsschlag, so schwer er ihn traf, ihn lebensbedrohend krank machte, kann dennoch nicht die Ursache seiner tiefen Schaffenskrise gewesen sein. Seit 1630 hatte er nichts mehr veröffentlicht, kaum ein neues Lied komponiert, »sein Amt wohl immer mühsamer versehen« (Joachim Hoffmeister, a. a. O., S. 61), und dieser Zustand sollte bis 1640 anhalten. Wir können nur rätseln. Hatten der Krieg, die wuchernden Greuel, der Sittenverfall ihn schwermütig gemacht? Deprimierten ihn Intrigen der Schranzen am Hof? Rein persönliche Gründe werden es kaum gewesen sein, hatte Crüger sich doch bereits wenige Monate nach dem Tod seiner ersten Frau, am 24. Januar 1637 schon, mit Elisabeth Schmidt vermählt. Wie hatten die siebzehnjährige Gastwirtstochter und der mehr als doppelt so alte Kantor zueinander gefunden? Erneut eine Frage, die offen bleiben muß. Als sicher kann gelten, daß man sich damals auf den Gassen die Mäuler zerrissen hat. Aber sicher wird auch sein, daß es eine gute Ehe war. Nicht allein deshalb, weil die Wirtstochter ihm, wie man seinerzeit sagte, vierzehn Kinder schenkte, sondern weil sie eine lebensfrohe, tapfere Frau und begabte Sängerin war. Und viel
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leicht ist der Gedanke so abwegig nicht, daß sie das ihre dazu beitrug, ihren Mann aus dem Tal von Depression, Anfechtung und Todessehnsucht herauszuführen. Drei Jahre nach seiner zweiten Heirat jedenfalls begann Crügers zweite Schaffenszeit: Er sammelte Choräle, er komponierte selbst, suchte aus diesem Fundus 248 Lieder aus für das erste lutherische Gesangbuch Berlins und Cöllns, das er 1641 bei Runge drucken ließ.
     Crüger, wieder im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte, erfüllte seine Pflichten, erfand frische, klare Melodien. Und wie um diesen Höhepunkt zu vollenden, begegnete er 1643 erstmals seinem späteren Partner und Freund Paul Gerhardt (1607–1676), dem größten Dichter evangelischer Kirchenlieder nach Luther.
     Im selben Jahr übrigens zog der dreiundzwanzigjährige Friedrich Wilhelm (1620–1688, Kurfürst bis 1688), seit drei Jahren Kurfürst, erstmals in Berlin ein.
     Die Stände huldigten dem neuen Herrscher. Aber die Residenz hatte wenig zu bieten. Viele Häuser standen leer oder waren verfallen, von 12 000 Einwohnern, die die Doppelstadt zu Kriegsbeginn zählte, blieben 7 500. Und der Verfall von Ordnung und Fleiß fiel dem jungen Regenten schon bald selbst übel auf.
     Crüger indessen erfand Melodien zu neuen Liedern, sammelte bereits bekannte. In seinem neuen Gesangbuch von 1647, für das
er den schönen Titel »Praxis Pietatis Melica« prägte, standen erstmals 15 Gerhardtsche, von ihm vertonte Lieder. Das Gesangbuch wurde ein Erfolg, eine Auflage löste die andere ab, die 29. erschien 1702, und immer noch war kein Ende abzusehen. Diese anhaltende Nachfrage ist wohl nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit beider Freunde gegründet. Crüger vertonte die einprägsamen Texte des Pfarrers Gerhardt (der vorerst in Mittenwalde, seit 1657 an der Nikolaikirche wirkte), die durch Crügers Melodien den Weg zu den Gläubigen fanden.
     »Auf, auf, mein Herz mit Freuden ... « Das Ostern gewidmete Lied wird heute noch gesungen. »Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir ... « gehört während der Adventszeit ebenfalls zur heutigen Sangespraxis wie »Fröhlich soll mein Herze springen ...« Ein Jahr vor seinem Tod schuf Johann Crüger die Melodie für Michael Francks Dichtung »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!« Nun, als Johann Crüger am 23. Februar 1662 starb, nannten seine zahlreichen Verehrer ihn Asaph, nach dem Tempelsänger unter den Königen David und Salomo, nach dem legendären Stammvater der Sängergilde.

Bildquelle:
Archiv Beeskow

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