36 Probleme/Projekte/Prozesse | Dichterin Luise Hensel |
Wolfgang Holtz
»Müde bin ich, geh' zur Ruh' ...« Vor 200 Jahren wurde die Dichterin Müde bin ich, geh' zur Ruh',
Hab' ich Unrecht heut getan,
Alle, die mir sind verwandt,
Kranken Herzen sende Ruh',
Im Herbst 1816 wurde in Berlin eines der heute bekanntesten deutschen Gedichte niedergeschrieben. Zwischen Oder und Rhein kennt nahezu jeder das Abendgebet, kaum jemand | den Namen der Verfasserin: Luise
Hensel, Dichterin, Erzieherin, Gesellschafterin.
Luise Hensel wurde am 30. März 1798 in Linum in der Mark geboren, in einem Dorf, von dem ihr Neffe, Sebastian Hensel, schreibt, daß es ein »kleiner, dürftiger Ort in der Nähe Berlins« sei, »von endlosen Torfmooren umgeben«.1) Das heutige Storchendorf Linum begeht den 200. Geburtstag von Luise Hensel mit einer Veranstaltung am 29. März 1998, um 11 Uhr. Die Gedenktafel, die aus diesem Anlaß enthüllt wird, trägt die Aufschrift: Müde bin ich, geh' zur Ruh'
Während dieser Veranstaltung wird im Pfarrgarten auch ein Apfelbaum gepflanzt, wie es aus Tradition schon zu Luise Hensels Geburt geschah. Drei Bäume hatten die Eltern Johann Jakob Ludwig und Louise Johanne Hensel bereits aus ihrem Pfarrgarten in Trebbin mitgebracht, denn vor Luise sind dort Wilhelm, Ludwig und Karoline geboren worden. (Für den Maler und Porträtisten Wilhelm Hensel ist zu dessen 200. Geburtstag im Juli 1994 in Trebbin eine | |||||
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Gedenktafel enthüllt worden.)
Die Hensels haben Trebbin 1796 verlassen, da die
Pfarrstelle in Linum besser dotiert war. Luise wuchs mit ihren Geschwistern im
Linumer Pfarrhaus anfangs recht behütet auf. Sie war ein lebhaftes Mädchen, das schon als Kind die dichterische Veranlagung der
Mutter zeigte und achtjährig aufschrieb:
Zwar bin ich noch sehr junk und Wild
Doch bald kamen Sorgen und Not ins Haus, die Geschwister Marie und Ludwig
starben, ein Prozeß hatte Armut zur Folge, der
Vater erlag 1809 der Schwindsucht. Die Mutter siedelte nach Ablauf des Witwenjahres mit den Kindern Wilhelm, Karoline, Luise und Wilhelmine (Minna) nach Berlin
über, ihrer Vaterstadt. Erst wohnte die Familie in der Markgrafenstraße Ecke
Lindenstraße, später in der Bellevuestraße.
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Luise Hensel, gezeichnet von ihrem Bruder Wilhelm Hensel 1828 | |||||||
Hensel gewesen war. In dieser Zeit beschäftigte sich Luise häufig mit religiösen Themen. Der eher kritische Religionsunterricht in der Schule war so ganz anders als das, was sie bei ihrem bibelgläubigen Vater gelernt hatte. Die Pfarrerstochter hatte ihre ersten inneren Kämpfe auszustehen und | |||||||
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suchte Halt in weltlichen Dingen. Sie
wandte sich der Physik zu, fand Anregungen in der nahe gelegenen Sternwarte, deren
Direktor Johann Elert Bode (17471826) war.
Einen Tag nach ihrem 15. Geburtstag wurde Luise konfirmiert. Bei ihrer ständigen Suche nach der Wahrheit machte sie vor dem Akt der Konfirmation mit Gott einen Pakt, daß sie sich nur zum Christentum allgemein bekenne, ohne sich an eine Konfession zu binden.3) 1816 zog die Familie Hensel nach Schöneberg hinaus in ein Haus ganz im Grünen. Von hier aus war sie oft Gast in schöngeistigen Kreisen Berlins, die nach den Kriegsjahren entstanden, so im Hause Hitzig, wo sie eine Reihe Persönlichkeiten der Berliner Gesellschaft kennenlernte. Bei Stägemanns traf sie Graf Neidhardt von Gneisenau (17601831), der ihr seine Kindheitserlebnisse anvertraute. Nach dem Tode des preußischen Generalfeldmarschalls war sie eine der wenigen, die diese Kenntnisse weitergeben konnte. Im September 1816 lernte Luise den Dichter Clemens Brentano (17781842) kennen, woraus sich eine starke freundschaftliche Beziehung bis zu dessen Tod entwickelte, die durch eine Anzahl von Briefen belegt ist. Sein langes Werben um Luises Hand blieb erfolglos, weil sie eigentlich in ein Kloster gehen wollte. Viele unterschiedliche Aufgaben, denen sie sich unterzog, verhinderten das. Der Dezember 1816 brachte für Luise ein | einschneidendes Ereignis: Ihre
Schwester Karoline starb zwei Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes in Stettin.
Auf dem Totenbett hatte sie den Wunsch geäußert, daß die Schwester Luise den Sohn Rudolf zu sich nehmen möge, was diese auch tat.
Luise erkrankte selbst nach Schreck und Schmerz um die geliebte Schwester und schrieb in den ersten Nächten des Jahres 1817 bei Mondlicht im Bett auf das Papier einer Arzneiflasche: In schwerer Krankheit Die Nacht ist schwarz und kalt und lang, Der Tag noch wie so fern.
Das Fieber brennt im Busen mir
Der Kummer mir zu Häupten steht
Und an der Tür den Tod, die Not,
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Im Herbst 1817 trat Luise in Berlin ihre
erste Stellung an, als Erzieherin der
14jährigen Tochter Josephine im Hause von
Werther. Am 7. und 8. Dezember 1818 vollzog die Tochter des protestantischen Pfarrers Johann Jakob Ludwig Hensel ihren Übertritt zur katholischen Kirche in der Berliner St.-Hedwigs-Kirche bei Propst Taube. Diesen Schritt tat sie zunächst ohne Wissen ihrer Mutter. Bis zu Luise Hensels Lebensende wurde dieses Ereignis jedes Jahr im Dezember festlich begangen. Dazu dichtete sie:
Da bin ich eingegangen
In der Literatur heißt es teilweise,
Clemens Brentano sei die treibende Kraft zur Konversion gewesen. Richtig ist, daß sie es war, die den Katholiken Clemens wieder zur Kirche zurückführte. Brentano
verließ 1818 Berlin, er gab seine Wohnung in
der Mauerstraße auf, um die Nähe der
stigmatisierten Nonne Katharina Emmerich in Dülmen zu suchen, eine Angelegenheit, die Luise ebenfalls sehr am Herzen lag.
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Luise, von ihrem Bruder 1856 gezeichnet | |||||||
und dies Luise in Briefen zu berichten.
Auch Luise besuchte die dürftige Lagerstatt
in Dülmen mehrmals, die zu einem wundersamen Pilgerort wurde. Sie lauschte der Erweckten in inniger Freundschaft. Luise war der Nonne so zugetan, daß sie nach
deren Tode nachts das Grab öffnen ließ, weil es hieß, der Leib der Emmerich sei gestohlen
worden.6)
Ohne ihren größten Lebenswunsch zu verwirklichen, in ein Kloster einzutreten, hat sie schon sehr früh ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Das jahrelange Werben von Clemens Brentano und anderen der Berliner | |||||||
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Gesellschaft mußte erfolglos bleiben.
Ihr Bräutigam blieb Gottes Sohn, auch wenn
sie in dem Juristen Ludwig von Gerlach (17951877) einem jungen Mann
begegnete, der ihr viel bedeutete. In ihren
ausführlichen Tagebüchern schreibt sie, daß es
vielleicht doch besser sei, zu zweit zu gehen, als
allein, weil eins dem andern auf dem Weg zu Gott doch forthelfen könne. Sie kommt aber
wieder zu dem Schluß, doch Gottes Schwester sein zu wollen. Wie Clemens Brentano
die verstorbene Schwester Sophie in Luise Hensel wiederzuerkennen geglaubt hat, so
suchte Luise in Ludwig Gerlach ihren schon 1808 verstorbenen Bruder Ludwig zu finden. In ihren Tagebüchern heißt es: »Lieber
Freund, bist du denn auch so. Ich habe einen
Bruder Ludwig verloren; verloren habe ich ihn nicht, aber er ist gestorben, willst du nicht mein Bruder Ludwig
sein?«7)
Ihr Lebenswunsch blieb ihr versagt, da sie sich zum einen uneigennützig Hilfesuchender angenommen hat, zum anderen in unterschiedlichsten Stellungen ihren bescheidenen Unterhalt verdienen mußte. Luise Hensel half in adligen Häusern aus wie bei der Dichterwitwe von Stolberg in Sondermühlen, der Fürstin Salm-Reifferscheidt-Krautheim in Münster (Tochter der Fürstin Gallitzin); sie pflegte Kranke und wurde damit eine der Wegbereiterinnen der Caritas; sie half, durch geschicktes Organisieren Institutionen vor dem Verfall zu retten; sie erzog junge Mädchen, die wiederum in Luises Sinne wei- | terarbeiteten, so Pauline von
Mallinckroth, die später der alternden Lehrerin im Paderborner Westfalenhof ein letztes behagliches Heim zu bereiten wußte.
Luise Hensel gab und fand Liebe.
Wichtig war der Aufenthalt bei ihrem Neffen Sebastian Hensel (Sohn von Wilhelm und Fanny, geb. Mendelssohn Bartholdy) in Groß Barthen bei Königsberg/Ostpreußen nach dem Tod ihres Bruders 1861. Mit Sebastian ordnete sie einen Großteil der Arbeiten des Malers und Porträtisten Wilhelm Hensel. Nach vielen Jahren rastlosen Umherziehens (u. a. Bonn, Köln, Koblenz, Aachen, Düsseldorf, Dülmen, Bocholt, Aschaffenburg, Regensburg), in Aufopferung und bei Preisgabe nahezu aller Bequemlichkeit, waren Wiedenbrück und Paderborn ihre letzten beiden Wohnsitze. Das westfälische Wiedenbrück bot ihr schon 1823 bis 1826 eine Heimstatt, als sie für ihren Pflegesohn und Neffen Rudolf hier eine passende Knabenschule fand. Ihrem Bruder Wilhelm schrieb sie am 26. April 1823: »Mir hat dieß Städtchen, das flache aber freundliche Umgebungen, und was viel wichtiger ist, viel fromme, sittliche Einwohner und sehr gute Priester hat, von denen ich schon einige kannte, recht gut gefallen ...« Der zweite Wiedenbrücker Aufenthalt ab 1852 dauerte etwa 20 Jahre, bis ihr nach der Zwischenstation Ahlen der Westfalen | |||||
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hof in Paderborn zum letzten Heim
wurde. Bei einem unglücklichen Fall am 5.
September 1874 erlitt sie einen
Hüftgelenkbruch, der sie bis zum Ende ihres Lebens an
ihr Zimmer bannte.
In geduldiger Erwartung ihres baldigen Todes entstanden die an ihr Jugendlied angelehnten Verse: »Müde bin ich, geh' zur Ruh',«
Luise Hensel starb am 18. 12. 1876 an der Wassersucht. Sie wurde in
Brautkleidung aufgebahrt und in einem einfachen Sarg am 20. Dezember auf dem Ostfriedhof in Paderborn beerdigt.9)
Quellen und Anmerkungen:
| 5 Binder, Franz: a. a. O., S. 99
6 Heilborn, Ernst: Zwischen zwei Revolutionen Der Geist der Schinkelzeit, Berlin 1929, S. 197 7 Ebenda, S. 200 8 Binder, Franz: a. a. O., S. 481 9 Hohmann, Klaus: Luise Hensel und Paderborn, Sonderdruck aus Westfälische Zeitschrift, 139. Band, Paderborn 1989 Bildquelle: Katalog zur Ausstellung »Preußische Bildnisse des 19. Jahrhunderts« | |||||||
© Edition Luisenstadt, 1998
www.luise-berlin.de