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Hans-Heinrich Müller
80 Stunden Arbeit für einen Hungerlohn Sinkende Löhne und steigende Preise bestimmten die Lage der Berliner Arbeiter in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Ausgang des 18. Jahrhunderts war Berlin eine Mischung »von Residenz, Manufaktur-, Handels- und Landstadt, Dorf und Meierei alles in einer Ringmauer zusammen«1) und zählte 172 000 Einwohner, darunter 25 200 Soldaten. Manufakturen gaben jedoch Berlin zunehmend das Gepräge, das sich nach der Jahrhundertwende immer mehr zu einer Industriestadt entwickelte und sich zum industriellen Zentrum der mittleren und östlichen Provinzen Preußens herausbildete. Die Existenz zahlreicher Manufakturen und entstehender Fabriken, wobei die Textilindustrie dominierte, »produzierte« nicht nur ständig Lohnarbeiter, sondern auch ein Frühproletariat, das von Armut und Elend begleitet war. Schon 1776 hatte Johann Georg Krünitz (BM 3/97) in seiner »Oeconomischen Encyklopädie« von der Dürftigkeit als einem Zustand zwischen Armut und Notdurft geschrieben, wobei er gelernte und ungelernte Arbeiter zu den potentiellen Armen zählte, wenn er feststellte: »Zu den Armen gehörten | potentielle Arbeiter, und die Arbeiter
waren größtenteils potentielle Arme.« Und er
fügte hinzu, daß »Armut den Geist des
Menschen niederdrückt und seine Kräfte
lähmt«.2) Was Krünitz 1776 veröffentlichte, traf noch
vielmehr auf 1800 und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu, auf eine Zeit, die auch als Epoche des Pauperismus gilt, eine
Erscheinung, die von 1822 bis 1850 allein in 600 Büchern ihren beredten Ausdruck
fand, darunter zahlreiche Publikationen, die sich mit Berliner Zuständen
befaßten.3) Als 1800 Friedrich Wilhelm III. für Berlin die
Ausgabe von Karten zum verbilligten Bezug von Kommißbrot an Bedürftige anordnete,
wurden als Arme, die sich nicht aus eigener Kraft ernähren konnten, etwa 10 000 Personen beziffert. Rechnet man die Familienangehörigen hinzu, so kommt man auf 30 000 bis 40 000 Personen; mithin konnte jeder
fünfte oder vierte Berliner um 1800 nach den
strengen Regeln, die der König anlegte, aus
eigenem oder Familieneinkommen nicht mehr den dringendsten Lebensbedarf
decken.4)
Das soziale Elend hatte viele Gesichter. Es gab lange Arbeitszeiten, unzureichende Entlohnung, unmenschliche Kinder- und Frauenarbeit, unhygienische Umwelt, Staub, Schmutz, ungeschützte Maschinen, licht- und luftlose Fabrikräume, Wohnungsnot und katastrophale Wohnungsverhältnisse. Die Arbeitszeit in Industrie und Gewerbe war lang. Um 1800 betrug sie im Durchschnitt zehn bis 12 Stunden, um 1820 | |||||
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erhöhte sie sich auf elf bis 14 Stunden
und um 1830 bis 1860, wo die Einführung der Maschine zunächst eine extensive Produktionsweise auslöste, sogar auf 14 bis 16
Stunden. Sogar die Sonntags- und Feiertagsruhe ging mehr und mehr verloren, dafür
drückte der »blaue Montag« etwas auf die
wöchentliche Gesamtarbeitszeit, die um 1830 bis
1860 etwa 80 bis 85 Stunden betrug. Erst in den 60er Jahren trat eine merkliche
Verkürzung der Arbeitszeit ein.
Die Entlohnung der Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter in Berlin war gering. 1818 verdienten z. B. die Tuchmacher jährlich 125 bis 225 Taler. Die Leineweber 84 bis 168, die Baumwollweber 84 bis 150, Buchdrucker und Setzer 150 bis 200, Tagelöhner aber nur 75 bis 150 Taler. Die unteren Lohngruppen waren dabei weit stärker vertreten als die oberen. Die jährlichen Lebenshaltungskosten beliefen sich für einen erwachsenen männlichen Arbeiter 1800 auf 91 bis 105, 1810 auf 96 bis 105, 1815 auf 114, 1830 auf 102 bis 107 Taler, für eine Arbeiterfamilie (fünf Personen für die gleichen Jahre) auf 250 bis 260, 240 bis 260, 285 bis 295 und 255 bis 265 Taler. Ein sehr großer Teil der Gesellen und Fabrikarbeiter und ihre Familien lebten also am Rande, oft aber unter dem Existenzminimum. 1830 war die Existenzunsicherheit weit größer als zum Jahrhundertbeginn.5) Bis Ende der 40er Jahre verschlechterte sich die Lage der arbeitenden Klasse. In der Berliner | Maschinenbau- und Metallindustrie
verdienten in den Jahren 1845 bis 1847 z. B. Klempner in der Woche sechs Mark.
Gelbgießer neun, Former und Gießer sechs
bis 27, Dreher neun bis 21, dagegen Weber viereinhalb bis sechs Mark, Schneider viereinhalb bis neun Mark, Maurer sechs
bis 13,50 Mark, Schuhmacher, Tischler, Drechsler sechs bis neun Mark; zudem wurde
der Lohn in den krisenhaften 40er Jahren durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und
Strafgelder stark beeinflußt. (Vergleiche: 3 Mark waren 1 Taler) Hinzu kamen Preissteigerungen, die die Not und das Elend vergrößerten.
Von 1844 bis 1847 stiegen die Preise für
Roggen um 88 Prozent, Weizen um 75 Prozent und bei Kartoffeln um 135 Prozent, während die Löhne unverändert blieben, mitunter
gesenkt wurden. Angesichts dieser Preisentwicklung sank der Reallohn
beträchtlich, etwa um 30 Prozent, und steigerte das
Massenelend.6) Schon 1830 lebte jeder vierte Berliner von öffentlicher Unterstützung, und die städtische Armendirektion war eine vielbeschäftigte Institution.
Neben der Verlängerung der Arbeitszeit war Frauen- und Kinderarbeit ein äußerst beliebtes Mittel, um hohe Gewinne zu erzielen. Bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gingen kapitalistisch arbeitende Manufakturen zu Frauen- und Kinderarbeit über. So beschäftigten 1783 Seidenbandunternehmer Frauen und Kinder gegen niedrigen Lohn, niedrigeren als für männliche Arbeits- | |||||
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kräfte. In der Stahlmanufaktur der
Gebr. Dutton arbeiteten Kinder im Alter von neun bis 14 Jahren.7) Stark verbreitet war die Kinderarbeit in den Spinnereien Sammelpunkte tiefster Armut. Bittere Not zwang manche Eltern, ihre Kinder in Spinnereien arbeiten zu lassen, wozu ein Zeitgenosse in der »Berlinischen
Monatsschrift« von 1784 bemerkte: »Aus Geldsucht,
sagt man, verkaufen hier Mütter ihre Kinder
in Spinnereien, die mir gräßlich genug
wie eine wahre Art der Sklaverei beschrieben worden sind.« 1819 arbeiteten in Berlin
etwa 900 Kinder im Alter von neun bis 12 Jahren (ohne Lehrlinge). Die Wollmanufaktur
von Tappert und Guiremand beschäftigte 1812 zwanzig Erwachsene und 39
Kinder.8) In einem Gutachten der Berliner Regierung an den Oberpräsidenten v. Heydebreck vom 1. Juni 1819 heißt es dann: »Eine
beträchtliche Anzahl Kinder in dem zarten Alter von 9 bis 14 Jahren wird genötigt, 12 Stunden täglich bei einer einförmigen, oft
schweren, oft leichteren, allemal aber durch ihre
Dauer bedrückenden körperlichen Arbeit
gegen den Lohn von 4 Pfennigen pro Stunde in der Fabrik zu verweilen und hat teils nicht
die Zeit, teils nicht Gelegenheit, das Minimum der notwendigsten Kenntnisse für die
niedrigste Stufe der bürgerlichen Gesellschaft
zu erlangen.«9)
Die miserable Lebenslage der arbeitenden Klasse hatte ein Ansteigen der Kriminalität zur Folge; Diebstähle und Eigentumsdelikte | nahmen sprunghaft zu, wobei ein
großer Teil der Straftaten der Befriedigung
unmittelbarer Überlebensbedürfnisse diente.
Die ausufernde Verarmung der rapide anschwellenden »unteren Klassen«, die Diskriminierung der Frauen und die Demoralisierung großer Teile der Bevölkerung
widerspiegelten sich in der Zusammensetzung der Berliner Einwohner. Berlin zählte 1846
unter anderem 10 000 »prostituierte Frauenzimmer«, 12 000 Verbrecher, 12 000
»latierende Personen«, d. h. Personen, die ihren
Aufenthalt vor der Polizei verbergen, 18 000
Dienstmädchen, »20 000 Weber (die bei ihrer
Arbeit sämtlich ihr Auskommen nicht
finden)«, 6 000 Almosenempfänger, 6 000 arme
Kinder, 3 000 bis 4 000 Bettler, 2 000 Bewohner der Zuchthäuser und Strafanstalten, 1
000 Bewohner des Arbeitshauses. 700 Bewohner der Stadtvogtei, 2 000 uneheliche Kinder, 2 000 Pflegekinder, 1 500 Waisenkinder; das ist nahezu der vierte Teil der Einwohner
der ganzen Hauptstadt.10)
Erschreckend waren die Wohnverhältnisse in Berlin, wo ohnehin alle die Industrialisierung begleitenden Erscheinungen wie in einem Brennglas reflektiert wurden, denn hier zog das Lohngefälle zwischen der Stadt und ihren umliegenden Gebieten immer mehr Menschen an. Während sich Unternehmer, hohe Beamte, gutverdienende Wirtschafts- und Bildungsbürger, vermögende Handwerker oder spekulierende Bauern Villen, Paläste und Landhäuser bauten, kauf- | |||||
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ten oder mieteten, lebte ein Großteil der Arbeiter und verarmten Bevölkerung in »dumpfen Löchern«, in
menschenunwürdigen Behausungen oder Wohnhöhlen.
Wohnungsnot und Wohnelend waren aber schon Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin
gang und gäbe. Die Berliner
Manufakturarbeiter lebten zumeist in den Vorstädten. In der Königs-, Spandauer, Stralauer,
Köpenicker und Cöllnischen Vorstadt lebte der
»ärmste Teil des Volks«, wo die »Armut ihr
Schild ausgehangen« hatte, lebten »Menschen
in den zerlumpten Kleidern, und Kinder halb nackend« »traurige Gruppen
menschlichen Elends«. Etwa 50 000 Einwohner, d. h.
ein Drittel der Gesamtbevölkerung, lebten
1797 in diesen Vorstädten, die schon längst
zu Berlin gehörten. Und der größte Teil der Bewohner bestand aus »solchen Lasttieren der Menschheit«, wie es in
zeitgenössischen Journalen immer wieder
beschrieben wird.11)
Je mehr die Bevölkerung Berlins wuchs, je mehr der Manufakturkapitalismus sich zum Industriekapitalismus wandelte, um so größer wurden die Wohnungsnot und das Wohnelend. Während 1815 auf ein »bewohntes Quartier« 4,79 Bewohner entfielen, waren es 1824 schon 5,23, 1840 5,44 und 1846 bereits 5,46 Bewohner.12) Die Anzahl der Wohnungen vermehrte sich nicht entsprechend dem Bevölkerungswachstum der Stadt. Geringe Wohnflächen und hohe Belegungsdichte kennzeichneten proletarisches Wohnen in | der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wohl am größten waren das Elend und die
Armut in der Rosenthaler Vorstadt, vor dem Hamburger Tore bis hin zum
Gesundbrunnen, die unter dem Namen »Voigtland«
traurige Berühmtheit erlangte. 1830 betrug hier der Anteil der wegen der Armut nicht besteuerten Wohnungen 52,3 Prozent, 1840
immer noch 40,9 Prozent, während die übrigen Berliner Stadtviertel weit darunter
lagen.13) Hier lebten Manufakturarbeiter, die
zum großen Teil aus Sachsen (dem Voigtland) zugewandert waren, schlecht entlohnt und der Armut preisgegeben. Berühmtheit
erlangte das »Voigtland« durch Bettina von Arnim, die mit ihrem mutigen Werk »Dies Buch gehört dem König« (1843) das
Wohn- und Arbeiterelend, die große Armut in
der »förmlichen Armenkolonie« detailliert
beschrieb und anprangerte und Partei für die Armen und Entrechteten des Landes
ergriff. Sie war in der Illusion befangen,
Friedrich Wilhelm IV., der ihren demokratischen Forderungen völlig verständnislos
gegenüberstand, könne als weiser »Volkskönig« die soziale Lage verbessern.
Das Wohnungselend gehörte in Berlin auch nach 1850 zur ständigen Tagesordnung. Allein die Durchschnittsmieten stiegen zwischen 1850 und 1870 kontinuierlich an. Hatte man 1850 jährlich 296 Mark zu zahlen, so betrugen die Mietpreise 1860 386 Mark, 1865 415 Mark und 1870 bereits 451 Mark.14) Um 1870 lebte ein Fünftel der Berliner Ein- | |||||
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wohner, 162 000 Menschen, mithin
der Großteil der »arbeitenden Klasse«, in
»überbevölkerten Kleinwohnungen«,
regelrecht zusammengepfercht in vier Wänden. Auf ein Zimmer mit Küche beim Fehlen von genügend Toiletten und
unentgeltlichem Wasseranschluß kamen
durchschnittlich siebeneinhalb Personen. Berlin erschien kritischen Zeitgenossen als »eine Unsumme von Unkultur, wie sie in den
Wohnverhältnissen der Menschheit noch nicht
dagewesen ist«.15) 1861 hausten 48 326 Personen,
fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung, in Kellerwohnungen. Von 105 811 Wohnungen hatten 51 509, also fast die Hälfte, nur ein beheizbares Zimmer, wobei sich z. B. 114 357 Personen ein heizbares Zimmer mit
mindestens fünf Personen teilten, 27 679 mit
mindestens sieben Personen, 18 376 mit mindestens acht Personen, 10 728 mit
mindestens neun Personen und 2 904 mit mindestens
elf Personen.16) Allein schon an diesen
Wohnverhältnissen präsentierten sich
schreckenerregende soziale Probleme der Residenz- und Industriestadt Berlin. Der
Lebenszuschnitt der Massen der Berliner Arbeiter und Handwerker war wahrlich von
Armut, Kargheit und sozialem Elend geprägt.
Quellen:
| 3 J. Kuczynski: Die Geschichte der Lage der
Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 9, Berlin 1960, S. 268284
4 W. Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, 3. Aufl., Hamburg/Berlin, 1978, S. 243 5 J. Nitsche: Die wirtschaftliche und soziale Lage der arbeitenden Klassen in Berlin 18001830, Diss. Berlin 1965, S. 113 ff. 6 L. Baar: Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution, Berlin 1966, S. 185 f. 7 H. Krüger: Zur Geschichte der Manufakturen und des Manufakturkapitalismus in Preußen, Berlin 1958, S. 228 f. 8 J. Nitsche, a. a. 0., S. 223 ff. 9 J. Kuczynski, a. a. O., Bd. 8, Berlin 1960, S. 15 und 79 10 E. Dronke: Berlin, Berlin 1967, S. 65 ff. 11 H. Krüger, a. a. O., S. 344 f. 12 Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg, hrsg. von O. Büsch, 1971, S. 309 ff. 13 Ebenda, S. 310 14 L. Baar, a. a. O., S. 197 15 Berlin und die Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von H. Herzfeld, Berlin 1961, S. 81 16 J. Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 3: 18101870, Berlin 1981, S. 380 | |||||
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